Kapitel 9
Heimweh
Die Tage vergingen und meine Genesung schritt voran. Zwar fühlte ich mich von Tag zu Tag besser, doch da ich noch immer nicht arbeiten konnte, stellte sich hier und da Langweile ein. Ich wünschte mir, zur täglichen Arbeitsroutine zurückzukehren, auch wenn sie lediglich darin bestand, die Räume zu säubern und Baltik zu Diensten zu sein.
Baltik schien sich seit meinem Badeunfall irgendwie verändert zu haben. Sein Gesichtsausdruck kam mir nicht mehr so kalt vor, zuweilen schien er fast freundlich, dann wieder desinteressiert. Einmal am Tag kam er auf mein Zimmer und erkundigte sich nach meinem Befinden. „Ab morgen kann ich meine Arbeit wieder aufnehmen, hat die Ärztin gesagt“, teilte ich ihm frohgemut mit. Baltik murmelte nur „Gut, gut“ und war schon wieder zur Tür hinaus.
Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Vielleicht war Baltik gar nicht so schlimm, wie ich vermutet hatte? War er womöglich einer von der Sorte Mann, die nach außen hart und unnahbar wirkte, in der aber trotz allem ein guter Kern steckte? Mein Verstand konnte sich nur schwer mit diesem Gedanken anfreunden. Er hielt Sklaven und Dienerinnen, die für ihn arbeiteten. Er kaufte Frauen auf dem Markt, vermittelte einige von ihnen an den Harem im königlichen Palast und verdiente sich eine goldene Nase dabei. Ich blickte bei diesem Mann nicht recht durch. Zum einen war er ein Mistkerl, wie er im Buche steht, zum anderen verhielt er sich wie ein jovialer Chef, dem man es nur recht machen musste, und man konnte damit leben. Es kam mir seltsam vor. Baltik erschien mir von Tag zu Tag etwas weniger fies und etwas weniger schroff. Sah ich in ihm anfangs noch ein Ungeheuer, erschien er mir nun eher wie ein Kollege oder ein Vorgesetzter, der zwar viel verlangt, doch die Seinen dafür anständig behandelt. Und die ganzen Annehmlichkeiten in seinem fürstlichen Anwesen waren durchaus nicht zu verachten. Doch letztlich war ich seine Gefangene. Zwar bekam ich Essen und Kleidung, selbst Sport konnte ich hier treiben und mich frei auf der ganzen Insel bewegen, doch es fühlte sich eigenartig an. Es waren lauter kleine Freiheiten überschattet von Unfreiheit. Aber es hätte schlimmer kommen können, sagte ich mir und versuchte, den Mut nicht sinken zu lassen. Vielleicht war Baltik ja anders, als mein erster Eindruck von ihm befürchten ließ.
Tags darauf versuchte ich, meine diffusen Gedanken über Baltiks Charakter zu vertreiben und konzentrierte mich auf meine Arbeit. Ich kümmerte mich um das Frühstück und den Kaffee für Baltik. Er war wie jeden Morgen in seinem Büro. Ich klopfte vorsichtig an die Tür und hatte dabei Mühe, das Tablett in Balance zu halten. „Herein“, brummte es von drinnen. Der Stimme nach zu urteilen, schien Baltik keine gute Laune zu haben. Mit einem flauen Gefühl im Magen trat ich ein. Baltik saß an seinem großen Schreibtisch und scrollte an seinem PC herum. „Guten Morgen, ich bringe ihnen das Frühstück!“, sagte ich. Mit einer kurzen Handbewegung gab er mir zu verstehen, dass ich das Tablett auf den Schreibtisch stellen sollte. Als ich mich umdrehte, um zu gehen, bedankte er sich. Ich musste innerlich lächeln, denn so kannte ich ihn normalerweise nicht. Ich verließt das Büro, besorgte mir Putzutensilien und fing an, die mir zugewiesenen Räume zu wischen, zu denen auch Baltiks Privatbereich gehörte. Eigentlich gab es dort gar nicht viel sauber zu machen. Sein Bett war ordentlich gemacht, die Zimmer sauber und geschmackvoll eingerichtet. Kein Vergleich zu der kleinen Kammer, in der ich wohnen musste. Ich vermisste meine Wohnung. Sie war hell und liebevoll eingerichtet. Was ist wohl aus ihr geworden? Ich war nun schon etliche Monate von zuhause weg, meinen Arbeitsplatz als Sekretärin hatte inzwischen wohl eine andere. Meine Bilder und Blumen, meine Schuhe, Röcke und Kleider, meine Auszeichnungen, all das fehlte mir, vor allem mein großes, bequemes Bett. Ich vermisste das Shoppen im Einkaufscenter und die Kinobesuche. Was hätte ich für einen Kinoabend mit einer Tüte Popcorn gegeben. Ich seufzte. Was wohl meine Arbeitskollegen machten? Oder mein Chef?
Ich war gerade fertig mit dem Badezimmer, als Baltik plötzlich im Türrahmen lehnte.
„So, du vermisst also Popcorn, Kino, Blumen und Shoppen?“ sagte er amüsiert. Ich schaute ihn verdutzt an. Ich musste wohl laut gedacht haben während der Arbeit.
„Ähm, ja, ich vermisse all die Kleinigkeiten und Annehmlichkeiten aus meinem früheren Leben.“ „So so…“, sagte Baltik mit einem seltsamen Unterton. Was sollte ich darauf antworten?
„Ja, ich vermisse mein altes Leben. Es war im Grunde nichts Besonderes und doch vermisse ich die Freiheit, die vielen kleinen Dinge zu tun, die ich hier nicht tun kann!“ gab ich offen und ehrlich zu. Baltik sagte nichts, sondern drehte sich um und verließ den Raum.
Ich säuberte die restlichen Räume, ohne Baltik noch einmal zu begegnen. Er war auch nicht in seinem Büro, wo er normalerweise den größten Teil des Tages verbrachte. Als ich nach Feierband in der Küche vorbeischaute, erfuhr ich, dass Baltik die Insel mit seinem Privatflugzeug verlassen hatte und erst in einigen Tagen zurückkommen würde. Ich nahm das Abendessen ein, ging zu Bett und träumte von zuhause.