Wie es Matthew versprochen hatte, dehnte er seinen abendlichen Spaziergang mit Gordana nicht lange aus. Pflichtgemäß lieferte er sie bald wieder bei ihrem Vater ab.
„Ich freue mich sehr, dass du in zwei Tagen meine Frau wirst“, raspelte Matthew Süßholz, ehe er sich verabschiedete.
Gerade noch konnte sich Gordana bremsen. Fast hätte sie ein gelangweiltes Gesicht gezogen. Doch so machte sie wieder einmal gute Miene zum bösen Spiel.
„Ich freue mich auch“, flötete sie zurück und brachte es sogar zustande, leicht zu erröten. „Nun aber gute Nacht. Bis übermorgen“, sagte sie noch zum Abschied und verschwand in der Hütte, um sich dort auf ihr Nachtlager niederzulegen.
Matthews letzte Worte hatten sie zutiefst erschreckt. Was wäre, wenn Aidan nicht käme? Wenn ihre Flucht misslingen würde? Wenn sie ihre Zukunft wirklich mit diesem Mann verbringen, ihm zu Willen sein müsste? Eine unheimliche Angst kroch in ihr hoch und ließ sie erzittern.
Vor der Hütte hörte sie noch, wie sich ihr Vater mit ihrem Bräutigam unterhielt. Inbrünstig betete sie, Aidan würde nicht gerade jetzt kommen, um sie abzuholen. So horchte sie nach draußen, bis sich Matthews Schritte entfernten und es im Vorzimmer ruhig wurde. Sie hörte ihren Vater noch einige Zeit rumoren, dann wurde es still im Haus. Wenig später hörte sie seine leisen Schnarchtöne.
Der Mond war schon fast voll. Vorsichtig öffnete Gordana die Fensterläden von denen ihr Vater die Nägel wieder entfernt hatte und schaute von ihrer Lagerstatt nach draußen. Voller Sehnsucht dachte sie an Aidan, der sich sicher schon am Nachmittag auf den Weg zum Dorf gemacht hatte. Er benutzte dabei nur Schleichwege, die ihn nicht auf dem direkten Weg zum Dorf brachten. Auch für den Rückweg in den Wald hatte er einen anderen Weg geplant, damit Gordanas Vater auf eine falsche Spur geführt wird, falls er seine Tochter suchen sollte.
Gordana dachte an die Zeit, die ihr gemeinsam mit Aidan bevorstand. Sie wusste, sie würde ihren Vater lange nicht mehr sehen, wenn sie ihn in diesem Leben überhaupt wiedersehen würde. Auch Aidan standen harte Zeiten bevor. Er musste für sie und das erwartete Kind sorgen. Anfangs konnte sie ihm noch behilflich sein, doch je größer ihr Leibesumfang werden würde, desto schwerer würde ihr das fallen. Sie dachte an die Frauen, die sich mit dickem Bauch kurz vor der Niederkunft behäbig durch das Dorf bewegten. Dasselbe Los stand ihr in absehbarer Zeit ebenfalls bevor. Nur, dass sie sich nicht im geschützten Bereich der Dorfgemeinschaft aufhalten konnte, sondern auf der Flucht vor ihren Häschern sein würde.
So sinnierend bemerkte Gordana nicht, wie schnell die Zeit verging. Plötzlich hörte sie von draußen den Ruf eines Käuzchens, das Signal, das Aidan mit ihr ausgemacht hatte. Gleich darauf folgte ein leises Kratzen am Fensterladen. Sie gab das Zeichen zurück. So wusste Aidan, sie hatte verstanden.
Leise stand die junge Frau auf, nahm ihr gepacktes Bündel und eilte zum Fenster, das im selben Moment von Aidan geöffnet wurde. Nur kurz drehte sie sich um, um ihrem Vater einen stillen Abschiedsgruß zu schicken. Lautlos kletterte sie hinaus in die Nacht und fiel ihrem Liebsten freudig um den Hals.
Aidan allerdings ließ sich durch Gordanas Wiedersehensfreude nicht ablenken. Er war sich sicher, dass sie sich beeilen mussten, um schnellst möglich aus dem Einflusskreis von Gordanas Vater zu entkommen. Weder ihm noch seinen Spießgesellen durften die beiden Fliehenden begegnen. Wenn doch, dann gnade ihnen Gott. Angus würde beide ohne nachzudenken umbringen.
„Lass uns ganz schnell von hier verschwinden“, flüsterte Aidan deshalb Gordana zu, die sich nicht von ihm lösen wollte. „Ehe der Morgen graut und dein Vater erwacht, müssen wir so weit wie möglich von hier entfernt sein.“
„Du hast recht“, flüsterte Gordana zurück, „mein Vater schreckt vor nichts zurück.“ Sie dachte mit Grauen daran, was passieren könnte, sollte er sie in seine Hände bekommen. Oft genug musste sie seine schlechte Laune ertragen, wobei er auch vor Schlägen nicht zurückschreckte.
Möglichst lautlos und so schnell sie konnten entfernten sie sich vom Hof. Aidan half Gordana über den Zaun, der den nahen Wald vom Hof abtrennte und wilde Tiere, wie Wildschweine davon abhalten sollten, die angebauten Früchte zu stehlen.
Im Wald war es dunkel. Der Mond versuchte seine Lichtstrahlen durch das Blätterwerk der Bäume zu schicken. Doch es war zu dicht, dass seine Strahlen nicht bis zum Waldboden durchdringen konnten. Gordana fürchtete sich ein wenig. Aidan schien das zu bemerken, denn er nahm ihre Hand und drückte sie aufmunternd. Flink schlichen sie weiter, bis sie außer Hörweite waren. Erst dann fielen sie sich in die Arme und seufzten auf, befreit über die gelungene Flucht.
