Du bist Elred Aramys Nuvian.
Deine Finger stoßen auf einen langen, starken Ast. Mehr wirst du auf die Schnelle nicht finden, aber er gibt dir ein gutes Gefühl. Langsam erhebst du dich vom Flussufer. Laub raschelt um dich herum. Der Wind streicht seufzend durch die Baumkronen, ein unheimliches Flüstern, das dich auf das unbekannte Wesen zu treibt.
Schritt für Schritt setzt du deine Füße voreinander. Deine Haut prickelt leicht. Was immer dort steht, es ist kein gewöhnliches Tier.
Das Moos unter deinen Füßen ist weich und nachgiebig. Der Mond kommt hinter den Wolken hervor, gerade, als du eine Lichtung erreichst. Im silbrigen, hellen Schein erkennst du eine Gestalt vor dem Schwarz der Tannen. Ein Hirsch, dessen Umrisse in einem zarten Sternenschimmer aus der Nacht geschnitten werden.
Er ist riesig. Das Geweih ragt über die Kronen der Tannen. Die Hufe sind so breit wie du. Undeutlich erkennst du die Musterung des Hirsches in Braun und Gold, golden sind auch die Runen, die bei jeder Bewegung in seinem Fell aufblitzen. Und golden glüht sein Blick, der sich nun auf dich herabsenkt.
Vielleicht ist doch etwas dran an den Göttern von Flutheim, denkst du mit einem Anflug von Selbstironie, während dein Herzschlag immer schneller wird.
Der Hirsch hebt ein Vorderbein. Du spürst eher als dass du es in der Dunkelheit siehst, dass er zum Tritt ausholt. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, als wärst du in einem Traum und könntest die Gedanken des Riesenhirsches spüren.
Gerade noch rechtzeitig wirfst du dich zur Seite. Schnaubend setzt das Tier dir nach. Während du mit schmerzenden Rippen über den Waldboden rollst, jagen neue Schmerzen durch deinen verletzten Arm, den die Schiene nicht gänzlich zu schützen vermag. Du beißt die Zähne zusammen. Neuerliche Übelkeit schüttelt dich.
Immerhin hast du den Stock nicht verloren. Während du taumelnd auf die Füße kommst, hebst du deine einzige Waffe gegen den heranstürmenden Hirsch. Dieser fegt mit dem Geweih über die Erde. Eher ungeschickt springst du über das Horn, welches durch den Boden pflügt.
Du hast nur eine Chance – du musst dieses Monster töten, bevor es dich erwischt!
Als der Hirsch sich aufbäumt, reißt du den Stock hoch und zielst auf seine Brust. Das Tier kommt direkt über dir herunter und du streckst dich, worauf der Stab den Hirsch in die Brust trifft. Du hältst deine Waffe mit aller Kraft fest und wirst mit einem Schmerzensschrei belohnt. Der Hirsch springt wieder auf und taumelt zurück. Blut trotzt aus seiner Brust, damit kann der stumpfe Stock ihn eigentlich nicht verletzt haben. Doch du hältst dich nicht mit Logik auf. Mit der gesunden Hand wirfst du den Stock ein Stück hoch, um ihn umzufassen, dann schleuderst du ihn wie einen Speer auf den Kopf des Hirsches.
Deine Rippen protestieren mit einem scharfen Ziehen gegen diese Belastung. Doch der Hirsch bäumt sich mit einem ersterbenden Röhren auf – du hast sein Auge getroffen!
In seinem Todeskampf reißt das Tier einige Bäume um. Du landest auf der Erde und hebst die Arme über den Kopf. Nun kannst du nur darauf warten, dass alles zu Ende geht.
Schließlich wird es still. Du erhebst dich vorsichtig. Die Schmerzen in deinem Arm und den Rippen sind nur noch schlimmer geworden. Es ist nun still, bis auf ein mächtiges Rauschen. Die gequälten Atemzüge des Hirsches hallen über die Lichtung. Langsam trittst du an das liegende Tier heran. Etwas sagt dir, dass er dich nun nicht mehr angreifen wird.
