Du bist Elred Aramys Nuvian.
Mit vollem Magen erscheint dir eine Flucht schon aussichtsreicher. Du hast ein wenig nachgedacht, während du mit den Bärenkriegern gegessen hast. Die Wachen des Jarls waren erstaunlich freundlich zu dir. Einer hat deinen Arm neu geschient und dir ein neues Hemd geholt, diesmal aus Hirschleder. Es trägt sogar schon einige Runen. Die aufgesprungene Lippe und andere Verletzungen von der Befragung wurden ebenfalls versorgt. Es ist, als wärst du ein ganz neuer Mensch. Nicht länger ein Feind, sondern einer der ihren. Das scheint das Geheimnis hinter der Probe zu sein. Nachdem du sie bestanden hast, bist du für die Flutheimer ein Teil ihres Volkes.
Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Der Jarl misstraut dir noch, warum sonst solltest du hier gefangen sein? Du bist sicher, dass man dich bald genug dazu benutzen will, den Zirkon zurückzuerlangen.
Allerdings wirst du ihnen nicht helfen. Stattdessen hast du nach dem Essen den Weg zu dem kleinen Hain eingeschlagen. Deinen Bewachern hast du erzählt, dass du nachdenken musst, um die Ereignisse der Nacht zu verarbeiten. In Wahrheit hast du die wenigen Zeilen bereits durchgeplant, die du schreiben willst.
Du findest im Inneren des Hains einen moosigen Stein, auf den du dich setzt. Krähen krächzen über dir, während du das Papier hervorholst.
„Ich lebe. Gefangen in Jarlssiedlung. Stein zuerst.“ Das sollte genügen. Deine Gefährten wissen, wo du bist. Wichtig ist aber auch, dass sie mit dem Zirkon entkommen. Wenn sie trotzdem die Möglichkeit haben, dich zu befreien, sollen sie das tun. Du hast gesehen, dass die Wachen in Flutheim nochmal verstärkt wurden und Jäger durch die Wälder streifen. Es ist fraglich, ob deine Gefährten eine Chance haben, dir zu helfen.
Mit einem leisen Pfeifen rufst du die Amsel zu dir. Alles sollte schnell gehen, deshalb guckst du gar nicht erst, ob sie bereits eine Botschaft des anderen Teams bei sich hat. Du schickst den Vogel los, während sich auch die Krähen krächzend erheben. Der Schwarm kreist über dir, während dein treuer Vogel sich aufmacht, Allyster zu finden.
Du schlenderst zurück zur Halle. Inzwischen bist du wirklich müde, außerdem willst du nicht, dass sich die Flutheimer wundern, wo du bleibst. Du grüßt die Wachen freundlich, die kein Misstrauen zeigen, dann suchst du dir einen Platz auf den Holzbänken nahe der wärmenden Feuer und streckst dich aus. Während der Schlaf dich langsam übermannt, reift bereits ein erster Plan in dir. Du wirst die Pferde aus dem Stall holen müssen. Deine Gefährten können vielleicht nicht mehr in die Stadt, also wäre das deine Aufgabe. Mit den Tieren kannst du fliehen und deine Gefährten einholen. Natürlich solltest du abwarten, ob Allyster dir etwas anderes schreibst … aber momentan kannst du sowieso nur warten. Also kannst du die Zeit auch nutzen, um dich auszuruhen.
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Ein Tritt in die Seite weckt dich. Blinzelnd siehst du auf – in die finstere Miene des Jarls.
„Ich hatte große Hoffnungen für dich.“ Enttäuscht schüttelt der Gehörnte den Kopf. „Aber offenbar hast du die Götter täuschen können, da sollte ich mich nicht schämen.“
Flankiert wird Audor Lurasson von seiner Bärenwache, von denen sich zwei nun herunterbeuten, um dich auf die Füße zu ziehen.
„W-was ist hier los?“, stammelst du verwirrt.
