Die Sümpfe des Todes
In der Höhle packten sie ihre Siebensachen zusammen und begannen dann mit dem Abstieg. Auch diesmal erleichterte der Berg-Deva ihnen so gut es ging den Weg. Unten angelangt, rasteten sie eine Weile. Sie entzündeten ein Feuer und brieten ein paar Würste. Dazu assen sie, in kleine Streifen geschnittenes Gemüse. Als sie gegessen hatten, liessen sie sich ins weiche Gras sinken und schauten träumerisch in den tiefblauen Himmel. «Nun habe wir es also geschafft,» sprach Benjamin. «Ich kann es immer noch nicht richtig glauben, dass wir die Gewänder der Klarheit erhalten haben. Jetzt waren wir zwei Wochen dort oben und nun endlich geht es weiter.» «Vermutlich hätten wir die Gewänder schon früher erhalten, wenn wir begriffen hätten, was uns die Alte Windfrau zeigen wollte: Nämlich, dass wir im Moment leben und vertrauen sollen » erwiderte Pia. «Eine eigentlich einfache Aufgabe und doch so viel schwerer, als man denkt.» Benjamin nickte zustimmend. «Ja, im Moment zu sein, ist gar nicht so einfach. Auf Erden haben wir das irgendwie nie richtig gelernt, dort ist immer alles so hektisch, besonders in der Schulzeit. Nur in den Ferien gelingt es einem manchmal, im Moment zu leben. Doch eigentlich sollte das ganz Leben viel zeitloser sein.» «Euer System auf der Erde basiert eben vorwiegend auf Leistung und Zeitdruck,» meinte Malek. «Im Märchenreich leben wir schon viel zeitloser. Aber auch dort fällt es einem nicht immer leicht, Geduld zu haben und jeden Augenblick zu nehmen, wie er ist.» «Und doch, ist es vermutlich ein Trugschluss, das man das im Moment sein, nur in stillen Zeiten praktizieren kann,» sprach Pia. «Wahrscheinlich müsste man gerade in hektischen, arbeitsreichen Zeiten, im Moment leben lernen. Ich glaube, das ist die grosse Herausforderung.» «Ja, eigentlich sollten wir ja schon wieder weiter!» scherzte Ben, «aber irgendwie ist es auch schön, einfach mal im weichen Gras zu liegen und sich die warme Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen.» «Dann geniessen wir doch den Moment!» scherzte Malek. «Ich wollte sowieso nochmals in mein Schloss zurück, um einige Dinge mitzunehmen und wir könnten ja noch einmal in einem weichen Bett übernachten. Immerhin müssen wir gut ausgeruht sein, wenn wir in die Unterwelt reisen.» «Der Gedanke an ein weiches Bett ist in der Tat verführerisch,» sprach Benjamin «aber eben… müssten wir nicht weiter? Die armen Verbannten warten bestimmt sehnlichst auf die Rückkehr in ihre Heimatwelt und wir haben ja doch erst zwei Viertel des Medaillons.» «Ich glaube auf einen Tag mehr oder weniger, kommt es jetzt auch nicht mehr an,» sagte Pia gleichmütig. «Ausserdem hat Malek recht, wir sollten ausgeruht in die Unterwelt reisen. In der Höhle oben beim Gipfel, war es ja nicht unbedingt komfortabel. Ich brauche zudem dringend mal eine warme Dusche!»
So kehrten sie, nachdem sie noch etwas am Fusse des Berges zugebracht hatten, wieder in Maleks Heim zurück. Sie packten alles zusammen, was sie brauchten. Dann machten sie sich frisch und assen später gemütlich das leckere Abendbrot, welches der höfische Koch, mit viel Liebe, für sie zubereitet hatte. Dann legten sie sich schlafen.
Doch auch wenn die Betten wunderbar weich waren, konnten die Geschwister lange nicht einschlafen. Was nur würde sie erwarten? Irgendwie fürchteten sie sich vor ihrem Gang in die Unterwelt und fragten sich, ob sie alles dort bewältigen würden und ob sie dem Herrn der Finsternis wirklich den Medaillonsviertel abjagen konnten. Wenn nicht, würden die armen Verbannten nie in ihre Heimatwelt zurückkehren können und sie hatten als Grosse Führer versagt. Dieser Gedanke beschäftigte sie sehr. Wieder lastete die Verantwortung wie eine zentnerschwere Bürde auf ihnen.
Auch Malek erging es nicht viel besser. Doch ihn quälte noch eine andere Angst. Immer wieder musste er an die Worte des Schwarzen Druiden auf dem Berg denken, welcher ihm gesagt hatte, dass in ihm das dunkle Blut eines alten, grausamen Gottes floss. Er dachte daran zurück, wie schnell er sich doch damals vom Herrn der Finsternis hatte einwickeln lassen. Seine Angst war vor allem jene, dass er wegen seiner dunklen Vergangenheit und vielleicht sogar wegen seines dunklen Blutes, ein leichtes Opfer für die finsteren Kreaturen der Unterwelt sein würde. Auch dem Herrn der Finsternis nochmals zu begegnen, jagte ihm Schauder über den Rücken. Mit aller Kraft versuchte er diese Ängste zu verdrängen und einmal mehr wendete er sich verzweifelt an die Mächte des Lichts, dass sie ihn führen und beschützen mögen.
