Du bist Allyster der Sehende.
Du nimmst den Stein in die Hand und schließt die Augen. Während deine Gefährten fröstelnd warten, schließt du die Augen und konzentrierst dich auf die kleine Hütte.
Stumm bittest du den Stein, dir Versionen der Zukunft zu zeigen, in denen ihr dorthin geht.
Die Bilder kommen sofort. Du siehst fünf Personen, zwei davon Kinder. Ein Mann und eine Frau in Kleidung, die aus einer Mischung als Leder und Pelzen besteht. Obwohl es hier so kalt ist, trägt die Frau ihre Kleidung bauchfrei und einen nur knielangen Rock, der Mann eine Weste, die Bauch und Brust sowie die Schultern freilässt. Die beiden Kinder schätzt du auf zehn und zwölf, zwei Jungen mit grimmigen Gesichtern und Speeren. Genau wie die Erwachsenen – vermutlich ihre Eltern – rennen sie angriffsbereit auf euch zu. Nur die fünfte Person regt sich nicht, eine alte Frau mit schlohweißem Haar, die zu alt für Kämpfe ist.
Du weißt, dass du sie alle töten musst, wenn du nicht möchtest, dass sie euch verraten.
Die Kämpfe bieten verschiedene Szenarien. Mal stirbt die Familie, mal ihr. Du siehst, dass auch die Kinder keine Gnade zeigen. Wenn ihr verletzt seid, stechen sie mit ihren Speeren aus sicherer Entfernung auf euch ein.
Entschieden schiebst du diese Zukunft beiseite und konzentrierst dich stattdessen auf die Wälder. Hier werden die Visionen weniger klar. Du siehst eine Rotte Wildschweine, die euch angreift, dann Wikinger, die zwischen den Stämmen hervorspringen, weil sie euer Feuer gesichtet und sich angeschlichen haben. Wölfe zerreißen eure Pferde, darunter Lehrling. Ein anderes Mal flieht ihr im Galopp vor etwas Großem, das du nicht genau erkennen kannst.
Aber es gibt auch Versionen, in denen ihr euch durch den Wald schleichen könnt, ohne zu sterben. Genauso ist jedoch eure Verkleidung in manchen Zukünften von Erfolg gekrönt. Ohne einer Entscheidung viel näher zu sein, unterbrichst du die Vision.
Ihr lenkt eure Tiere von der Straße und in den Schutz des Waldes, der sich an ihren Rand schmiegt. Da ihr das Tal erreicht habt, wird die Straße sichtlich besser. Sie ist von Unkraut befreit, die Grenzsteine bilden eine zunehmend gerade Linie, je näher die Straße zu der kleinen Hütte führt. So könnt ihr dem Pfad auch in einiger Entfernung gut folgen.
Die Tannen stechen dicht an dicht, sodass kaum Licht auf den mit Nadeln besetzten Boden dringt. Nur an wenigen Stellen konnten sich Sträucher ansiedeln. Stachelige Lorbeeren, Eiben, Dornenranken, dunkle Gräser. Der Boden ist gewellt, durchzogen von gewundenen Wurzeln. Auf manchen Lichtungen hat Moos alle anderen Pflanzen verdrängt, von Kreisen brauner oder roter Pilze einmal abgesehen. Grausilbrige Flechten hängen aus dem Geäst über euch wie geisterhafte Schleier.
Weiter von der Straße entfernt wird der Wald noch dichter, während ihr hier ein recht offenes Gelände vor euch habt. Weiter unten, nahe der Hütte, ist der Wald sogar teilweise gerodet.
Je näher ihr dem Haus kommt, desto schweigsamer werdet ihr. Bald müsst ihr euch entscheiden, ob ihr tiefer in den Wald reitet oder die Hütte überfallt. So, wie es von oben aussah, ist das Tal trotz allem relativ dicht besiedelt. Diese einsame Hütte könnte also eure beste Chance sein, euch Verkleidungen zu besorgen. Vielleicht eure einzige Chance, da überall sonst Nachbarn nah genug sein könnten, dass sie euch hören würden.
Oder ihr müsstet wieder in die Randgebiete, um so einen einsamen Ort zu finden, und das wäre ein Umweg, den ihr nicht in Kauf nehmen könnt.
Du betrachtest die kleine Hütte. Rauch steigt aus dem Schornstein. Wer immer dort wohnt, es scheinen Bauern zu sein. Auch wenn sie zu euren Feinden gehören und laut Karja alle Flutheimer auch Krieger sind, bist du wirklich bereit, eine Familie zu überfallen und zu töten?
Andererseits ist eure Mission zu wichtig. Nach dem, wozu ihr in der Mondsee gezwungen wart, glaubst du nicht, dass es noch so etwas wie eine Moral gibt, der ihr folgt. Es zählt nur das Endergebnis.
Und ob ihr überlebt, wenn ihr die Wälder betretet, weißt du nicht. Karjas Warnungen vor der Wildnis hier waren eindringlich. Du siehst es sogar darin, dass die meisten Hütten in diesem Land nicht einsam stehen. Obwohl es so viele unbewohnte Landstriche gibt, suchen die Flutheimer instinktiv beieinander Schutz.
Du hast aus dem Graumeer gelernt. Die Einwohner hier wissen, was es zu fürchten gibt. Also solltest du ihnen glauben … Doch dann wiederum sind auch die Einwohner Leute, vor denen ihr euch fürchten solltet.
Du entscheidest dich …
- … für die Wälder. Lies weiter in Kapitel 4.
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- … für den Überfall. Lies weiter in Kapitel 5.