Die Kurzgeschichte "Dublin, 1835" ist ziemlich lang, deswegen teile ich sie hier in mehrere Teile. Viel Spaß!
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Wie aus Eimern schüttete es auf die irische Hauptstadt, als der hochgewachsene Mann, vor der Nässe geschützt durch einen schweren Mantel und einen Hut, aus dem Zug stieg und die Tasche, die seinen spärlichen Besitz enthielt, über die Schulter warf.
Der Regen war so stark, dass selbst der Rauch, den die Lokomotive in den Himmel auszustoßen versuchte, augenblicklich weggewaschen wurde. Grimmig betrachtete der Mann das Ungetüm, das laut war, stank und zischte wie ein schauriges Ungeheuer. Schon in England hatte er diesen Maschinen nichts abgewinnen können, doch es war bequemer, mit ihnen zu reisen als zu laufen. Besonders bei diesen Witterungsbedingungen.
Eilig rannten die Passagiere, um in den Bahnhof und damit aus dem Unwetter zu kommen. Der Reisende tat es ihnen nach, denn das Wasser, das von seinem Hut tropfte und sich in Bahnen an seinem Ölmantel nach unten arbeitete, ließ seine Haut kribbeln, als wäre er in einen Ameisenhaufen gefallen. Bereits im Zug war der Drang, zu schlafen, beinahe übermächtig geworden, er brauchte dringend ein Zimmer und etwas Ruhe.
Sein Irland, geliebte und gleichzeitig verhasste Heimat, zeigte sich wie immer von seiner besten Seite. Knurrend bahnte er sich seinen Weg durch die Menschen, die unter dem Vordach des Bahnhofes standen und schwatzten, über das Wetter schimpften, die Politik, die Obdachlosen, für die die meisten Leute selten mehr als einen flüchtigen Blick erübrigen, sich aber wohl darüber aufregen konnten.
Der Mann hatte sich bereits vor langer Zeit abgewöhnt, zu viel Mitleid mit denen zu haben, die vom Schicksal benachteiligt worden waren. Die hatten ihr Päckchen zu tragen, so wie er seines, doch hin und wieder drang auch bei ihm etwas Mildtätigkeit hervor. So kramte er, ohne richtig hinzusehen, aus seiner Manteltasche ein paar Schillinge hervor und warf sie einem alten Bettler wortlos in den Hut.
»Vergelt’s Gott, mein Herr«, bedankte sich dieser mit kratziger Stimme, doch der Mann hörte es schon kaum noch. Mit dem Segen irgendeines Gottes konnte er schon lange nichts mehr anfangen.
Blind für die Menschen dieser Stadt durchquerte er den Bahnhof und sah sich auf der anderen Seite des Gebäudes nach einer Fahrgelegenheit um. Kutschen ratterten über den lehmigen Boden der Straße, Männer mit breiten Hüten und Frauen mit Regenschirmen eilten unter dem grauen Himmel dahin, irgendwo schlug die Glocke einer Kirche eine Uhrzeit, die der hochgewachsene Reisende nicht genau mitbekam.
Seine Augen und mittlerweile sein ganzer Körper juckten und seine Laune war auf dem Tiefpunkt, als er zielstrebig auf eine freie Droschke zuging, deren Fahrgäste diese gerade freigaben.
»Können Sie mir ein sauberes Gasthaus empfehlen?«, knurrte er den Kutscher an, einen vierschrötigen Kerl mit einem gutmütigen Gesicht.
»Kommt drauf an, was Sie zahlen wollen, Mister. Das Royal Crown ist in der Nähe. Kein Palast, aber auch keine Bettwanzen.«
»Dann haben Sie ein Ziel«, entgegnete der Mann, warf seine Tasche in das Gefährt und schlug die Tür hinter sich zu. Seufzend und sich über das Gesicht reibend gähnte er, als er endlich unbeobachtet war. Nur noch aus den Kleidern raus und in ein Bett, schlafen, bis der Regen endlich nachließ, mehr wollte er nicht.
Es vergingen zwanzig Minuten, in denen das Schaukeln der Droschke und das monotone Rattern der Räder den Fahrgast nicht wacher gemacht hatten, bis das Gefährt hielt und der Kutscher auf das Dach pochte.
