«Nur keine Angst, ihr werdet Malek bald wiedersehen, denn es ist ihm bestimmt, euch auf eurem weiteren Wege zu begleiten,» sprach die Windfrau. «Nun wird es Zeit, dass ihr das Labyrinth der Erinnerungen betretet. Dort zuhinterst in der Höhle, wird sich ein Portal für euch öffnen.» «Kommst du auch nicht mit uns?»
«Doch, ich bleibe an eurer Seite, aber unsichtbar. Ihr werdet nur meine Stimme hören.»
«Wird es eine sehr schwierige Probe?» fragten die Kinder und ihre Herzen klopften dabei heftig gegen ihre Brust.
«Es kann sein, dass es etwas schwieriger wird, je nach dem, inwieweit ihr bereit seid, euch selbst zu reflektieren. Die Reise ins Labyrinth kann manchmal erschreckend sein, denn ihr werdet mit all euren Schwächen und Gefühlen konfrontiert werden und müsst euch intensiv mit ihnen auseinandersetzen.»
«Aber tun wird das nicht schon lange?» meinte Pia. «Seit wir unsere Reise ins Reich der Märchen und Legenden angetreten haben, tun wir doch nichts anderes.»
Die Windfrau lächelte und sprach: «Wenn das so ist, sollte der Gang durch das Labyrinth für euch gut zu bewältigen sein.»
«Okay, dann hoffen wir mal das Beste,» sprach Benjamin. «Wo also ist nun dieses… Portal?»
«Gleich dort, im hintersten Winkel der Höhle.» Etwas zaghaft, gingen die Geschwister tief hinein in das Gewölbe und auf einmal nahmen sie ganz an seinem Ende, einen Art wabernden Nebel wahr, der bisher nicht dagewesen war. Langsam gingen sie darauf zu und streckten dann ihre Hand aus. Sogleich verschwand diese in der seltsame Erscheinung.
«Geht nur weiter, ich werde an eurer Seite bleiben,» vernahmen sie die Worte der Windfrau. Sie fassten sich an den Händen und gingen dann mutig, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend, durch den Nebel. Kurz darauf standen sie in absoluter Finsternis. Es wurde jedoch zusehends heller und sie sahen, dass sie sich in einem hohen, schmal Gang, mit glatten, grauen Steinwänden befanden.
«Ich heisse euch im Labyrinth der Erinnerungen willkommen Grosse Führer.» Dieser Titel klang in den Ohren der Geschwister irgendwie seltsam, besonders da ja noch gar nicht feststand, ob sie wirklich diese Grossen Führer waren. Immerhin mussten sie sich ja zuerst im Labyrinth beweisen. «Geht jetzt einfach weiter geradeaus,» wies sie die Windfrau an «bis ihr in eine grosse Grotte kommt.» Die Geschwister taten wie ihnen geheissen. Als sie jedoch in die mächtige Grotte traten, von welcher die Windfrau gesprochen hatte, wurden sie Zeuge eines einzigartiges Schauspiels. An den Wänden der Grotte tauchten verschiedenste, lebensechte Szenen ihres bisherigen Lebens und ihres Weges auf.
Sie erblickten sich selbst, wie sie auf der Waldlichtung standen, wo die alte Kräuterfrau ihnen das königliche Kaninchen Nofrete in die Obhut gab. Daneben gab es Szenen des Traumes, den sie von Nofrete gehabt und in denen diese sie so eindringlich um Hilfe angefleht hatte.
Die Alte Windfrau fragte: «Was genau habt ihr empfunden, als ihr diese traurige Geschichte von Nofrete vernommen habt?» fragte sie die Alte Windfrau.
«Wir hatten natürlich grosses Mitleid und wollten ihr helfen.»
«Dennoch habt ihr nicht gewusst, ob ihr diese Lichtung jemals finden würdet.»
«Nein, gewusst nicht, aber irgendwie gespürt. Allerdings..., wenn wir damals schon geahnt hätten, dass wir dann so lange von unseren Eltern getrennt sein würden, hätten wir uns vielleicht noch einmal überlegt diese Reise anzutreten.»
