Kapitel 12
„Baltik, wir müssen reden! Jetzt!”, stieß ich in strengem Ton hervor. Er schwieg für einen
Moment und schaute mir ernst in die Augen. Dann zog er eine Augenbraue hoch und
schmunzelte. Ich wusste, dass der Moment gekommen war, in dem ich handeln musste.
Sonst bekäme ich nie Antworten auf meine Fragen. Ich fasste Baltiks Arm und zog ihn aus
dem Gang direkt in sein Büro. Er ließ es geschehen und leistete keinen Widerstand.
„Was möchtest du denn wissen, Lenora? Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, dich in alles
einzuweihen.”
Ich blickte ihm direkt in die Augen. „Warum steht der Name von meinem Ex auf der Liste der
Sklavenhändler und gefühlt auf jedem dritten Dokument auf deinem Computer?”
Baltik schwieg. Er schien zu überlegen, ob und wie er antworten sollte. Sein innerer
Zwiespalt war deutlich zu spüren an dem gequälten Blick in seinen Augen, die sonst so blau
und rein und strahlend schauten. Kaum zu glauben, dass ein so attraktiver Mann wie Baltik
sich als Menschenhändler verdingt.
„Immer das gleiche mit diesen Typen“, dachte ich. „Außen hui und innen pfui!“ Baltik und
Steve – beide in einen Sack gesteckt und kräftig draufgehauen. Trifft immer den richtigen!
Wie konnte es sein, dass ich immer wieder auf diesen Typ Mann hereinfallen musste!“
Nach langem Schweigen setzte Baltik zu einer Erklärung an: „Dein Ex-Freund Steve ist ein
ganz schlimmer Finger. Ich selbst bin ein Waisenknabe im Vergleich zu ihm. Aus aller Herren
Länder lässt er Frauen entführen, um sie zu verkaufen. Die meisten landen früher oder
später in irgendwelchen Harems der Königsfamilie. Steve verkauft prinzipiell nur an den
Höchstbietenden. Das Schicksal der Frauen ist ihm völlig egal. Er ließ auch dich von seinen
Schergen entführen. Doch er hatte nie vor, dich an jemanden zu verkaufen. Er wollte dich in
seinen Besitz bringen. Seine Leute haben dich wohl verwechselt und brachten dich
versehentlich zum Markt, wo viele Interessenten sich gegenseitig überboten. Steve war an
diesem Tag nicht selbst vor Ort. Er hätte sicherlich den Höchstpreis geboten, um dich zu
bekommen. Doch ich hatte im Vorfeld seine Unterhändler bestochen und bekam so
schließlich den Zuschlag. So bist du schließlich hier, auf meinem Anwesen, gelandet.“
Jetzt wurde mir einiges klar. Doch ich musste noch einige Puzzleteile zusammenfügen.
„Aber aus welchem Grund ließ Steve mich entführen? Damit ich für den Rest meines Lebens
in seinem Harem verschmachte?“
Baltik seufzte und lehnte sich an seinen großen Schreibtisch.
„Nachdem du ihn angezeigt hattest, begann die Polizei auch in andere Richtungen gegen ihn
zu ermitteln, nicht nur wegen Stalkings. Steve befürchtete, dass sie etwas rausbekommen
und gegen ihn in der Hand haben. Sein Doppelleben drohte aufzufliegen. Außerdem ist er
noch immer besessen von dir und versucht schon seit Wochen herauszufinden, wo es dich
hin verschlagen hat. Seine Leute sind permanent auf der Suche. Ich halte dich hier vor ihnen
versteckt.“
„Und das scheint dir ja bislang ganz gut gelungen zu sein“, sagte ich mit einem Anflug von
Anerkennung. Doch meine Gedanken überschlugen sich. Sollte ich lachen oder weinen?
Hatte ich Grund, Baltik dankbar zu sein? Dafür, dass er mich vor Steve gerettet und mich vor
seinen Schergen beschützt hat? Dafür brauchte ich Baltik nicht, denn ich konnte gut genug
für meine Sicherheit sorgen. Mit Steves Handlangern würde ich schon fertig werden. Baltik
spielte sich als Retter und Beschützer auf, doch ich durfte nicht vergessen, dass auch er in
dunkle Machenschaften verstrickt war. Immerhin machte er Geschäfte mit Steve. Und woher
sollte ich wissen, dass er mir die Wahrheit sagte?
„Warum hast du alle Hebel in Bewegung versetzt, um mich auf dem Markt zu erwerben? Du
hättest mich ja auch Steves Handlangern überlassen können?”
Baltiks Gesichtsausdruck wurde plötzlich hart und er wandte sich ab.
„Genug für heute, Lenora. Keine weiteren Fragen mehr! Zurück an die Arbeit!”
Baltik verließ das Büro und ließ mich allein zurück. Langsam wurde mir bewusst, dass er
Steve wirklich hassen musste. Zwar kannte ich noch nicht den genauen Grund, doch ich
würde ihn schon noch herausfinden. Wenn Baltik eine Rechnung mit Steve offen hatte,
konnte das für Anne und mich zum Vorteil sein. Ich musste unbedingt Baltiks Vertrauen
gewinnen. Er musste begreifen, dass Steve der gemeinsame Feind war. Wir mussten
zusammenarbeiten und unsere Kräfte vereinen, um Steve endgültig das Handwerk zu legen.
Der seit Wochen heranreifende Plan in meinem Kopf wurde nun immer deutlicher. Ich war
entschlossen, dieses ganze Treiben, die Entführungen, den Menschenhandel, den
Sklavenmarkt ein für alle Mal zu beenden. Es musste aufhören, so schnell wie möglich.
Zuerst musste ich meine Freundin Anne befreien. Gemeinsam, mit vereinten Kräften
konnten wir mehr erreichen. Wir mussten einen Weg finden, die Kontrolle über das
Auffanglager zu übernehmen und die dort befindlichen Frauen für unser Vorhaben zu
gewinnen.
Es gab keine Zeit zu verschwenden. Ich musste mich in Form bringen für die vor mir
liegenden Herausforderungen. Wegen meiner Beinverletzung hatte ich in den letzten
Wochen nur wenig für meine körperliche Fitness tun können. Am frühen Abend begann ich
mit dem Training und unternahm einen ausgedehnten Lauf, immer wieder unterbrochen
durch kurze Sprints, Hüpfen auf der Stelle und um ein paar Schläge in die Luft zu machen.
Auch wenn mir nach dem Training die Glieder schmerzen würden, war ich entschlossener
denn je, meinen Körper zu stählen für die vor mir liegenden Herausforderungen.