Du bist Karja Sturmvogel.
Widerstrebend lässt du dich umstimmen, als alle drei derartig auf dich einreden. Du traust einem Kanu nicht weiter, als du eine Bordkanone werfen könntest, aber du weißt, wann du überstimmt bist.
Ihr beendet euer eher karges Frühstück und verlasst die Herberge. Draußen färbt sich der Himmel zu einem immer helleren Grau. Dein Atem bildet eine Wolke vor deinem Gesicht. Ihr lasst die Pferde im Stall und folgt eurem jungen Führer durch die erwachende Siedlung. Flutheimer in ihren typischen Pelzen fahren Schubkarren durch die Straßen, du kannst den Geruch von backendem Brot und das Hämmern eines Schmieds hören. Hühner laufen gackernd über einen Weg, irgendwo schreit ein Esel – sehr wahrscheinlich nicht dein treues Tier.
Elred und Allyster sehen sich neugierig um. Die dreckige Siedlung ist nicht gerade ein Augenschmaus. Ihr befindet euch in den ärmlicheren Vierteln, das erkennst du an der Straße. Je weiter ihr geht, desto besser befestigt sind die Wege. Die schlammigen Wege wandeln sich zu Kies und Kopfsteinpflaster. Die Häuser werden ebenfalls größer und gerader, die Dächer glänzen bald schwarz, statt mit Moos bedeckt zu sein. Es gibt größere Fenster mit richtigem Glas und die Vorgärten enthalten weniger Rüben und mehr Blumen.
Mehrere Flüsse verlaufen durch die Stadt. Ihre Becken sind in den reicheren Vierteln mit Stein eingefasst. Mal führen nur lose Bretter, mal richtige kleine Brücken über die reißenden Fluten. In den ärmeren Vierteln hocken Frauen am Ufer, um die Wäsche zu waschen, in den Gebieten der Arbeiter drehen sich knarzend und ratternd einige Wassermühlen.
Langfinger führt euch jedoch zu einem der größten Flüsse, dessen schäumendes Wasser fast gänzlich weiß ist. Der Fluss ist breit und führt, teils sogar durch Kanäle, quer durch die Stadt. An seinem Ende kannst du das Jarlsdorf erahnen, eine von mächtigen Mauern abgetrennte, kreisrunde Siedlung mit Wehranlagen auf den umliegenden Hügeln. Es gibt einen kleinen Abstand vor diesem Dorf, wo sich keine Hütten oder Höfe befinden. Falls Angreifer die Stadt niederbrennen, kann das Feuer nicht auf jene Wehranlagen übergreifen.
Der Fluss führt jedoch unter der Mauer hindurch. So habt ihr mit einem kleinen Kanu also wirklich eine Chance. Nur ohne ein Schiff würde das eisige Wasser sicherlich jeden Versuch zunichtemachen.
Das Problem besteht also nur darin, dass die Wachen euch nicht vorzeitig bemerken und abschießen sollten. Aber auch hier hat euer junger Freund mitgedacht.
„Denkt daran, ihr habt nur diese eine Chance, um zu tun, was immer ihr tun wollt“, schärft Langfinger euch ein. „Wir müssen uns verstecken, damit sie glauben, dass sich das Boot losgerissen hat. Dann werden sie nicht schießen. Also muss es ein Boot mit einer Plane sein.“
Der Kleine ist nicht schlecht. Auch wenn er langsam ahnen muss, dass ihr sicherlich nichts Gutes plant.
Er führt euch an eine Stelle, wo das Flussufer nicht bebaut ist und stattdessen eine sandige Bank ans Ufer führt. Hier liegen tatsächlich eine Handvoll Boote – oder jedenfalls schwimmfähig erscheinende Gebilde. Ein ordentliches Kanu ist dabei, auch ein Boot, das wie das alte Ruderboot eines Schiffes der Mondsee aussieht. Die restlichen Gefährte bestehen aus zusammengebundenen Ästen. Es sind Flöße mit wenig Breitseite. Wenn die einmal kippeln, werden sie euch ins Wasser werfen.
Trotzdem deutet Langfinger auf eines davon, denn dieses enthält leere Fässer, einige Säcke und Stoffe, unter denen ihr euch verstecken könnt.
„Das da wird es.“
„Na toll“, brummst du. Dir gefällt das alles immer weniger. „Wieso nehmen wir nicht gleich einen Helm als Boot?“
Langfinger ignoriert dich. „Ich denke, es wird dem Händler da gehören. Ich lenke ihn ab. Ihr müsst euch das Schiff schnappen und losfahren. Dann renne ich und hole euch bei der Brücke da ein, verstanden?“
Die Brücke, auf die er deutet, ist aus Stein und bildet einen Tunnel über dem Fluss. Du nickst langsam, auch wenn du die Bezeichnung ‚Schiff‘ für dieses Ding mehr als unangemessen findest.
„Also. Lasst euch nicht erwischen!“ Damit läuft Langfinger los, um den Händler in ein Gespräch zu entwickeln. Sobald er die Aufmerksamkeit des kahlköpfigen Wikingers hat, setzt ihr euch in Bewegung.
Der Weg am Strand entlang scheint endlos zu sein. Überall sind Flutheimer, die euch anzustarren scheinen. Einige waten mit Netzen ins Wasser, also sind es offenbar Fischer, die ihre Arbeit beginnen. Ohne Zeugen zum Floß zu kommen, wird so gut wie unmöglich. Das scheinen auch Elred und Allyster zu ahnen.
Ein Fischer, der euch finster unter dichten Brauen beobachtet, hebt die Hand zum Gruß. Er ruft euch ein paar Worte zu. Du schluckst. Sollst du versuchen, zu antworten? Das Problem ist, was immer du tust, Elred und Allyster werden es dir nachmachen. Du spürst die Blicke der beiden. Sie denken, dass du alles über die Freien Lande weißt und sie aus jeder Situation bringen kannst. Aber du warst selten außerhalb der Mondsee, und manche Feinheiten kannst du gar nicht wissen.
Du …
- … marschierst schweigend weiter. Lies weiter in Kapitel 25.
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- … antwortest: „Morg’n.“ Lies weiter in Kapitel 26.