Die Gewänder der Klarheit
Kurz vor Sonnenaufgang erwachten die drei. Sie hatten nur wenig geschlafen, denn vor allem die Geschwister, waren viel zu aufgeregt dazu gewesen. Die Luft war noch frisch und kühl, als sie die Höhle verliessen und das Wetter versprach heute, schön zu werden. Andächtig machten sie sich an den Aufstieg zum Gipfel, alle tief in ihren eigenen Gedanken versunken. Was würde sie erwarten? Wie würde es sich anfühlen, die Gewänder der Klarheit zu tragen? Es musste ein ganz besondere Gefühl sein. Als sie an der Stelle vorbeikamen, wo Malek den Schwarzen Druiden angetroffen hatte, fühlte der Magier ein seltsames Unbehagen in sich aufsteigen. Er hoffte sehr, dass die Kreaturen der Finsternis ihn nun endgültig in Ruhe liessen, denn er wollte auf keine Fall wieder auf Abwege geraten. Sein Herz klopfte seltsam schwer und sein Hals war auf einmal trocken. In Gedanken bat er die Mächte des Lichts, ihm beizustehen und tatsächlich wurde ihm sogleich wieder leichter zu Mute.
Als sie den Berggipfel erreichten, ging die Sonne gerade glutrot am Horizont auf und alles wurde in wundervolles Licht getaucht. Der Himmel erstrahlte, kurz darauf, in allen Rot- und Orangetönen. Tief atmeten die Freunde die frische Luft in ihre Lungen und unbändiges Glück erfüllte sie. Wie schön musste erst so ein Sonnenaufgang im Reich der Lüfte sein!
Sie setzten sich hin und begannen zu meditieren, während sie nach der Mutter der vier Winde riefen. Kurz darauf, wurde der Wind wieder stärker. Sie fühlten ganz genau, wie die Luftgeister sie sanft, wie ein Frühlingshauch, umschwebten, spürten den Nebel, der sich erneut, um sie herum, zusammenzog. Es erschien ihnen als würden kühle Finger, sie berühren. Einem inneren Impuls folgend, hielten sie die Augen jedoch geschlossen und eine wundervolle Leichtigkeit liess sie beinahe schweben.
«So öffnet denn eure Augen und erblicket die Gewänder der Klarheit!» vernahmen sie auf einmal die Stimme der Alten Windfrau in ihren Herzen.
Sie öffneten ihre Augen und erblickten in diesem Moment, drei zierliche Gestalten, die aus den Nebelschwaden traten, die sie nun wieder gänzlich umhüllten. Auf ihren Armen trug ein jede von ihnen, ein Gewand aus einem durchschimmernde, weissen Stoff. «Hier bringen wir euch die heiligen Gewänder, wie versprochen,» sprachen die Sylphen mit glockenklarer Stimme. Die drei Freunde waren erneut wie gefesselt, vom Anblick der zarten Wesen. Besonders Malek, der bisher noch keines der herrlichen Windwesen zu Gesicht bekommen hatte, kam aus dem Staunen nicht heraus. Diese Luftgeister übertrafen an Schönheit und Anmut alles, was er jemals gesehen hatte! Sie waren so unglaublich zart, ihre Haut schimmerte wie heller Alabaster, ihre Augen waren wie tiefe, hellblaue Seen. Ausserdem ging von ihnen ein wundersames, helles Strahlen aus. Nein! Diese Wesen hatten nichts Irdisches mehr an sich. Es gab für sie keine Schranken mehr und man hätte sie bestimmt für Engel gehalten, wenn man nicht gewusst hätte, dass es sich bei ihnen um Naturgeister handelte.
Die Töchter der Lüfte, kamen nun mit schwebenden Schritten näher und unmittelbar hinter ihnen, folgte die Alte Windfrau.
Auch dieser blickte Malek fassungslos entgegen. Er spürte die hohe Schwingung, welche von dieser alten Dame ausging und er wusste, dass sie alles sah, was noch in seinem Innersten schlummerte. Ihr Blick richtete sich nun mit einer Intensität auf ihn, dass er sich plötzlich ganz klein und schwach vorkam und dann vernahm er ihre Stimme in seiner Seele: «Zauberwirker Malek, es freut mich, dich endlich persönlich kennenzulernen. Es ist schön, dass du die Grossen Führer so auf ihrem Wege unterstützt. Die grossen Elementarfürsten und der Schöpfergeist sehen deinen grossen Einsatz und werden dich einst für deine Werke belohnen! Bleib stark und lass dich niemals mehr irreführen!» Malek nickte tief bewegt, seine Augen brannten und er musste die Tränen zurückhalten.
Die Windfrau wandte sich nun an die Geschwister: «So nehmt also die versprochenen Gewänder entgegen und setzt euren Weg weiterhin mutig fort. Die Gewänder werden euch einen ganz besonderen Schutz bieten. Weder Feuer noch Sturm können euch etwas anhaben, wenn ihr sie tragt. Sie schützen euch sogar vor den Feuern der Unterwelt und unterstützen eure Psyche, damit kein böser Geist euch einfach so manipulieren kann. Das ist sehr wichtig, solltet ihr dem Herrn der Finsternis oder seinen Dämonen begegnen. Bedenket jedoch, dass die Gewänder gegen tiefsitzende Ängste und Zweifel, in eurem Inneren, nur bedingt helfen. Darum ist es so wichtig, dass ihr euch selbst gut kennt und eure Grenzen und Schwächen einzuschätzen vermögt.
