Du bist Elred Aramys Nuvian.
Du lenkst Coritas am Strand entlang, nach Westen, woher auch deine Amsel geflogen kam. Folglich muss sie dort ihre Nachricht erhalten haben. Die kannst du zwar nicht lesen, aber vielleicht kannst du Allyster auch auf diese Weise finden.
Hinter dir erklingen laute, melodische Hörner, die die Wachen alarmieren. Die Hufe der Pferde rutschen auf den glatten Steinen des Strandes. Tapfer sprengt Coritas weiter voran, Melréd, ihr Fohlen und der Esel sind dichtauf.
Ein Brüllen lässt dich herumfahren. Du drehst dich im Sattel und siehst mehrere Männer, die von den hohen Klippen herabspringen. Entsetzt siehst du hin. Was zur Hölle …?
Noch im Flug verformen sich die Krieger. Sie werden größer, ihre Gliedmaßen ändern sich. Als sie aufsetzen, haben sie die Gestalt von riesigen Bären, fast dreimal so hoch wie ein Pferd. Dein Herz setzt einen Schlag aus, als die Bestien die Verfolgung aufnehmen.
Die Bärenkrieger. Hinter den Runen verbirgt sich offenbar mehr, als du ahntest.
Du wendest dich wieder nach vorne. Auf den Klippen zu beiden Seiten erscheinen Bogenschützen. Zu den Riesenbären gesellen sich große Wölfe, einige Füchse, riesige Eulen. Plötzlich wimmelt der Rand von Flutheim nur so von übernatürlichen Bestien. Irgendwo weiter hinten siehst du einen großen, goldenen Elch, dessen Geweih du anhand der Runen erkennst. Jarl Audor befehligt seine Krieger mit röhrenden Rufen.
Die Bären holen auf. Dein Herz hämmert wie verrückt. Das Ende von Flutheim kommt näher, eine Stelle, wo die Palisaden an der Küste abbrechen. Doch dort tritt dir eine Gruppe aus nur wenig kleineren Bären entgegen.
Wie sollst du da hindurchkommen? Du ergreifst die Zügel und bist drauf und dran, doch ins Meer zu fliehen. Überall um dich herum prasseln Pfeile auf die Erde. Die Pferde rollen vor Panik mit den Augen, die Nüstern geweitet.
Da kracht ein Feuerball in den Rücken der Bären an der Palisade. Instinktiv treibst du die Pferde weiter an, noch ehe du verarbeitet hast, dass der Feuerball von Allyster sein muss.
Sie sind dort, direkt auf der anderen Seite der Palisade!
Du reitest ihnen entgegen, doch dann siehst du, wie die Flammen wirkungslos verpuffen. Die Bären brennen nicht! Stattdessen schütteln sie Allyster Angriff einfach ab und wenden sich um, deinen Gefährten zu.
Deine Waffen wurden dir abgenommen. In dem Moment, in dem deine Finger auf deinen leeren Köcher stoßen, wird dir bewusst, wie verloren du bist. Die großen Bären hinter dir haben dich beinahe eingeholt. Du kannst nur noch zur Palisade fliehen, deren Krieger du ebenfalls beinahe erreicht hast. Aber du kannst Allyster nicht helfen.
In diesem Moment fauchen neuerliche Flammen hinter der Mauer hervor, eine breite Welle aus strahlendem Feuer. Dieses Mal ist es hellblau, wie ein klarer Sommerhimmel, und dieses Mal jaulen die Bären auf, als die hungrigen Flammen in ihr Fell fassen.
Dann braust du mitten durch das Chaos aus brennenden Leibern und Funkennestern. Die Hitze nimmt dir kurz den Atem. Nur knapp verfehlt dich die schwingende Pranke eines Bären, der unter durchdringenden Schreien stirbt.
Dann bist du auf der anderen Seite, heraus aus der Stadt. Allyster, Karja und Langfinger stehen Seite an Seite vor dem Wald, der euch Deckung verheißt. Während Karja ihren Säbel gezückt hat, hält Allyster den Zirkon umfasst. Der Stein aus Flutheim glüht ebenso blau wie das Feuer, das er auf die Bestien jagt.
Das einzige, was diese Monster aufhält.
Du lenkst Coritas zu ihnen und bremst ihn, so gut es geht. Melréd in ihrer Panik will weiterrennen, dann allerdings ruft Allyster ihnen Namen. Die Stute bremst, er kann aufsteigen. Blaues Licht lässt das Fell des Tieres schimmern.
