Langsam sank der Nebel an den Hängen der schottischen Highlands ins Tal. Die Sonne stand schon tief und warf lange Schatten auf die Hügel, die das Dorf umgaben. In Willshire wurde es ruhig, die täglichen Arbeiten wurden niedergelegt. Die Menschen zogen sich in ihre Hütten zurück und bereiteten sich auf die Nacht vor.
Auch Gordana hatte ihre Arbeiten beendet. Ihr Vater war noch nicht nach Hause gekommen. Währenddessen stand seine Tochter am Fenster in ihrem Zimmer und starrte gedankenverloren hinaus. Dabei streichelte sie zärtlich über ihren Bauch, in dem Aidans und ihr Kind heranwuchs. Noch war ihre Schwangerschaft von Außenstehenden nicht zu bemerken. Doch lange würde es nicht mehr dauern, bis sich ihr Bauch wölben würde. Wenn es soweit ist, war Gordana allerdings längst über alle Berge. Dass sie ihren Vater hier zurücklassen musste, stimmte die junge Frau ein wenig wehmütig. Doch sah sie keinen anderen Ausweg mehr, als hier wegzugehen, damit sie mit Aidan zusammen sein konnte. Erst vor Kurzem hatte sie es selbst erlebt, wie sehr ihr Vater Aidan hasste. Wenn sie nicht dazwischen gegangen wäre, hätte es womöglich Tote gegeben.
Die Gedanken der jungen Frau flogen wieder zu Aidan McLeod, ihrem Liebsten. Inzwischen wurde es Nacht, eigentlich hätte sie eine Kerze anzünden müssen, ehe die Dunkelheit die Hütte vollends in Besitz nahm. Doch sie stand lieber im Dunkeln am Fenster.
Sie hatte Sehnsucht, unbändige Sehnsucht nach ihrem Aidan. Schon seit mehreren Tagen hatte sie nichts von ihm gehört. Ihr Vater Angus hatte ihn erbost davongejagt, als es McLeods Sohn gewagt hatte, um ihre Hand anzuhalten.
Zum Glück hatte Angus nicht bemerkt, dass Aidan mit seinem Antrag nur seine Rolle in ihrem abgesprochenen Theater gespielt hatte, um ihren Vater auf die falsche Spur zu lotsen. Zufrieden über Gordanas einlenken, hatte er den Braten nicht gerochen. Sie durfte sich wieder frei in der Hütte bewegen, ihre Fensterläden waren nicht mehr vernagelt.
Wieder schweiften Gordanas Gedanken zu Aidan. Wo wird er sich jetzt nur aufhalten?, dachte sie sich im Stillen. Sehnsüchtig schaute sie zum Wald, in dem Aidan ihre versteckte, zukünftige Unterkunft vorbereitete. Lange durften sie sich allerdings dort nicht aufhalten, denn Gordanas Schwangerschaft schritt voran und bald wäre für sie eine Flucht so gut wie unmöglich. So mussten sie schnell eine Möglichkeit finden, aus der Gegend von Willshire zu fliehen.
Die zwei Wochen bis zur Vollmondnacht waren recht schnell vergangen. Gordana hatte sich mit den Vorbereitungen für ihre Hochzeit abgelenkt. Es musste gebacken und gebraut werden, dazu noch viele Dinge, die sie ausführte, als gehörten diese zu ihren täglichen Aufgaben.
Heute Abend sollte es endlich soweit sein. Aidan hatte ihr versprochen, sie zwei Tage vor der Vollmondnacht abzuholen, um mit ihr zu fliehen. Er sprach von einem Versteck im Wald. Genaueres hatte er allerdings nicht verraten. Sollte die Flucht nicht gelingen, könnte Gordana nichts verraten, sollte sie zu einer Aussage gezwungen werden.
Es wurde kühl im Raum. Inzwischen war die Nacht vollends hereingebrochen. Nur der Mond schien und tauchte den Hof vor der Hütte in ein diffuses Licht. In ihrem Zimmer selbst war es inzwischen stockdunkel. Bald würde ihr Vater von seiner Arbeit zurückkommen. Gordana besann sich, das Abendessen für ihn vorzubereiten und ein Feuer im Ofen anzufachen, damit er es warm hat. Sie musste sich beeilen, um rechtzeitig damit fertig zu werden. Vater Angus liebte es nicht, auf sein Essen warten zu müssen, wenn er abends nach Hause kam. So machte sie sich an die Arbeit.
Wie Gordana es geahnt hatte, kam ihr Vater bald darauf nach Hause. Erfreut sah er, dass seine Tochter sein Abendessen schon bereitet hatte. Als er sich an den Tisch setzte, bat er sie zu sich.
Erstaunt setzte sich die junge Frau zu ihrem Vater. Sie war ein wenig verwirrt. Sonst saß er allein am Tisch und aß seine Mahlzeit. Er mochte die Gesellschaft einer Frau am Tisch nicht, auch nicht, wenn diese Frau seine eigene Tochter war. Gordana kannte es nicht anders.