Der Herr der Finsternis wird nichts unversucht lassen, um euch von eurem Vorhaben abzubringen. Doch hat er keine Zugriff auf eure Gedanken und er kann auch nicht in die Zukunft sehen. Das erste Hindernis, wird auf jeden Fall der Höllendrache Gob sein. Ihn müsst ihr zuerst besiegen.» «Wie aber, kann man ihn besiegen?» Ihr werdet zuerst die Sümpfe des Todes durchqueren müssen, dort befindet sich dann der Eingang zur Unterwelt. Zum richtigen Zeitpunkt werdet ihr eine Waffe finden, welche ihr gegen Gob einsetzen könnt. Mit dieser müsste ihr den Drachen, genau am Ansatz seiner drei schrecklichen Köpfe treffen, nur so könnt ihr ihn unschädlich machen.»
«Was passiert danach?» «Dann werdet ihr euch vermutlich den Geistern eurer Vergangenheit stellen und euch auch gegen gewisse dämonische Einflüsse, behaupten müssen. Ausserdem solltet ihr euch auf schaurige Bilder vorbereiten. Vielleicht werdet ihr Leute antreffen, die ihr kennt, oder mal gekannt habt. Lasst euch aber nicht von ihnen von eurem Wege abbringen! Es wird dort unten viele Seelen geben, die sich durch zu viele böse Taten, selbst verdammt haben. Auch sie werden alles versuchen, um euch zu beeinflussen. Es gibt dort sehr viel Verzweiflung, Angst und Bosheit, dessen seid euch im Klaren!» «Das haben wir uns schon gedacht,» meinte Benjamin.
Malek war bei den Worten über die Verdammnis ganz weiss geworden. Er wusste, dass auch er einst an der Schwelle dieser Verdammnis gestanden hatte und er fühlte sich plötzlich wieder schuldig. Sogleich vernahm er jedoch die Stimme der Windfrau in seinem Inneren: «Habe keine Angst Malek, denn Angst wird dich schwächen. Hab Vertrauen, du wirst diese grosse Prüfung auch noch bestehen! Ich glaube an dich!» Malek nickte voller Dankbarkeit und wieder stahlen sich Tränen in seine braunen Augen.
«Der Herr der Finsternis hat, wie gesagt, keinen Zugriff auf eure Gedanken,» fuhr die Windfrau dann an die Kinder gewandt fort. «Doch jedes noch so leise Wort das ihr sprechen werdet, wird er vernehmen. Ihr müsst deshalb lernen, über eure Herzen zu kommunizieren, ohne Worte zu gebrauchen. Das ist sehr wichtig! Der Viertel des Medaillons, wird bestimmt ganz in seiner Näher aufbewahrt werden, wenn er ihn nicht sogar bei sich trägt. Dann müsst ihr euch eine List einfallen lassen. Das Licht ist auf jeden Fall an eurer Seite und darum werdet ihr siegreich sein!» «Das hoffen wir natürlich sehr,» sprach Benjamin, welcher nun doch ein etwas mulmiges Gefühl in der Magengegend verspürte. «Deine Vorsicht ist gut, aber sie darf dich nicht daran hindern, im richtigen Moment das Richtige zu tun, mein Junge!» «Ich gebe mir grosse Mühe!» «Das weiss ich!
Dann nehmt nun also die Gewänder aus den Händen meiner Töchter entgegen! Wenn ihr eure Mission erfüllt und den Medaillonsviertel an euch gebracht habt, werdet ihr wieder hierher zurückkommen und die Gewänder zurückgeben.» «Alles klar! Das werden wir machen!» «Dann zieht die Gewänder jetzt an!» Die Sylphen reichten den dreien die Kleidungsstücke und sogleich, als sie diese berührten, durchzuckte deren Macht sie, wie ein Blitz. Sie spürten eine plötzliche Wärme, die sie durchströmte und fühlten sich auf einmal stark und voller Kraft.
Die Gewänder verschmolzen sogleich mit ihnen und umhüllten sie wie eine unsichtbare Haut. Tiefe innere Ruhe und Frieden ergriff sie und sie glaubten nun wahrlich unverwundbar zu sein.
Als sie an sich herunterblickten stellten sie erstaunt fest, dass man die Gewänder gar nicht sah. «So ist das eben mit den Gewändern der Klarheit!» lächelte die Windfrau. «Sie bieten einen unsichtbaren Schutz, den niemand sonst sehen kann. So kann euch auch niemand die Gewänder rauben. Ihr seid nun also gerüstet für eure letzte, grosse Schlacht!» Die Geschwister horchten auf. War es wirklich schon die letzte Schlacht, die sie ausfechten würden? Ein beruhigender Gedanke!
«Wir werden euch jetzt wieder verlassen und freuen uns, wenn ihr wohlbehalten zu uns zurückkehrt! Viel Glück und der Segen des Schöpfer-lichtes sei mit euch!» Die Töchter der vier Winde und ihre Mutter verschmolzen nun wieder mit dem Nebel und dieser wehte davon. Kurz darauf standen die Freunde auf einem gänzlich nebelfreien Gipfel und betrachteten tief bewegt das herrliche Panorama.
Schliesslich machten sie sich wieder auf den Rückweg zur Höhle.