»Wir sind da, Mister.«
Der Angesprochene zog müde die Nase hoch, sah aus dem Fenster und kletterte aus dem Fahrzeug. Schweigend entlohnte er den Kutschführer, der seine Droschke wieder in Bewegung setzte und der Mann betrat das einfache Gasthaus, das nach Geißblatt duftete und dessen Fassade bis oben hin mit Efeu bedeckt war.
Der Kutscher hatte Recht behalten, es war ein einfaches Haus in einer noch einfacheren Gegend. Der Mann musste nicht einmal genau hinsehen, um das Elend in den schmalen Gassen zu bemerken, in denen sich die verkrochen, die kein Lager für die Nacht ihr Eigen nennen konnten. Doch wie so oft dachte er nicht länger darüber nach. Die Menschen strickten sich ihr Schicksal selbst und wenn sie es nicht schafften, daraus auszubrechen, hatte er keine Zeit, sie zu bedauern.
Erschöpft, aber erleichtert ließ er sich kurze Zeit später auf dem einfachen Bett in seinem bescheidenen Zimmer nieder, das er zum Glück mit niemandem teilen musste. Gasthäuser, in denen man zu mehreren in einem Raum schlief, waren ihm verhasst, denn er bevorzugte seine Privatsphäre und nahm zufrieden die Tatsache zur Kenntnis, dass die Wäsche in diesem Haus sauber und ungezieferfrei war. Einzig ein leichter Duft einer blumigen Seife ging von dem Bettzeug aus.
Müde und wie mechanisch hatte der Reisende sich aus den nassen Kleidern geschält und diese vor dem kleinen Ofen, der den Raum wärmte, aufgehängt. Die vage Bewegung seiner Hand brachte den Schlüssel in der Tür dazu, sich herumzudrehen und diese zu verriegeln, bevor er unter die Laken kroch und, eingelullt durch das Geräusch des stetig fallenden Regens, wegdämmerte.
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Viel später, es war inzwischen Nacht geworden, erwachte der Mann wieder, aufgeschreckt durch ein Geräusch, das er nicht einordnen konnte. Murrend rieb er sich über das Gesicht. Noch immer fiel Wasser vom Himmel, doch der erste lähmende Sog war durch den erfrischenden Schlaf von ihm genommen worden. Neugierig, weswegen er aufgewacht war, setzte der Mann sich auf und ließ seine empfindlichen Ohren das Gasthaus abhorchen, doch bis auf die gewöhnlichen Geräusche menschlicher Existenz konnte er nichts wahrnehmen.
Doch dann zuckte er und verließ das Bett. Der Blick durch die feuchten Scheiben war beinahe vollkommen finster, da das Licht der Straßenlaternen kaum durch die stetig fallenden Regenschleier dringen konnte. Was hatte er sich doch für eine einladende Zeit ausgesucht, um nach Hause zurückzukehren!
Leise das Fenster öffnend, horchte der Mann schließlich und tatsächlich hörte er Stimmen. Laute und pöbelnde, die klar durch das Rauschen zu verstehen waren.
»Wozu gibt es euch denn, wenn ihr einem doch nicht helft!?«, rief jemand, ein Mann, dem weichen Klang der Stimme nach noch eher ein Jugendlicher.
»Geh’ dorthin zurück, wo du hingehörst, Junge und hör’ auf, die Polizei mit deinen Geschichten zu belästigen. Du hast nachts auf der Straße nichts zu suchen!«
Der heimliche Lauscher konnte ein knuffendes Geräusch hören und der junge Bursche schnaufte. Offenbar hatten die Constables, an die er sich warum auch immer gewandt hatte, ihn mit ihren Stöcken davon überzeugen wollen, sie in Ruhe zu lassen.
»Da verschwinden Leute und ihr tut nichts!? Warum überrascht mich das nicht! Wir sind für euch doch eh nur Abschaum!« Der Junge spuckte und hämisches Lachen war zu hören.
Allmählich das Interesse an dem Zank verlierend, wollte der Mann am Fenster dieses eigentlich wieder schließen und zurück ins Bett gehen, doch etwas hielt ihn ab. Die vermaledeite Neugier, die ihn schon so oft in Schwierigkeiten gebracht hatte, weil er seine Nase nicht aus Dingen heraushalten konnte, die ihn nichts angingen. Manchmal verfluchte er, dass er dagegen so wenig tun konnte.
