Die Zellentür wird, begleitet von einem ohrenbetäubenden Geräusch, zur Seite geschoben. Der Insasse erschrickt und fährt aus dem unruhigen Schlaf empor. »Aufstehen, Jenkins. Die Freiheit wartet.« Vollkommen perplex starrt er den kräftig gebauten, bereits etwas in die Jahre gekommenen Wärter außerhalb der so vertrauten drei Wände an. Dieser lacht nur auf, so sehr belustigt ihn die übliche Reaktion seiner Gefangenen, wenn sie diese unverhoffte Nachricht erhalten.
Mit festem Schritt nähert er sich dem Mann, der noch immer kerzengerade und vollkommen übermüdet auf seinem Bett sitzt, packt ihn am Arm und zieht ihn recht grob auf die Beine. Vielleicht etwas zu hastig, sodass sich der Bewohner der Zelle erneut aufrichten und sich den Staub von der tristen Kleidung klopfen muss. Für einen Moment flackert Wut in seinen Augen auf, ehe sie erlischt und er sich von dem Wärter willenlos durch die grauen Gänge schleifen lässt.
»Ist das ein Scherz?«, ist alles was der Mann in Streifen hervor bringt. Der Wachmann schüttelt zwanghaft lächelnd den Kopf. »Sie haben den Fall neu aufgerollt. Gab einen ziemlichen Medienzirkus deswegen. Dein Glück, Junge.«
Gehetzt mustert er die Gänge mit trübem Blick und kann noch nicht realisieren, dass es wohl das letzte Mal sein wird, dass er diese Mauern von innen sieht. Transparente Hände strecken sich ihm entgegen und haschen nach seiner neugewonnenen Freiheit. Doch er lässt sie nicht an sich heran. Zu sehr hat er auf diesen Tag gewartet. Der junge Mann blickt in die verzweifelten, vernarbten Gesichter seiner ehemaligen Leidensgenossen. Jede ihrer Geschichten kennt er. Wenn auch manche nur vom Hörensagen. Der Eine, der seine Ehefrau niederschoss, da sie mit ihrem Chef im gemeinsamen Ehebett „an ihrer Karriere arbeitete“. Oder ein Anderer, der das Geld so sehr liebte, dass er eifersüchtig auf die örtliche Bank war und seinen Schatz aus deren Mauern bergen wollte. Und dann er. Ein Mann, der nur versucht hat die Welt zu reinigen.
All diese von Gier und Schuld zerfressenen Seelen um ihn herum erdrücken ihn. Er gehört nicht zu ihnen. Dies haben nun auch die Richter und Geschworenen begriffen. Hat schließlich nur zehn Jahre seines Lebens gekostet. Und doch kann er nicht einfach loslassen. Warum er und nicht sie? Weil ich kaum so verdorben wie diese Ratten bin.
Von weit her kann er leise Stimmen vernehmen.
»Wie können sie diesen Mistkerl nur laufen lassen?«
»Sie haben auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert.«
»Aber mit welcher Begründung? Dieser Kerl schien weder Stimmen zu hören, noch anderweitig geistig verwirrt gewesen zu sein, als er all diese armen Kinder ermordet hat.«
»Ich habe gehört, dass sie seinen Ausbruch auf emotionale Instabilität, die durch das damalige Mobbing ausgelöst wurde, zurückführen. Warum sie erst jetzt darauf kommen, verstehe ich auch nicht. Aber er soll vorher wohl ein unauffälliger Schüler gewesen sein. Und auch hier hat er keine Anzeichen von Aggressionen oder dergleichen gezeigt.«
Die Antwort darauf bekommt er nicht mehr mit, da der Wärter ihn immer weiter durch die endlos scheinenden Gänge führt. Die Ungeduld staut sich in seinen Gliedern. Er will zurück in die Welt, die er einst noch hat verbessern wollen. Er will sehen, wie sie ohne ihn im Chaos versinkt. Wie sie nach der Erlösung schreien und um seine Gnade betteln. Doch er wird sie nicht erhören. Denn nie wieder will er zurück in diese kalte Dunkelheit, gemacht aus menschlichem Abschaum und gequälten Seelen.
Die Tür wird geöffnet. Schon sind die endlosen Zellenreihen, die nun hinter ihm liegen, vergessen. Gespannt darauf, was nun folgen wird, tritt er hindurch und wünscht den armen Hunden in ihrem Verließ noch still ein schönes Leben. Dann nähert er sich einem Schalter, dessen Besetzung sich hinter einer Glasscheibe verborgen hält. Wortlos werden dem nun freien Mann Kleidung, Geld und Personalien ausgehändigt, ebenso wie ein einzelnes Formular, welchem er erst nach wenigen Momenten der Verwunderung Beachtung schenkt. Auf seine Frage hin, lenkt der bebrillte, junge Mann hinter der Scheibe seine begrenzte Aufmerksamkeit auf den Mann vor sich. »Ihr Arbeitsvertrag. Ihr Bewährungshelfer war bereits so freundlich, Ihnen einen Job zu besorgen, um Ihnen den Start in Ihr neues Leben zu vereinfachen.«
Er starrt auf das Blatt. Laut dem darauf stehenden Text würde er wohl am kommenden Montag als Eisverkäufer anfangen und somit dabei helfen, Kinder fett zu machen, damit sie dasselbe Schicksal erleiden können wie er damals. Wie bittersüß doch diese Ironie ist.