Die Geschwister verfielen in tiefes Entzücken. Sie konnten sich an der Schönheit und Herrlichkeit hier, kaum satt sehen.
«Kommt!» forderten sie die Sylphen auf «die Alte Windfrau erwartet euch bereits.» Sanft zogen sie die Jugendlichen mit sich und setzten sie schliesslich auf der grossen Wolken-Terrasse des Schlosses ab.
Dann schwebten sie wieder davon und kurz darauf, waren sie verschwunden.
Die Geschwister setzten vorsichtig einen Fuss vor den anderen. Das Material aus dem das Schloss und die Terrasse bestanden, fühlte sich an wie Watte. Es gab leicht nach, doch besass dennoch eine eigenartige Festigkeit. Eine Türe war jedoch nirgends zu sehen. Benjamin tastete die Wände ab und gleich darauf, versank sein Arm in der wattegleichen Substanz. «Heh!» rief er «man kann durch die Wände gehen!» «Vermutlich ist das auch so, weil wir sowas wie Geister sind,» meinte Pia. «Hier ist sowieso alles ganz anders, als wir es bisher kannten. Gehen wir einfach mal geradeaus!» Das Mädchen trat zur Mauer und streckte ebenfalls ihre Hand aus. Sogleich verschwand ihre Arm in der Substanz, welche fest und zugleich veränderlich war. Langsam ging sie weiter und schliesslich war ihr ganzer Körper verschwunden. Benjamin folgte ihr fasziniert.
Kurz darauf standen sie in einem grossen Saal, in dem alle Einrichtungsgegenstände ebenfalls aus derselben Watte wie das Gebäude selbst zu bestehen schienen und in diesem Moment tauchte aus dem Nichts eine uralte Frau auf!
Die Alte Windfrau
Diese trug ein langes, wehendes Gewand aus hellblauem, glänzenden Stoff der sanft ihre Silhouette umschmeichelte. Ihr Haar war schneeweiss und wallte in langen Wellen über ihre schmalen Schultern. Ihr Gesicht wies schon einige Falten auf, schliesslich war sie ja auch schon uralt, doch ein wundersames Strahlen ging von ihr aus, das die Geschwister tief im Inneren anrührte und sie mit Frieden und vitalisierender Freude erfüllte.
«Willkommen!» sprach die Frau liebevoll, jedoch ohne ihre Lippen zu bewegen und ihre Worte schienen tief im Herzen der Geschwister zu widerhallen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, diesem alten, wundervollen Geist zu begegnen. Seit sie im Reich der Lüfte waren, erschien es Pia und Benjamin sowieso, als wäre etwas ganz Besonderes mit ihnen geschehen. Es kam ihnen so vor, als ob ihre ganze Seele offen daliegen würden und sie wussten, dass sie nichts vor dieser wundersamen Dame würden verbergen können. Darum versuchten sie es auch gar nicht erst.
Die Alte Windfrau blickte sie mit ihren tief hellblauen Augen wohlwollend an: «Ihr seid genauso, wie ich mir euch vorgestellt habe. Eure Herzen sind von einer Reinheit, wie sie auf eurer Heimatwelt nur noch selten zu finden ist. So viele Dinge beschweren doch die Menschen und das beginnt schon in ganz jungen Jahren. Darum freut es mich sehr, dass ihr euch eure reinen Herzen, trotz allem, bewahren konntet. Das ist auch mit ein Grund, warum ihr hierher gelangen konntet.» «Leider ist aber Malek nicht mitgekommen,» meinte Pia etwas traurig. «Das hat damit zu tun, dass noch immer viele alte Schatten und Lasten auf ihm liegen. Er kann von daher, gar nicht jene Leichtigkeit aufbringen, die es für diese Welt hier braucht. Ihr aber könnt es. Durch eure Bereitschaft wurde euch dieser Besuch in meinem Reich, das nur Seele und Geist ist, ermöglicht.» «Es ist ein wundervolles Geschenk hier zu sein,» sprach Benjamin, tief berührt.