Er seufzte und griff nach seinen Kleidern, die inzwischen wieder trocken waren und den unverkennbaren Geruch von Regenwasser trugen. Schnell schlüpfte er in diese, ärgerte sich noch einmal erneut über sich selbst, warum er sich nicht einfach heraushielt und warf einen letzten prüfenden Blick hinunter auf die Straße, um sicherzugehen, dass ihn niemand sehen konnte. Es ging drei Stockwerke nach unten, doch das kümmerte ihn nicht, als er auf das Fensterbrett trat und sich einfach fallen ließ.
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»Diese syphilisgefüllten Schleimsäcke!«, spuckte der Jugendliche, als er sich die Rippen reibend durch den Regen davon stapfte. Das hatte man nun davon, wenn man glaubte, bei der Polizei von Dublin Hilfe erwarten zu können. Was hatte er sich auch gedacht? Dass sie gleich mit einer Hundertschaft anrücken würden, weil ein zerlumpter Straßenjunge sie um Hilfe bat? Es war doch typisch für diese Welt.
»Klingt nach ‘ner harten Nacht für dich«, drang eine tiefe Stimme aus dem Halbdunkel einer Gasse, die er passierte und der Bursche zuckte zusammen, als ein hochgewachsener Mann aus dieser heraustrat, dessen Gesicht durch seinen Hut im Schatten lag.
»Wenn du was zum Bumsen suchst, Kumpel, bist du bei mir an der falschen Adresse«, knurrte der Jugendliche.
»Erzähl’ mir dein Problem«, erwiderte der Angesprochene, die freche Antwort geflissentlich ignorierend. Es war normal, dass alles, was sich nachts noch auf der Straße herumtrieb, als Frischfleisch angesehen wurde.
»Wer bist du, Jesus? Lass’ mich in Ruhe.«
»So dringend kann dein Problem nicht sein, wenn du keine Hilfe dafür willst. Vermutlich wolltest du dich bei den Polizisten nur ein bisschen wichtig machen, um ihnen dann den Geldbeutel zu klauen.« Die Worte waren gleichmütig erklungen, doch sie hatten Wirkung auf den Jugendlichen, der stehen blieb, die Hände zur Faust ballte und sich herumdrehte.
»Ich bin kein Dieb! Und auch kein Lügner!«
»Gut, dann erzähl’ mir davon.«
Misstrauisch betrachtete der Bursche sein Gegenüber, das ihm irgendwie unheimlich war. Dieser Mann hatte eine Präsenz, die er beinahe körperlich fühlen konnte, obwohl er nicht einmal dessen Gesicht erkennen konnte.
»Wer bist du?«
»Für manche bin ich ein Gott. Für andere ein Teufel. Was ich für dich bin, hängt ganz von deiner Geschichte ab.«
Na, super. Er war mitten in der Nacht mutterseelenallein in dieser beschissenen Gegend dieser noch beschisseneren Stadt auf einen Geisteskranken gestoßen, der sich für einen Märchenhelden hielt. Konnte es jetzt noch schlimmer kommen?
»Wie ist dein Name, Junge?«
»Ian.«
»Und weiter?«
»Nix weiter. Nur Ian.«
Der Mann musterte den Burschen. Er war also ein Waisenkind. Kein Wunder, dass er sich lieber auf der Straße herumtrieb.
»Willst du nun meine Hilfe, oder nicht? Ich bin nicht scharf drauf, mir länger in den Kragen regnen zu lassen, wenn ich genauso gut in meinem Bett liegen und schlafen könnte.«
»Für welchen Preis? Muss ich mich anschließend deiner Mafia anschließen oder doch für dich die Beine breit machen? Ich hab’ kein Interesse!«
Ein leises Knurren schob sich die Kehle des Mannes hinauf und er schloss die Augen. Er hätte wissen müssen, dass man einem Streuner nicht so leicht etwas anbieten konnte, die waren es gewöhnt, unlautere Gegenleistungen erfüllen zu müssen für jedes bisschen Freundlichkeit. Allmählich jedoch riss der Geduldsfaden. Es bestand schließlich keine Verpflichtung, dem Bengel bei etwas zu helfen, bei dem er offenbar gar keine Unterstützung wollte.
»Gut, musst du selbst wissen, Ian. Wer nicht will, der hat. Gute Nacht!« Mit den Händen in den Taschen seines Mantels machte er kehrt und ging über die Straße zum Gasthaus zurück, bog in die schmale Gasse daneben und war verschwunden, während der Junge ihm nachsah, noch abwägend, ob es nun gut oder schlecht gewesen war, die Hilfe des Fremden auszuschlagen.