Karja hat etwas mehr Mühe damit, ihren Esel einzufangen. Während Allyster euch weiterhin Deckung gibt, ziehst du Langfinger zu dir auf Coritas.
Die Flutheimer dringen weiterhin auf euch ein. Wölfe kommen um die Seite der Palisade herum, um euch zu flankieren. Angespannt schickt Allyster weitere Flammen. Ihr weicht zurück, bis Karja endlich auf dem Esel sitzt. Dann wendet ihr und galoppiert in den Wald hinein. Allyster sprüht Feuer über die Schulter, bis ein dichter, blau glühender Wall entstanden ist, durch den euch die Flutheimer nicht folgen können.
Ihr reitet und reitet, bis die Pferde mit schweißbedeckten Flanken die Köpfe hängen lassen und die Feuer hinter euch nicht mehr zu erkennen sind. Langfinger führt euch durch die dünner bewachsenen Waldgebiete an den Rand einer großen Weide, wo ihr schließlich haltet.
Der Vollmond strahlt über euch am Himmel. Die Wälder sind so finster wie in der letzten Nacht, aber sie erscheinen dir weitaus weniger einladend als während der Probe.
Nun spürst du das Pochen in deinen Rippen, die Schmerzen im Arm und die Erschöpfung wieder. Du steigst langsam aus dem Sattel. „Ich brauche eine Pause.“
„Du lebst!“ Allyster kommt zu dir und mustert dich scharf. „Wie hast du das alles überstanden? Ich dachte, der Selenit zeigt mir vielleicht nur eine Zukunft, die ich mir wünsche, aber dann warst du da …“
Mit deiner Pause wird es wohl nichts. Notgedrungen beginnst du, deinen Gefährten alles zu berichten, was dir wiederfahren ist. Dabei schlagt ihr ein kleines Lager auf. Karja holt Brot und Wasser aus den Satteltaschen, ihr lasst die Pferde grasen und reibt sie etwas trocken. Die meiste Zeit starren dich deine Gefährten aber nur ungläubig an, weil du vom Jarl, von Göttern und Tierkriegern erzählst.
„Der Priester hat das Geweih?“, hakt Langfinger nach, als du von deiner Rückkehr als Erwählten des Hirsches erzählst.
„Jaaa“, sagst du langsam.
„Oh, wenn wir Glück haben … streck mal die Hand aus!“ Der Junge zerrt an deinem Arm und richtet deine Handfläche nach oben. Du lässt ihn gewähren, zu verdutzt, um zu reagieren.
„Und jetzt … wünsch dir eine Waffe!“, verlangt der Dieb.
„Ich … soll mir was wünschen?“
„Mach schon!“ Mit dem Finger zeichnet das Kind eine Rune in deine Handfläche. Die Hirschrune, die dir inzwischen vertraut ist.
Du denkst dich zurück in die Jagd am Meeresufer und rufst das Gefühl hervor, als du deinen Bogen und das Jagdmesser vermisst hast. Deine Handfläche beginnt mit einem Mal, zu kribbeln, als hättest du in einen Ameisenhaufen gefasst. Du starrst hin, als goldenes Licht erglüht. Dann fühlst du etwas glattes, was sich als ein Griff herausstellt. Zwei Griffe. Nach und nach schälen sich aus dem Nichts ein Jagdmesser mit einem verzierten Hirschhorngriff und ein Langbogen, der ebenfalls aus einem Geweih zu bestehen scheint. Fassungslos betrachtest du die Waffen. Das Hirschhorn des Bogens erscheint ungewöhnlich biegsam. Von dem Schaft ragen dornartige Geweihauswüchse. In alles sind die Runen des Hirsches eingeritzt.
An deiner Hüfte erscheint außerdem ein Köcher aus Hirschfell, dessen Pfeile ebenfalls hornartig wirken. Du ziehst ihn ab, um ihn anzustarren. Allyster begutachtet das Messer misstrauisch.
Langfinger dagegen grinst breit. „So ist das als Flutheimer. Das ist eine sogenannte Namenswaffe. Wir haben Glück, dass der Priester den Zauber bereits fertiggestellt hat! Nach deiner Flucht hätte er sicherlich nichts mehr getan.“
„Wie hat er einen Bogen aus einem Geweih gemacht? Noch dazu so schnell?“
Langfinger lacht. „Der Priester ist doch kein Waffenmacher! Nein, die Waffe kommt von dir. Sie ist ein Geschenk des Hirsches. Der Priester hat lediglich dein Opfer mit deinem Namen verbunden, sodass die Waffe auch zu dir kommen konnte.“
Nachdenklich siehst du auf deinen neuen Bogen. Er ist größer und damit vermutlich stärker als dein alter. Obwohl er aus Horn besteht, scheint er bestens zu funktionieren.
