Du bist Elred Aramys Nuvian.
„Um ehrlich zu sein, ja, ich habe mit ihnen geschrieben. Sie wusste nicht einmal, dass ich noch lebe“, erklärst du. „Es gibt einen Ort, wo wir uns treffen wollen.“
„Außerhalb von Flutheim, vermute ich.“ Lauernd sieht der Jarl dich an.
Du schüttelst den Kopf. „Es gibt ein Gasthaus an der Küste, wo sie mit dem Boot ankommen werden. Ich … ich weiß nicht genau, wo es war, aber ich hoffe, dass ich den Ort wiederfinde.“
Das letzte ist nicht einmal gelogen. Die heruntergekommene Taverne lag irgendwo in den Randbereichen der Stadt. Den Weg, den Langfinger zum Fluss genommen hat, hast du dir nicht merken können. Ihr seid eine ganze Weile gelaufen.
Doch dein Plan scheint zu funktionieren. Der Jarl wirkte für einen Moment misstrauisch, doch dass du in der Stadt bleiben willst, scheint ihn zu beruhigen.
Kein Wunder, wie du wenig später feststellst: Die Wachen auf den Straßen wurden verstärkt. Überall stehen Bärenkrieger. Wikinger mit anderen Runen stehen ebenfalls in Gruppen herum und halten Ausschau. Die Nachricht vom Diebstahl muss sich bereits verbreitet haben, die Flutheimer sind bereit, ihre Ehre zu verteidigen. Jetzt steht das gesamte Tal gegen euch, nicht nur der Jarl und seine Krieger.
Es wird nicht leicht, aus der Stadt zu fliehen. Deine einzige Hoffnung besteht darin, dass die Geschwindigkeit der Pferde dich rettet. Wenigstens liegt das Gasthaus nah an der Mauer.
Doch du siehst das auch als Bestätigung für deinen verzweifelten Plan. Du hast Zweifel, dass Allyster und Karja noch mal in die Stadt hineinkommen könnten. So, wie die Wachen verstärkt wurden, wurde sicherlich auch Langfingers geheimer Eingang abgedeckt. Somit haben die beiden keine Chance, die Pferde zu holen. Das kannst du jetzt für sie übernehmen.
Das Gasthaus zu finden, ist gar nicht so schwierig. Basierend auf deiner Beschreibung weiß der Jarl bereits, in welchen Stadtteil ihr müsst. Hier zieht ihr an die Klippen und dort erkennst du das windschiefe Gebäude schließlich. In Sichtweite der ärmlichen Hütte hältst du an.
„Ich weiß nicht, ob sie bereits hier eingetroffen sind“, erklärst du. „Vielleicht werden die Wachen sie ja auch abfangen. Aber es gibt einen Schöpferstein, den Vesuvian, der Unsichtbarkeit verleiht.“
Der Jarl nickt grimmig. Du meinst, sogar seine Zähne knirschen zu hören. „Diese Steine dienen euch?“
„Ja. Einige von ihnen.“
Das ist alles nicht gelogen. Du bist ziemlich stolz auf dich.
„Dann warten wir im Gasthaus“, beschließt der Jarl.
Du hebst eine Hand. „Ich hätte einen anderen Vorschlag. Wenn Ihr zustimmt …“
Der Jarl bedeutet dir mit einem Nicken, fortzufahren.
„Ich könnte alleine in die Taverne gehen. Wenn meine Gefährten bereits dort sind, werden sie bei Eurem Erscheinen sofort fliehen. Ich könnte dagegen mit ihnen sprechen.“
Der Jarl legt den Kopf mit dem großen Geweih schief. „Und was versichert mir, dass du nicht mit ihnen wegrennst?“
Du grinst. „Die Wachen? Wir hätten keine Chance. Wie sollten wir fliehen?“
„Wir sind an der Küste, wo die Palisaden enden“, widerspricht der Jarl – wofür du ihm insgeheim dankst. Wenn du eine Chance zur Flucht hast, dann hier. „Wenn sie das Boot nicht haben, steht euch auch das Meer offen.“
„Wenn Ihr mit nicht vertraut, warum lasst Ihr Euch dann von mir führen?“, fragst du, worauf der Jarl seufzend den Kopf neigt.
„In Ordnung. Geh allein.“
Du dankst ihm und eilst in die Taverne. Dort ist heute immerhin der Wirt zu sehen, ein alter Flutheimer mit kahlem Kopf, der dir kaum Beachtung schenkt. Zwischen den heruntergekommenen Gestalten, die hier zusammenfinden, sind deine Freunde nicht zu entdecken. Sie sind hoffentlich noch außerhalb der Stadt. Es macht dich wahnsinnig, dass du nicht weißt, wo sie sind, aber noch hatte deine Amsel keine Chance, mit einer Botschaft zurückzukehren.
Davon abgesehen geht jedoch alles nach Plan. Du informierst den Jarl, dass noch keine Kalynorer im Gasthaus sind, worauf er selbst hineinmarschiert und seine Bärenkrieger alles durchsuchen lässt. Jetzt musst du nur noch sagen, dass du auf die Toilette willst. Auf dem Weg zum Außenhäuschen biegst du allerdings in den Stall ab.
Coritas begrüßt dich mit einem freundlichen Schnauben. Melréd, ihr Fohlen und Karjas Esel stehen ebenfalls noch zwischen den Schafen. Du atmest auf. Deine Gefährten sind noch nicht ohne dich aufgebrochen, oder jedenfalls wirst du sie einholen können, wenn es so weit ist.
Allerdings tun deine Rippen und dein Arm noch immer weh. Du bist dir nicht sicher, wie schnell du reiten kannst. Viel Zeit wird dir allerdings nicht bleiben, um die Pferde zu stehlen und zu fliehen.
Du suchst die Sättel zusammen und bindest alles auf die Rücken der Tiere. Mit gespitzten Ohren folgt Coritas dir als erster auf den Innenhof. Melréd, Lehrling und der Esel trotten sofort hinterher. Die vier bilden eine gute Herde, was jetzt zu deinem Vorteil ist.
Leise führst du die Pferde vom Gasthaus weg, nach Norden, wo das Land sich zum Meer hin etwas abneigt. Ein gewundener Pfad führt an den Fuß der Klippen, wo sich ein kiesiger Strand anschließt.
Du hast zwei Optionen: Die offene See, wo du hoffen musst, dass die Pferde weit genug schwimmen können, oder den Weg am Fuß der Klippen, wo du dich auf die Geschwindigkeit der Tiere verlassen musst.
Du bist allerdings noch nicht einmal unten – der Esel steht noch oben auf den Klippen – als ein lauter Ruf erklingt.
„Er flieht! Jarl Audor, er will fliehen!“
Verdammt! Irgendeine Wache hat dich bemerkt. Du schwingst dich in den Sattel von Coritas und treibst die Pferde zum Galopp. Während sie den Pfad hinunterrennen, bemerkst du einen Schatten über dir.
Die Amsel ist zurück! Du kannst vor dem Licht der untergehenden Sonne nur ihre Umrisse sehen, aber du würdest deinen Vogel überall erkennen. Nur kannst du die Botschaft jetzt nicht lesen. Zuerst musst du den Wachen des Jarls entkommen.
Du flüchtest …
- … am Fuß der Klippen entlang. Lies weiter in Kapitel 40.
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- … aufs Meer hinaus. Lies weiter in Kapitel 41.