«Ihr meint, ihr hättet unter solchen Umständen anders entschieden?»
«Ich kann es ehrlich gesagt nicht sagen,» meinte Pia «mir fehlen Mom und Dad schon sehr und das macht mich manchmal sehr traurig.»
«Mir geht es ähnlich,» gab Benjamin zu. «Vielleicht wären wir unter besagten Umständen, wirklich nicht auf die Suche nach der Lichtung gegangen, wir hätten Nofrete vermutlich im Stich gelassen und all die anderen Verbannten damit auch.»
«Seid ihr ganz sicher?» hakte die Windfrau nach.
«Wir wussten ja damals noch gar nicht, dass es um so etwas Wichtiges geht, wir wussten vor allem nicht, dass wir sowas wie Weltretter sein sollen. Eigentlich will ich gar kein Weltretter sein, ich will auch kein Grosser Führer sein,» sprach Ben.
«Und doch seid ihr hiergeblieben. Warum?» Die Geschwister schauten sich an. Sie wussten auf einmal nicht mehr, was sie antworten sollten. Schliesslich fuhr Pia fort:
«Vermutlich, weil wir nun schon so weit gekommen sind und wir noch immer grosses Mitleid mit den Verbannten haben. Doch die Erkenntnis, dass wir alle Welten einst ins neue Zeitalter führen sollen, ist manchmal eine grosse Last. Ich weiss oft wirklich nicht, ob wir dem überhaupt je gewachsen sein werden. Es gäbe sicher Bessere als uns, Leute die mehr Erfahrung, mehr innerer Ruhe, Stärke und Weisheit besitzen.»
«Ausserdem sind wir schon oft nahe daran gewesen alles hinzuschmeissen,» ergänzte Benjamin und dachte an seinen Wutanfall vor einigen Tagen. Nur der Deva hatte ihn schlussendlich davon überzeugen können, dass er blieb.
«Du denkst gerade an den Berg-Deva,» stellte die Windfrau fest und sogleich flammten an den Wänden Szenen der Begegnung Bens, mit dem weisen Geist auf.
«Erinnerst du dich, was dir schlussendlich an diesem Gespräch den Ausschlag gab, doch zu bleiben?» wollte die Windfrau wissen.
«Ja, der Deva hat mich sehr ermutigt, gesagt, dass ich ein Weltenwanderer bin und dadurch sehr vieles im Omniversum bewirken kann. Er half mir, wieder Vertrauen zu finden und im Augenblick zu sein. Ach ja! Und er meinte, dass ich ihm nicht wie jemand vorkomme, der einfach eine so wichtige Mission aufgibt.»
«Und, glaubst du das stimmt?» wollte die Mutter der vier Winde wissen. Benjamin überlegte angestrengt, dann meinte er: «Ich glaube… schon.» «Glaubst du es nur, oder weisst du es?»
«Das ist eine schwierige Frage. Manchmal gibt es so schwache Momente, dann würde ich, wie gesagt, lieber nach Hause zurück. Einfach weil ich meine Eltern vermisse und irgendwie auch das… einfache Leben, das wir einstmals geführt haben. Seit wir Nofretes Ruf gefolgt sind, hat sich unsere ganze Welt völlig umgekrempelt und das macht mir schon etwas Angst.» «Mir geht es gleich.» sprach Pia bekümmert. «Oftmals… ertappe ich mich sogar dabei, dass ich mir wünsche, alles würde wieder so werden, wie es einst war; Damals als wir von all dem noch nichts gewusst haben. Doch dann erkenne ich…, dass es kein Zurück mehr für uns gibt, ... niemals.» Auf einmal kämpfte das Mädchen mit den Tränen und es spürte einen harten Kloss im Hals.
«Nein… es gibt kein Zurück mehr, darum… bleibt uns nichts anderes übrig als weiter zu machen,» fügte Benjamin leise hinzu.
«Und doch habt ihr durch das Beschreiten dieses Weges auch sehr viel an Wunderbarem erlebt,» sprach die die Stimme ihrer Führerin. «Wir werden jetzt aber etwas weitergehen.»