Je näher du dem Hirsch kommst, desto stärker glühen die goldenen Runen in seinem Fell. Er sieht dich ruhig mit seinem verbliebenen Auge an, ein Blick, der weder Todesangst noch Schmerz verrät.
Dann glühen die Runen noch etwas stärker auf. Sie heben sich aus dem Fell, steigen in die Luft und wirbeln wie ein Windzug umeinander, ehe sie auf dich zu schweben. Verwundert kannst du nur zusehen, wie sie in deine Brust eindringen, was nicht mehr als ein warmes Gefühl hinterlässt. Einzelne Lichtkugeln, wie Glühwürmchen, umkreisen dich. Je mehr Licht erstrahlt, desto dunkler und kleiner wird der Hirsch. Er schrumpft vor deinen Augen, bis er seinen letzten Atemzug schließlich in der Größe eines normalen Tieres tut. Du stehst schwer atmend vor dem Hirsch, zerschrammt, Rippen und Arm gebrochen, den Oberkörper nackt der eisigen Nachtluft ausgeliefert.
Während du den toten Hirsch noch betrachtest, hörst du weitere Schritte hinter dir. Du drehst dich nicht um. Eine innere Gewissheit verrät dir, dass keine Kreatur dich mehr angreifen wird. Und tatsächlich ist es der Jarl, der begleitet von einigen Kriegern aus dem Wald tritt.
Sie haben dich nicht aus den Augen gelassen. Du bist nicht einmal überrascht.
„Der Hirsch. Faszinierend.“ Der Jarl tritt neben dich. „Ich wusste, einer der Götter wird dich auserwählen!“
Du sackst fast in die Knie, als der gehörnte Hüne dir auf die Schulter klopft. „Auserwählt? Er wollte mich töten!“
„Und er hätte es getan, wenn er dich als unwürdig erachtet hätte. Wir müssen uns unseren Platz in dieser Welt erkämpfen, verstehst du? Jeder Wikinger, jeder in Flutheim, der seine Runen trägt, hat mit dem Blut eines Gottes dafür erkämpft. Und welcher Gott sich uns zeigt, wessen Blut wir vergießen, das bestimmt über den Rest unseres Lebens.“
„Das heißt, wenn ich einen Bären getötet hätte, wäre ich ein Krieger? Und bei einem Elch …“
„Du hättest sie nicht töten können. Der Hirsch hat dich erwählt. Nur er hat zugelassen, dass du sein Gefäß tötest.“ Der Jarl kniet sich neben den Hirsch und packt das Geweih. Mit einem kurzen Ruck bricht er die Hörner ab, einfach so, mit bloßen Händen. Er reicht dir beides, während er grimmig lächelt. „Viele Prüflinge streben nach dem Elch, weil sie das gute Leben als Jarl wünschen. Und er tötet alle, die ohne Grund nach ihm streben. Du musst dem Ruf folgen, den du hörst, nur so kannst du bestehen.“
Du betrachtest das Geweih unter deinen Händen. Das Horn ist mit winzigen Runen gezeichnet, die du in der Dunkelheit nicht genau erkennen kannst. „Und … welches Schicksal bedeutet der Hirsch?“
Der Jarl lächelt wohlwollend. „Du bist erwählt, ein Jäger zu sein. Ein einsamer Wächter des Waldes, ein Späher.“
Na toll. Du bist durch die Hölle gegangen, um wieder genau das zu sein, was du zuvor warst!
Der Jarl bückt sich erneut und schultert den toten Hirsch. „Ich nehme mal an, du wirst ihn nicht tragen können. Es sollte reichen, wenn du das Geweih schleppst. Folge mir, Elred. Von nun an bist du ein Flutheimer.“
In dieser Sache hast du sicherlich noch etwas mitzureden. Doch du beschließt, die Diskussion für später aufzuschieben.