An diesem Abend jedoch war alles irgendwie anders. Angus sah sie ein wenig melancholisch blickend an.
„Meine liebe Tochter“, begann er, nachdem er seine Suppe ausgelöffelt hatte. „Übermorgen wirst du mich verlassen. Deine Kindheit und Jugend ist nun vorbei, du wirst eine Ehefrau sein.“
„Ich weiß, Vater“, erwiderte Gordana. „Ich bin schon traurig, dich hier allein lassen zu müssen.“
„Tochter, du brauchst nicht traurig sein. Du wirst mit Matthew hier im Dorf leben“, antwortete Angus. „Allerdings gibt es da noch etwas, worüber ich mit dir sprechen muss. Das wäre zwar die Aufgabe deiner Mutter gewesen, doch die ist ja nicht mehr da. Also muss ich es tun.“
Gordana sah ihren Vater gespannt an. Sie konnte es sich schon denken, was dies sein sollte, über das er mit ihr so dringend sprechen musste. Doch wagte sie es nicht, zuzugeben, dass sie über diese Dinge schon Bescheid wusste.
„Mit den Aufgaben einer Ehefrau bist du schon vertraut. Doch da gibt es noch etwas, was dich erwarten wird“, sprach Angus leise. „Es gibt da Dinge zwischen Mann und Frau, die geschehen müssen.“ Angus wurde rot. Noch nie hatte er mit einer Frau darüber gesprochen, sondern immer nur zotige Witze mit seinen Gesellen darüber gemacht.
Am liebsten hätte Gordana laut gelacht. So wie ihr Vater sich anstellte, fand sie nur lächerlich. Doch sie durfte sich nicht verraten.
„Ach, Vater“, meinte Gordana, „lass diese Sache mich lieber allein erkunden. Ich glaube, Frauensachen sind nichts für Männer.“
„Wie schlau meine Tochter ist“, freute sich Angus, dieses für ihn derart unangenehme Gespräch nicht führen zu müssen.
Plötzlich klopfte es an die Hüttentür.
„Wer kommt denn um die Zeit noch?“, fragte Angus erstaunt und stand auf, um nach dem Störenfried zu schauen. Als er die Tür öffnete, stand Matthew davor und bat um Einlass.
„Ach, der Matthew“, begrüßte Angus seinen angehenden Schwiegersohn. „Komm doch rein. Was führt dich zu uns?“
„Guten Abend Angus. Guten Abend Gordana“, grüßte auch Matthew.
„Setz dich doch“, bot Angus dem Gast einen Sitzplatz auf der Ofenbank an.
Matthew ließ sich dort nieder. Er schaute etwas unentschlossen drein.
„Nun sag schon, was dich herführt“, drängte Angus ein wenig.
„Ich weiß, es gehört sich nicht. Dürfte ich trotzdem mit Gordana noch einen kleinen Spaziergang machen?“, fragte Matthew.
„Also Matthew, wirklich. Das gehört sich nun gar nicht“, tat Gordana entrüstet. Sie hatte keine Lust, um die Tageszeit noch mit ihrem aufgezwungenen Bräutigam durch die Gegend zu ziehen. Dafür war sie viel zu aufgeregt, denn in dieser Nacht würde Aidan kommen und sie abholen. Bis dahin wollte sie noch ein wenig ruhen, denn wer weiß, wann sie dazu kommen würde, wieder richtig ausschlafen zu können.
„Aber Gordana, ihr seid doch kluge Menschen. Ausnahmsweise erlaube ich es. Aber bitte geht nicht aus dem Dorf und wenn doch, nicht zu weit. Ich habe gehört, es treibt sich ein Landstreicher in der Gegend rum, der gerne lange Finger macht. Er schreckt bestimmt auch nicht davor zurück, zwei nächtliche Wanderer zu überfallen und auszurauben“, gab Angus seine Erlaubnis. Was er nicht wusste, dass dieser Landstreicher Aidan war, der sich in der Gegend ein wenig unbeliebt machen wollte. Doch auch dies war ein Teil seines Planes, mit Gordana fliehen zu können.
„Wenn du es erlaubst, Vater, dann gehe ich natürlich mit. Matthew wird mich schon vor diesem Langfinger beschützen“, meinte Gordana. „Allerdings“, wägte sie ab, „nicht allzu lange. Ich habe einen langen Arbeitstag hinter mir und bin müde.“
„Danke sehr, Angus“, freute sich Matthew, als Gordanas Vater die beiden mit einem Lächeln entließ. An Gordana gerichtet, meinte der junge Mann: „Natürlich nicht sehr lange, bis übermorgen kann ich noch warten, bis ich dich in meine Arme schließen kann.“
„Sehr gnädig“, foppte die junge Frau ihren zukünftigen Ehemann.
So spazierte das junge Paar plaudernd Arm in Arm in Richtung Wald.