Die Geschwister verliessen die grosse Grotte und traten in einen weiteren, schmalen Gang. An den Wänden flammten eine Menge Bilder ihrer Erinnerungen und ihrer Reise auf. Sie sahen sich wieder unter dem Baum, wo ihnen Isobia das erste Mal erschienen war, sahen vor sich das Gasthaus zum Goldenen Gral und all die Naturwesen, die dort ein und aus gingen. Sie erblickten Lumniuz, der sie zum Kristall geführt hatte, die Höhlenelfen und ihre leuchtenden, unterirdischen Städte, die Blumenelfen und ihre Ankunft in Ululalas Kristallschloss. Und während sie all das sahen, wurden ihre Herzen wieder von Freude und Zuversicht erfüllt.
Schliesslich betraten sie eine weiterer Grotte und hier erblickten sie alle Szenen aus ihrer Zeit bei Ululala. Eine besondere Szene hob sich aber deutlich daraus hervor. Es war die Szene, als sie von Ululala erfahren hatten, dass sie die Weltenwanderung erlernen, Malek besiegen und das Medaillon der vier Naturgewalten besorgen mussten. Wie sehr hatten sie damals an sich selbst gezweifelt, waren das erste Mal nahe daran gewesen wahrlich aufzugeben. Ihre Aufgabe schien ihnen viel zu schwer zu sein.
«Damals war ein schwieriger Moment für euch, nicht wahr?» fragte die Mutter der vier Winde.
«Ja, allerdings! Ich glaube es war der schlimmste Moment, wir wollten wirklich aufgeben.» Die ganze Geschichte, die sie damals erlebt hatten, flammten nun an den Wänden um sie herum auf. Sie sahen sich, wie sie nach der Offenbarung ihrer Mission völlig durch den Wind gewesen waren. Alles hatte damals gedroht über ihnen einzustürzen, doch dann hatten sie diese ganz besonderen Traum gehabt. «Im Traum, den wir in jener Nacht hatten, wurde uns offenbart, dass wir das Feuer der ewig göttlichen Liebe und das Medaillon finden werden und das half uns sehr, wieder zu vertrauen.» erzählte Pia.
«Genau! Auch Ululala hat euch damals sehr geholfen. Er wachte über euch und so konntet ihr wieder neue Kraft finden.»
«Ach ja Ululala, ihn vermissen wir so sehr. Er hat uns so viel Zuversicht vermittelt und unerschütterlich an uns geglaubt.»
«Ululala ist etwas ganz Besonderes. Auch Malek ist das, aber Ululala… er ist ein wirklich hoher Geist und ein wunderbarer Mentor.»
«Das stimmt. Er hat uns damals sehr beigestanden und so vieles erklärt, auch Isobia war oft an unserer Seite.» «Und ihr habt es geschafft! Ihr habt es geschafft die Weltenwanderung zu erlernen und bereits zwei Teile des Medaillons an euch gebracht.» «Das stimmt, wir sind wirklich stets geführt und beschützt worden und haben wunderbare Wesen kennengelernt. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte all diese Geschöpfe, vor allem Ululala und Malek niemals kennengelernt, das wäre sehr traurig gewesen.» gab Pia zu bedenken.
Benjamin nickte «Das stimmt! Wir konnten doch eigentlich gar keinen anderen Weg gehen.»
«Seid ihr davon überzeugt?» wollte die Windfrau wissen.
«Ja schon,» sprachen die Geschwister. «Wünscht ihr euch noch immer, dass ihr diesen Pfad nicht beschritten hättet?»
«Jetzt da du uns das fragst… sehen wir das alles wieder etwas anders. Es hat uns bewusst gemacht, dass wir das Richtige getan haben, als wir uns entschlossen Nofrete zu helfen und all diese Dinge zu lernen.»
«So haltet euch das immer vor Augen!» sprach die Windfrau. «Auch wenn es mal wieder etwas schwieriger wird.»
«Wir werden es versuchen.»
«Das höre ich gerne. Dann gehen wir also etwas weiter.»