°°°
Niemand sagt, dass du ein Gefangener wärst. Doch die Bärenkrieger weichen dir nicht von der Seite. Du musst den Jarl zurück zu dem gesicherten Tal begleiten, wo er den toten Hirsch einer Art Priester gibt. Der alte, gebeugte Mann trägt Roben mit Runen der Raben. Er war auch bei der Versammlung am Abend anwesend. Gestern Abend – inzwischen ist es hell geworden.
Nachdem der Jarl den Priester angewiesen hat, dich zu bevorzugen – wofür auch immer – verabschiedet er sich.
„Ich muss mich um jene kümmern, die aus der Wildnis zurückkehren. Und um jene, deren Söhne und Töchter nicht würdig waren. Heute werden viele Runen gezählt und viele Tränen bezeugt werden müssen.“ Seufzend wendet der Hüne sich ab und stapft schweren Schrittes aus dem Langhaus.
Der Priester geht ebenfalls. Damit bleiben nur noch die Wachen bei dir zurück. Als du zögerlich nach draußen trittst, halten sie dich nicht auf, sie beachten dich kaum.
Du fühlst dich müde, aber nicht bereit, zu schlafen. Nach allem, was passiert ist, bist du zu angespannt. Hunger hast du ebenfalls, und vor allem willst du nicht hierbleiben. Du möchtest fliehen, wenn du kannst.
Draußen sind die Mauern um das Tal mit Wachen besetzt. Du könntest dich höchstens in den Fluss werfen, doch ohne Boot würdest du in den Fluten erfrieren.
„Wenn du Hunger hast, dort drüben ist die Kaserne“, rät dir einer der Krieger. Er deutet auf ein schmales Gebäude, das sich an die Seite der Mauer anschließt. Du dankst ihm und gehst herüber. Für den Moment spielst du das Spiel mit, denn eine andere Wahl hast du nicht.
Auf dem Weg zur Taverne hörst du ein vertrautes Lied. Deine Amsel! Der schwarze Vogel sitzt auf einem Strauch in der Nähe und macht Anstalten, zu dir zu fliegen. Du lässt die Arme allerdings hängen und wendest den Blick rasch ab, was den Vogel entmutigt.
Innerlich bebst du. Deine Amsel! Das treue Tier kann dir helfen, Kontakt zu Allyster und Karja aufzunehmen. Du kannst ihr eine Botschaft mitgeben, um ihnen zu sagen, dass du noch lebst.
Unauffällig siehst du dich um. Zuerst wirst du etwas essen und dich stärken, aber dann kannst du eventuell in den kleinen Hain gehen, wo, wie du vermutest, Feuerholz für den Belagerungsfall wächst. Eine Handvoll Birken steht auf der anderen Flussseite. Sicherlich darfst du dich im Tal frei bewegen, in der Deckung jener Bäume könnten nur die Krähen sehen, was du tust – diese hocken im Geäst der Bäume und krächzen gelegentlich.
Nach dem Essen könntest du dich dort verstecken und etwas schreiben. Die Frage ist, ob die Wachen nicht angewiesen sind, auf genau so etwas zu achten. Werden sie misstrauisch, wenn du dich längere Zeit irgendwo versteckst? Oder kannst du die Nachricht schnell genug schicken, um keinen Verdacht zu erregen? Die Schreibfedern hat man dir zum Glück nicht abgenommen. Die Barbaren hier wissen garantiert nicht, dass das Wort, wie Allyster immer so schön sagt, die stärkste Waffe der Welt ist.
Das Wort – und ein Feuerball. So, wie du den Magier einschätzt.
Deine Überlegungen zu deinen Freunden und dem Risiko der Nachricht reißen ab, als du den Geruch von frischem Brei riechst, der aus der Kaserne kommst. Haferbrei oder etwas in der Art. Dein Magen knurrt jedenfalls sofort und du beschleunigst deine Schritte.
Erst wird gegessen! Danach …
- … schreibst du Allyster und Karja. Lies weiter in Kapitel 34.
[https://belletristica.com/de/chapters/344035/edit]
- … spielst du vorerst den braven Neubürger. Lies weiter in Kapitel 35.