Am nächsten Tag fühlten sie sich trotz der Einschlafprobleme jedoch erholter. Ihre Körper hatten sich auf den weichen Lagern des Magier Schlosses viel besser entspannen können, als es in der manchmal unwirtlichen Höhle der Fall gewesen war.
Nach dem Frühstück gingen sie in die Zauberkammer und befragten die Kristallkugel, welchen Weg sie gehen mussten, um in die Unterwelt zu gelangen. «Unser Weg führt uns zuerst durch die Sümpfe des Todes, diese befinden sich auf einer anderen Ebene als meine Heimatwelt.» Bilder einer riesigen Moorlandschaft, tauchte vor ihren Augen auf. «Der Eingang der Unterwelt befindet sich irgendwo in diesem Moor. Wir können zwar die Sphärenwanderung anwenden und uns so nahe wie möglich heranbringen, doch da keiner wirklich weiss, wie der Eingang zur Unterwelt genau aussieht und keinerlei Wissen davon in meiner Kugel gespeichert ist, können wir uns kein genaueres Bild davon machen. Wir werden deshalb mit dem arbeiten müssen, was wir hier sehen. Ich hörte der Eingang zur Unterwelt befindet sich ziemlich weit im Westen der Sümpfe. Ich hoffe sehr, wir finden ihn auch wirklich.» «Es wird uns wohl nichts weiter übrig bleiben, als es zu versuchen und darauf zu hoffen, dass uns unsere Herzen auch diesmal richtig führen werden,» meinte Pia.
Malek und Ben nickten und dann machten sich die drei bereit zur Meditation.
Sie konzentrierten sich alle auf einen bestimmten Ort in den Sümpfen und kurz darauf, traten sie ihre nächste Sphärenreise an.
Mit klopfenden Herzen fanden sie sich wieder in einer endlosen Landschaft aus schwarzen Moor- Seen, einer Menge Schilf und knorrigen, uralten Bäumen, von denen dichte Bartflechten hingen. Alles sah ziemlich mystisch und gar nicht so bedrohlich aus. «Es ist eigentlich recht schön hier,» meinte Pia erleichtert.
«Am Tag schon, doch in der Nacht steigt jeweils dichter Nebel aus den Moor- Seen auf und dann wird es gefährlich. Man muss dann aufpassen, den Pfad nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn man sich hier verirrt, kommt man nie wieder heraus und versinkt für immer in den Sümpfen. Nicht umsonst heisst dieser Ort, Sümpfe des Todes oder Nebelsumpf.» «Wir haben ja ein paar Fackeln dabei,» meinte Benjamin, um sich selbst etwas zu beruhigen. «Ausserdem haben wir einen fähigen Magier an unserer Seite. So finden wir den Weg bestimmt.» «Schön, wenn du so positiv gestimmt bist Ben, das ermutigt uns alle. Dann los! Lasst uns einen möglichst sicheren Pfad finden!»
Ziemlich bald, hatten sie einen Weg gefunden und diesen gingen sie nun frohgemut entlang. Frösche quakten im Unterholz und Vögel zwitscherten in den Bäumen. Rechts und links, lagen die dunklen Moor- Seen, meistens umrahmt von Schilf. Wenn die Freunde in das schwarze Wasser schauten, kam es ihnen vor, als ob sie in unergründliche Tiefen blicken würden, in denen sich geheimnisvolle, jedoch auch unheimliche Dinge abspielten. Waren diese Seen vielleicht sogar Schlupflöcher in die Unterwelt, welche unter ihnen verborgen lag? Bei diesen Gedanken erschauderten die Freunde und urplötzlich breitete sich Gänsehaut über ihren ganzen Körper aus. Nein! Sie mussten jetzt an etwas anderes denken! So versuchten sie sich an der schönen Natur zu erfreuen, sich auf das Quaken, Zirpen und Pfeifen der verschiedensten Tiere zu konzentrieren und dem Plätschern des Wassers, gegen das Ufer, zu lauschen.
Mit der Zeit jedoch, wurde es immer stiller und stiller. Hatte das wohl damit zu tun, dass es bald eindunkelte? Aber es war doch noch etwas zu früh. Ihr Zeitgefühl, liess die drei hier an diesem, doch recht eintönigen Ort, immer mehr im Stich. Sie gingen noch etwas weiter, doch die Umgebung wurde nun immer unwirtlicher. Es gab fast nur noch abgestorbene Bäume und eine seltsamer Geruch lag in der Luft. «Es riecht irgendwie nach Schwefel,» meinte Malek besorgt und blickte sich mit gerunzelter Stirn um. «Auch Tiere scheint es hier nicht mehr viele zu geben. Die Seen wirken schmutziger und die Vegetation ist mittlerweile sehr karg. Ich glaube wir müssen einen Platz für die Nacht suchen. Dafür sollten wir nochmals ein Stück zurückgehen, dass wir das, was auch immer hier in der Luft liegt, nicht beim Schlafen einatmen.» «Es ist seltsam, dass sich das Klima innert kürzester Zeit so verändern kann. Sieht beinahe so aus, als wären wir gar nicht mehr so weit entfernt, vom Eingang in die Unterwelt.»