Du bist Karja Sturmvogel.
„Moin“, fügt Allyster noch hinzu. Du schließt die Augen. Geht es vielleicht noch alberner?
Der Fischer stutzt sichtlich, dann wechselt er in die Gemeinzunge. „Die Krähen. Gebt ihnen nichts ab.“
Er nickt zum Himmel. Du folgst seinem Blick. Tatsächlich kreisen mehrere schwarze Vögel über dem Fluss, deren hungriges Gekrächz verrät, dass sie auf Fischabfälle hoffen. Die Krähen sind offenbar eine Plage.
Du nickst.
„Im Ernst, seid vorsichtig!“, ruft der Fischer euch nach. „Die Biester sind schnell. Verdammte Diebe.“ Er spuckt aus. Du fragst dich, während ihr zum Floß geht, ob es einen Krähenclan gibt und ob dieser vielleicht entsprechend unbeliebt ist.
Niemand schenkt euch noch groß Beachtung, obwohl dein Rücken vor Angst prickelt. Ihr erreicht das Floß jedoch, löst die Taue und steigt auf die Hölzer.
Das ganze Ding sinkt unter eurem Gewicht tief ins Wasser. Du kannst nur hoffen, dass es euer Gewicht tragen kann.
Über euch hat Langfinger eure Vorbereitungen aus einiger Entfernung beobachtet. Jetzt löst er sich aus dem Gespräch mit den Händler und rennt über die schmutzigen Wiesen, die hinab zum Fluss führen. Das Floß gewinnt rasch an Tempo. Du versuchst, es mit den langen Stecken zu bremsen, die zwischen den leeren Fässern lagen, aber du riskierst eher, die Stöcke abzubrechen.
Langfinger rennt wie ein Reh und setzt mit einem halsbrecherischen Sprung auf das Floß. Allyster fängt ihn auf.
„Sehr gut.“ Langfinger grinst euch an. Dann wird es dunkel – ihr seid unter die Brücke gefahren. Das Rauschen des Wassers macht es einen Moment unmöglich, zu sprechen. Du atmest durch. Die Luft riecht modrig und feucht, deine Knie sind nass vom Wasser, das zwischen den Hölzern aufsteigt.
„Ich hoffe, du weißt, was wir hier tun!“, rufst du dem Kind zu.
Langfinger kniet sich neben dich und ergreift den nächsten Stecken. „Wir haben nicht viel Zeit. Versteckt euch!“
Ihr robbt also in die Fässer und deckt euch mit den leeren Säcken zu. Die Hölzer sind von eisigem Wasser bedeckt. Du zitterst bereits jetzt.
Langfinger kauert sich in die Deckung des höchsten Fasses. Du kannst aus deinem Versteck heraus nur wenig erkennen. Wenn Langfinger beschließt, euch zu verraten, könnt ihr nichts mehr tun. Ihr seid ihm ausgeliefert. Hoffentlich hat er nicht erschlossen, wer ihr seid. Wie viel eure Köpfe wert sind.
Rasend schnell gleitet das Ufer vorbei.
„Macht euch bereit“, ruft Langfinger euch zu. „Gleich kommt das offene Stück. Und danach müsst ihr schnell sein.“
Ihr braust an den letzten Häusern vorbei. Du kannst die offenen, matschigen Wiesen sehen, dann rauscht die Mauer über euch hinweg.
„Jetzt!“, ruft Langfinger und stemmt sich gleichzeitig in die Stäbe, um das Floß zu bremsen.
Ihr springt unter den Planen hervor und seht euch um. Der Fluss trägt euch in ein flaches Tal, ringsum von Festungen auf Hügeln umgeben. In der Mitte des Tals steht eine flache, langgestreckte und reich verzierte Halle, ansonsten ist es hier eher leer. Es gibt einige Schafsweiden und Felder mit verschiedenen Pflanzen, aber nicht viel mehr.
Gerade nähert sich eine Gruppe der Langhalle. In der Mitte tragen zwei Krieger ein totes Schaf an einem Spieß. Sicherlich wird das heute Abend bei der Zeremonie benötigt. Der Gruppe voran schreitet ein wahrhaft riesiger Mann, sicherlich drei Schritt hoch, ein muskulöser Wikinger mit reich verzierter Kleidung in schwarz und braun mit goldenen Stickereien. Aus seinem Kopf erheben sich große Elchschaufeln, ebenfalls mit Runen verziert. Das muss der Jarl sein, keine Frage. Er scheint euer Floß aus dem Augenwinkel zu bemerken, jedenfalls dreht er sich um.
Auf seiner Brust blitzt ein blauer Stein auf, eingefasst in eine mit Runen verzierte Kette. Der Zirkon!
Ihr springt vom Floß. Die Wachen auf den Mauern haben noch nichts gemerkt, sie halten das Floß immer noch für ein leeres Boot. Also könnt ihr über die Wiesen rennen, während Langfinger das Gefährt auf dem Fluss durch die wilden Wellen steuert. Elred legt einen Pfeil auf die Sehne und zielt auf den Jarl, worauf sich mehrere seiner Krieger vor ihn werfen. Das Schaf haben sie fallengelassen.
Allyster beschwört eine Flammenkugel, die jedoch von einem der Kämpfer mit dem Schild abgefangen und nach oben umgeleitet wird, wo sie wirkungslos verpufft. Das reichte jedoch, dass Elred in der Deckung des Rauchs vorstürmen konnte. Die Zeit vergeht erneut langsamer für dich. So merkst du, dass ihr richtig rennen müsst, um mit Langfinger auf dem Floß mitzuhalten. Der Junge ist nicht stark genug, um dieses zu bremsen. Allyster hat das auch gesehen und läuft zu dem Kind, um ihm zu helfen. Doch er wird ihn nicht rechtzeitig erreichen.
Elred hält auf den Jarl zu. Er ist bereits nah, aber er wird wirklich sprinten müssen, um das Floß wieder zu erreichen.
Das war ein beschissener Plan. Jetzt müsst ihr irgendwie wieder aus diesem Schlamassel heraus. Elred wird es nicht schaffen, bis zur Mitte des Tals und zurück zu laufen. Er könnte euch den Zirkon natürlich zuwerfen, aber er würde nicht mehr entkommen. Da wäre es schon besser, wenn er umkehrt – doch werdet ihr eine zweite Chance kriegen, den Stein zu stehlen? Jetzt, nachdem ihr eure Anwesenheit hier verraten habt?
Das Tigerauge dehnt jeden Augenblick zur Unendlichkeit. Du siehst zu Elred. Allyster versucht noch immer verzweifelt, das Floß zu bremsen. Es ist an dir, die schwere Entscheidung zu treffen.
Du …
- … bedeutest Elred, den Stein zu werfen. Lies weiter in Kapitel 29.
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- … bedeutest Elred, umzukehren und den Stein aufzugeben. Lies weiter in Kapitel 30.