„Erstaunlich.“ Allyster reicht das Messer zurück. „Vielleicht hätten wir diese Probe auch machen sollen!“
„Ich habe nur knapp überlebt“, würgst du sie ab. „Kommt, wir sollten weiter. Ich bin sicher, dass sie uns suchen.“
„Kannst du dich auch in einen Bären verwandeln?“, fragt Karja grinsend. „Oder in einen Hirsch?“
„Lasst uns weitergehen!“, zischst du.
Es ist dunkel, aber das wird die Bärenkrieger nicht aufhalten. Da ihr euch inzwischen gestärkt habt, packt ihr wieder zusammen und schwingt euch in die Sättel. Langfinger, der wie Aji früher bei Allyster mitreitet, führt euch durch die Wälder und schließlich zurück zu jenem Hof, den ihr überfallen habt. Unterwegs seht ihr häufiger Kriegergruppen, aber ihr habt einen Vorteil: Der Zirkon wirkt gegen die Krieger, ganz anders als die meisten Waffen. Sie scheinen nicht daran gewöhnt, dass ihnen jemand Widerstand leisten kann. So könnt ihr euch mit dem neuerrungenen Stein wehren und erreicht schließlich unbehelligt den Pass.
„Ich muss aber wieder zurück“, sagt Langfinger leise. Inzwischen bricht der Morgen herein. „Ich kriege doch mein Geld, oder?“
„Natürlich.“ Allyster zügelt Melréd vor dem Hof. „Wir machen eine kurze Pause hier. Kannst du die Pferde eben füttern? Du findest dich hier sicherlich besser zurecht als wir.“
Langfinger nickt und nimmt Melréds Zügel. Allyster tritt in das Gebäude. Zu deiner Überraschung macht er allerdings keine Anstalten, noch etwas zu plündern oder eine Rast einzulegen. Stattdessen wendet er sich mit gedämpfter Stimme an euch.
„Der Junge ist ein Zeuge, das ist uns allen klar, oder? Wenn wir ihn gehen lassen, wird er mit kalynorischem Gold um sich werfen, den Wachen auffallen und vermutlich unter Folter alles verraten, was er über uns weiß.“
Dir wird eisig kalt. „Du … willst sagen …“ Du sprichst nicht weiter.
Allyster atmet tief durch. „Wir können ihn nicht gehenlassen. Mitnehmen aber auch nicht. Es gibt nur eine Option. Ihr könnt mir glauben, mir gefällt das genau so wenig wie euch!“
„Er ist nur ein Kind!“, zischt Karja durch die Zähne.
„Deshalb wird er einen Fehler machen. Was willst du tun? Ihm sagen, dass er das Gold nicht verwenden darf? Was, denkst du, wird er darauf erwidern?“
„Und selbst, wenn er sich daran hält – die Krieger haben ihn bei uns gesehen“, fügst du widerstrebend hinzu. „Außerdem gibt es noch mehr Späher. Tierische Späher wie die Krähen. Sie werden ihn finden.“
Allyster nickt. „Er kann einer Folter nicht widerstehen. Wir erweisen ihm eher eine Gnade.“ Mit einem Blick durch das Fenster vergewissert er sich, dass Langfinger noch am Stall ist und euch nicht hört. „Ihr habt diese Leute hier gesehen. Wenn sie uns jagen, wenn sie zur Taverne zum Teufelsochs kommen oder nach Kalynor marschieren, gibt es niemanden, der sie aufhalten kann. Alles, was gegen sie wirkt, ist dieser Stein hier.“ Er hebt den Zirkon. „Die Bärenkrieger müssen unsere Spur verlieren. Der Junge dort wird sie jedoch direkt darauf führen.“
Dir ist schlecht von der bloßen Vorstellung, euren jungen Führer zu töten. Könnt ihr das wirklich tun? Oder reicht es, wenn ihr ihm einschärft, dass er vorsichtig sein muss? Er ist doch in dieser Welt großgeworden. Vielleicht kann er untertauchen …
Du willst dich an jede Hoffnung klammern.
- Es muss einen anderen Weg geben! Lies weiter in Kapitel 42.
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- Aber dann triffst du schweren Herzens die richtige Entscheidung. Lies weiter in Kapitel 43.