„Dachtest du, deine Botschaft würde unbemerkt bleiben?“, fragt der Jarl lauernd. „Wem hast du geschrieben?“
Du bist zu geschockt, um deine Miene rechtzeitig unter Kontrolle zu bringen. Das Grinsen des Jarls wird breiter, als er das Schuldeingeständnis in deinem Gesicht erkennt. Er gibt den Bärenkriegern einen Wink und dreht sich ab. Du wirst ihm nachgeschleift, auf den hinteren Teil der Halle zu. Hier trennt ein goldbestickter, schwarzer einen Raum ab. Als du in dieses Heiligtum geschleift wirst, siehst du ein Zimmer mit einem großen Bett in der Mitte. An den Wänden stehen Schränke, an den freien Flächen hängen Waffen, Jagdtrophäen und Wandteppiche. Rundschilde liegen auf dem Boden verstreut. Vieles wirkt hochwertig und ungenutzt, sodass du vermutest, dass es sich um Geschenke handelt, die der Jarl erhalten hat.
Die Bärenkrieger stoßen dich vor das Bett. Du schlägst mit dem Magen auf der hölzernen Kante der Fußleiste auf, Schmerzen toben durch deine malträtierten Rippen. Ehe der Schwindel nachlässt, bist du bereits an den Pfosten des schweren Bettes gekettet.
„Also gut.“ Der Jarl stellt dich vor dich. Aus der sitzenden Position wird er noch gewaltiger. Du kannst nur auf die massiven Fäuste starren. „Du hast eine Chance, die Wahrheit zu sagen. Du hast deinen Freunden geschrieben, nicht wahr? Wo sind sie? Haben sie den Zirkon noch?“
Mit einem tiefen Atemzug wappnest du dich. „Die Wahrheit, Jarl? Die Wahrheit ist, dass ich meine Waffenbrüder nicht verraten kann.“
Danach wartest du angespannt auf den Schlag. Doch er kommt nicht. Als du aufsiehst, bemerkst du überrascht ein Lächeln auf den Lippen des Riesen.
„Typisch Hirsch. Stolz. Ehrgefühl … du hättest auch einen guten Wolf abgegeben, aber ich schätze, du kommst auch als Einzelgänger zurecht. Ich muss mich entschuldigen, Elred. Ich hatte gedacht … gehofft, dass es dir reichen würde, die Wunder unserer Welt zu bezeugen. Doch man kann nicht vorsichtig genug sein. Also habe ich dich beschatten lassen.“
Der Jarl streckt den Arm aus. Aus dem Dunkel der Kammer kommt etwas angeflogen. Mit flatternden Schwingen landet ein schwarzer Vogel auf seinem Arm, deutlich größer als deine Amsel.
Eine Krähe. Du zuckst zusammen. Krähen waren in den Wipfeln, als du die Botschaft abgeschickt hast. Und auch sonst waren diese Vögel überall in der Stadt. Die, die dich jetzt mit wachsamem Blick ansieht, wirkt geradezu spöttisch.
Diese Spione sind überall. Wie oft wart ihr bereits vorher dicht davor, entdeckt zu werden? Dass jene am Fluss den Jarl nicht vor eurem Angriff warnten, kann nur daran liegen, dass die Vögel nicht schneller fliegen können als die Strömung!
Der Jarl kniet sich zu dir. „Also, Elred … unter den neuen Gesichtspunkten, willst du dich wirklich weiter sperren? Ich werde dich nicht töten, egal, wie du dich entscheidest. Aber wenn du lügst, wirst du dich bald nach dem Tod sehnen!“
Angespannt sieht du in Audors Augen, die hellblau sind wie ein klarer Gebirgsteich. Trügerisch klar und weich, doch in Wahrheit unermesslich tief und eisig kalt. Die strengen Gesichtszüge täuschen darüber hinweg, wie jung er ist. Das macht ihn noch unberechenbarer in deinen Augen.
Was sollst du tun? Natürlich könntest du weiterhin schweigen, aber das wird niemandem etwas bringen. Kannst du den Versuch wagen, den Jarl zu täuschen? Du kannst vor Schmerzen kaum denken, also wird es heikel. Die andere Alternative wäre, ein Söldner zu sein. Audor bietet dir im Moment mehr als Kalynor dir je zahlen könnte – er hat dein Leben in der Hand. Solltest du dein Leben für ein einziges Land aufs Spiel setzen? Welche Treue schuldest du einem Haufen Stein und Schlamm? Vielleicht kannst du dich – und deine Gefährten – retten.
Du …
- … versuchst eine Täuschung. Lies weiter in Kapitel 36.
[https://belletristica.com/de/chapters/344037/edit]
- … ergibst dich. Lies weiter in Kapitel 37.