«Ihr seid hergekommen, um mich um etwas Besonderes zu bitten, habe ich recht?» «Ja. Es geht um die sogenannten Gewänder der Klarheit, die wir brauchen, um in die Unterwelt zu reisen. Malek sagte, sie seien in deiner Obhut.» «Das stimmt.» «Dann könntest du uns diese Gewänder geben?» riefen die Geschwister mit flehendem Blick. «So einfach ist das nun doch nicht, die Gewänder sind etwas ganz Besonderes, so einfach kann ich sie nicht aus den Händen geben. Ärger und Enttäuschung stiegen in den Geschwistern auf. «Aber… wir dachten, du hast uns hergebracht, um uns zu helfen.» «Ich werde euch auch helfen. Aber vielleicht nicht genau auf die Weise, wie ihr denkt. Ich habe euch herbringen lassen, weil ich euch mal persönlich kennenlernen wollte. Bisher habt ihr mich nicht enttäuscht, aber trotzdem habt ihr noch eine Menge zu lernen, bevor ihr wirklich bereit seid, euren euch vorbestimmten Platz im Omniversum einzunehmen.» «Aber das können wir nur, wenn wir alle Medaillonsviertel zusammenbringen,» sprach Benjamin eine Spur zu laut «und dazu müssen wir einfach in die Unterwelt. Ergo brauchen wir die Gewänder der Klarheit! Oder willst du etwa diesen armen Seelen, die verbannt wurden, nicht helfen?!» Die Mutter der Vier Winde zog ein wenig die Augenbrauen hoch, als sie den leisen Vorwurf in Bens Worten vernahm. Dann erwiderte sie: «Du weisst, dass mir keine Seele und sei sie auch noch so klein, gleichgültig ist. Doch ihr müsst euch zuerst beweisen. Seit ihr ins Reich der Märchen und Sagen eingetaucht seid, musstet ihr immer wieder andere Lektionen lernen. Es gibt noch mehr Lektionen, bis euer Weg vollendet ist.»
«Was für Lektionen waren das denn, es war uns nicht bewusst, das alles Lektionen sind.»
«Und doch ist es so. Schon ganz zu Anbeginn habt ihr euch einer Lektion nach der anderen gestellt.
1. Zuerst musstet ihr die Lektion des Vertrauens lernen. Diese Lektion begann bereits damit, dass ihr Nofretes Ruf gefolgt seid, obwohl sie nur in euren Träumen zu euch gesprochen hatte. Dann musstet ihr wieder der Alten Kräuterfrau vertrauen, die euch weiter auf euren Weg schickte. Auch bei Isobia der Wanderfee, musstet ihr euer Vertrauen beweisen, indem ihr ihren Anweisungen gefolgt seid.
2. Durch eure ersten Begegnungen mit den verschiedensten Geistern der Elemente, Lumniuz, den Ergnomen, den Höhlenelfen und Blumenelfen, habt ihr begriffen, dass es noch ganz andere Lebensweisen geben kann, als die eure und ihr musstet eure Liebe zu allen Geschöpfen beweisen.
3. Bei Ululala musstet ihr euer Vertrauen nochmals festigen, das Handwerk der Sphärenwanderung erlernen und dadurch euren Horizont deutlich erweitern. Ihr musstet das neue Wissen festigen und dann auch richtig anwenden.
4. Danach galt es, die ersten Aufträge zu erfüllen. Z.B. die Samen der Goldenen Tanne einzupflanzen und durch Scharfsinn und geschickte Kommunikation, die ersten Ziele zu erreichen, indem ihr z.B. Miowa die Nymphe besänftigt habt. Eure Erkenntnis wuchs, auch durch die Begegnung mit verschiedenen weisen Geistern wie der Lindenfrau und der Goldenen Tanne.
5. Schliesslich musstet ihr noch mehr Selbstsicherheit entwickeln, um den ersten Monstern und dem Bösen, in Form von Malek und seinen Häschern, mutig und entschlossen entgegenzutreten.
6. Als ihr dann Malek besiegen musstet, musstet ihr methodisch und geschickt vorgehen. Nur durch euren beherzten Einsatz und eure Liebesfähigkeit, konnte euer magischer Freund den Fängen des Bösen, auch mit Hilfe des Feuers der ewig göttlichen Liebe, entzogen werden.
7. Als nächstes lerntet ihr, wie wichtig eine gute Zusammenarbeit mit anderen Lebewesen und wie wertvoll Freundschaft ist, um Hindernisse zu überwinden. Indem ihr zusammen mit den Wassergeistern und später auch mit den Rebellen der Grauen Stadt, mutig gegen die finsteren Mächte ins Feld gezogen seid, habt ihr begriffen, dass man gemeinsam oft am stärksten ist. Ihr nicht alles allein schaffen könnt und es auch nicht müsst. Das brachte euch einen wichtigen Schritt weiter.
8. Ihr habt schlussendlich Malek durch euer Vertrauen in ihn, neuen Mut gegeben und ihm dabei geholfen, sich wirklich mit Überzeugung für das Gute einzusetzen und seine Fähigkeiten auf kluge Art zu nutzen. Es ist zum grossen Teil eurer Liebe und eurem Vertrauen in ihn zu verdanken, dass er im Kampf gegen Skarion siegreich war. Dadurch seid ihr nun an einem Punkt angekommen, wo ihr bereits selbst Lehrer für andere sein könnt. Ihr wachst immer mehr zu den wahren Grossen Führern heran, die einst sehr viel Wichtiges bewirken werden. »
Die Windfrau schwieg nun einen Augenblick, um ihre Worte etwas wirken zu lassen.