„Wie geht es nun weiter?“, wollte Gordana wissen, nachdem sich die beiden nach dieser langen Zeit wieder einmal innig geküsst hatten.
„Ich habe einen Unterschlupf für uns vorbereitet. Weit genug vom Dorf entfernt“, berichtete Aidan seiner Geliebten. „Dort werden wir uns aufhalten, solange es dein Zustand zulässt.“ Zärtlich streichelte er über Gordanas Bauch, dem die Schwangerschaft noch nicht anzusehen war. Er wusste, sie mussten bald möglichst ein wirkliches Heim finden, in dem Gordana ihr Kind zur Welt bringen konnte. Wie sie ihm mitgeteilt hatte, sollte es im Februar soweit sein, somit konnten sie keinesfalls um diese Zeit noch im Wald nächtigen. Der Säugling wäre damit dem Tode geweiht.
Die beiden Flüchtenden machten sich nun auf den langen Fußweg zum Unterschlupf. Schweigend liefen sie Hand in Hand nebeneinander her. Aidan half Gordana über Bäche und umgestürzte Bäume hinweg. Der Weg war weit und führte quer durch den Wald immer weiter weg vom schützenden Dorf und dem Einfluss ihres Vaters.
Erschöpft kamen sie bei Sonnenaufgang an einer Lichtung an. Gordana konnte sich nicht erinnern, jemals in dieser abgelegenen Gegend gewesen zu sein.
„Wo sind wir hier?“, fragte sie Aidan, der neben ihr stand und den herrlichen Sonnenaufgang beobachtete.
„Nicht mehr weit von unserem Unterschlupf entfernt. Nur noch ein paar Kilometer und wir haben es geschafft“, antwortete er.
Sie ruhten sich einige Zeit aus, tranken Wasser aus dem nahen Bach und aßen ein paar Beeren, die sie an der Lichtung fanden. Als die Sonne gänzlich aufgegangen war, gingen sie weiter, immer darauf achtend, von zufälligen Wanderern nicht entdeckt zu werden.
Endlich kamen sie an. Gordana kam es vor, als wäre sie tagelang ohne Pause gelaufen. Ihre Füße brannten, sie hatte Hunger und Durst.
Aidan führte sie durch ein Gebüsch, hinter dem sich der Eingang einer kleinen Höhle verbarg. Die beiden schlüpften hinein. Angenehme Kühle empfing sie. Gordana hatte kahle Wände erwartet. Doch dann sah sie einen Tisch, zwei Stühle, ja sogar ein Bett war vorhanden. Alles aus rohen Baumstämmen gefertigt.
„Oh“, sagte sie nur, mehr konnte sie nicht sagen.
„Das wird für die nächste Zeit unser Zuhause sein“, ließ Aidan sie wissen. „Es ist zwar nichts Besonderes. Aber für ewig werden wir nicht hierbleiben. Für den Übergang wird es reichen.“
„Es ist wunderschön“, freute sich Gordana nun.
„Wir werden nicht lange bleiben, höchstens bis zum Herbstbeginn. Bis dahin werden sich die Wogen unserer Flucht hoffentlich etwas geglättet haben und wir können weiterziehen. Vielleicht sogar bis England.“
„So weit“, erwiderte Gordana erschrocken. Sie war sich bis eben nicht bewusst gewesen, dass sie ihren Vater vielleicht nie mehr wiedersehen würde.
„Wenn dein Vater seine Meinung nicht ändert, werden wir das wohl müssen“, erklärte Aidan. „Nicht traurig sein“, tröstete er nun Gordana, die Mühe hatte, ihre Tränen zurückzuhalten. Doch Aidan war ein guter Beobachter und erkannte Gordanas Leiden nur zu gut. Auch ihm ging es nicht besser, seine Eltern wahrscheinlich für immer verlassen zu müssen.
Gordana sah sich ein wenig in der Höhle um. Auf den ersten Blick war alles vorhanden, was man brauchte. Sogar eine kleine Vorratskammer, in der Aidan Korn und Obst gelagert hatte. Eine kleine Mühle, mit der man aus dem Korn Mehl machen konnte, stand am Rand und wartete nur darauf, benutzt zu werden.
„Wo hast du das nur alles her und wann konntest du das hierher bringen?“, fragte sie erstaunt.
„Ich habe halt Freunde, die mir halfen und mir alles liehen. Ab und an wird einer nach uns sehen und uns mit dem Nötigsten versorgen. Wenn wir hier weg sein werden, holen sie ihre Sachen wieder ab“, erklärte Aidan die Herkunft der Vorräte und Gerätschaften.
„Aber dann weiß doch jemand, wo wir sind“, sagte Gordana ängstlich. „Wenn mein Vater nun durch diese Leute herausfindet, wo wir sind.“
„Keine Angst, niemand weiß, wer diese Leute sind, auch meine Eltern nicht. Somit sind wir hier vorerst sicher“, beruhigte Aidan seine Geliebte und nahm sie in seine Arme. „Du bist bestimmt müde und möchtest dich ausruhen“, flüsterte er ihr ins Ohr. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie zum Bett, wo er sie niedersitzen ließ.
Das Bett war breit und bequem. Ganz anders als das, worauf Gordana im Haus ihres Vaters schlafen musste. Auch hier war nur eine Strohmatratze vorhanden, doch es war weich und lud zum hinlegen ein.
Wohlig streckte sie sich, breitete ihre Arme aus. Aidan sah das als Einladung an, jedoch nicht, ohne vorher zu fragen, ob er sich neben sie legen dürfe.
„Gerne“, flüsterte Gordana verliebt und zog Aidan an ihre Seite.