»Gibt es hier einen Keller?«, fragte er den Jungen, als der in den Korridor zurückkehrte und leise die Tür hinter sich schloss.
»Keine Ahnung, ich war noch nie hier drin?«
»Ach ja, richtig.« Dionysos schüttelte über sich den Kopf und folgte seiner Nase in einen abgelegenen Gang, der ihn dem Geruch nach in die Küche führen würde. Meist waren die Zugänge zu den Kellergewölben dort und er glaubte, am ehesten da etwas zu finden, wenn dieses Haus tatsächlich ein Geheimnis enthielt, das der Besitzer peinlichst zu verbergen versuchte.
»Ich fühl’ mich gar nicht wohl«, hörte der Mann den Jugendlichen hinter sich und konnte dessen Angst riechen. Er fürchtete sich vor dem, was er zu Gesicht bekommen mochte. Seine Gefühle waren für Dionysos so sichtbar, als würde Ian sie ihm beschreiben.
»Reiß’ dich zusammen oder geh’ raus, bitte. Ich kann hier keinen gebrauchen, der mir auf die Schuhe kotzt oder einen Nervenzusammenbruch bekommt, klar?«, knurrte der Mann, doch der Jugendliche straffte sich.
»Nein. Nur mich hat gekümmert, was hier geschieht, ich kann jetzt nicht abhauen.«
»Gut, dann Klappe jetzt«, Dionysos sah sich in der stockfinsteren Küche um, in der es noch leicht nach Gebratenem roch. Er verzog den Mund, horchte und schlich schließlich zu einer niedrigen Tür am anderen Ende des Raumes. Sie war nicht verschlossen, doch quietschte und als der Mann sie öffnete und das durchdringende Geräusch erklang, zuckten er und der Jugendliche hinter sich zusammen und verharrten in einer Habachtstellung, darauf wartend, dass sich etwas in dem Haus rührte. Doch es blieb still.
»Puuuh, hat einen gesunden Schlaf, der Kerl. Allerdings, so wie der riecht, reicht der Pegel, um einen Matrosen auszuschalten«, murmelte Dionysos und öffnete die Kellertür langsam etwas weiter. Ian sparte sich dieses Mal die Frage danach, woher der Mann das wusste. Dem Burschen war schon mehr als bewusst, dass dieser Dionysos kein gewöhnlicher Kerl sein konnte und vielleicht war es zu gefährlich, zu erfahren, was genau er war. Dem Jugendlichen waren in dieser Stadt schon genug komische Gestalten begegnet.
Sie huschten die Treppe in einen noch finstereren Kellerraum hinunter, der wie ein Gewölbe unter dem Haus lag. Er wirkte deutlich älter als das Gebäude sein konnte, doch Dionysos schob es auf seine Einbildung. Er erkannte nicht genug, um das mit Sicherheit sagen zu können. Brummend hielt er inne, als Ian von hinten gegen seinen Rücken prallte und beinahe gestürzt wäre, wenn der Mann ihn nicht am Arm gepackt hätte.
»Vorsicht!«
»Ich sehe nichts!«, zischte der Junge.
»Sei’ still«, knurrte Dionysos harsch und legte Ian die Hand auf den Mund.
»Hmmpf?«
»Shhht, lass’ mich hören.« Der Mann hielt den Jungen fest, damit er keine störenden Geräusche machte und schloss die Augen. »Spürst du auch diesen Luftzug?«
Ian nickte nur.
»Das Gewölbe hat offenbar keine Fenster und er kommt nicht von der Tür ... hmmm.« Der Mann gab den Jugendlichen wieder frei, der zu seiner eigenen Sicherheit einfach an Ort und Stelle stehen blieb, und schritt den großen Raum ab. Die Wände wurden durch Regale dominiert und mittendrin bildeten sie Gassen. Ein zischendes Geräusch zog Dionysos’ Aufmerksamkeit auf sich, doch es war nur der Junge, der ein Streichholz angerissen hatte, um selbst etwas zu sehen.
»Unheimlich.«
Ein leises Poltern aus der Küche ließ sie beide zusammenzucken und Dionysos schaltete schneller, als Ian überhaupt bewusst werden konnte, dass etwas passiert war. Der Mann packte den Jungen und zog ihn hastig in eine Nische unter der Treppe, wo sie niemand würde sehen können. Keinen Augenblick zu früh, denn schwere Schritte, dem Klang nach die eines massigen Mannes, näherten sich der Kellertür und jemand zog sie auf. Dionysos hatte diese, nachdem sie den Raum betreten hatten, hinter sich geschlossen, damit sie keine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, falls ein Hausbewohner nächtens vorhatte, seinen Durst zu stillen.
»Oh verdammt, wir sind dran!«, flüsterte Ian und Dionysos konnte spüren, dass er zitterte. Er legte dem Jungen die Hand auf den Rücken und machte ein sehr leises Geräusch, während ein Lichtschein sich die hölzerne Treppe nach unten bewegte.
Dionysos konnte durch die Ritzen der Stufen die Person erkennen und verzog das Gesicht, denn der Mann roch widerlich, nicht nur nach Unmengen Alkohol, sondern nach etwas viel Natürlicherem. Irgendetwas schwelte in seinem stämmigen Leib, eine Krankheit, die ihn innerlich zerfraß und einen Hauch von Pestilenz über ihn legte.
»Das ist er, Cornelius Emerard. Ihm gehört das Waisenhaus«, hauchte Ian in Dionysos’ Ohr und der nickte. Seine scharfen Augen ließen den Gentleman nicht aus dem Blick. Oberflächlich betrachtet konnte man Mr. Emerard als bescheiden attraktiv bezeichnen. Er machte einen stattlichen Eindruck und war zwar kräftig gebaut, aber nicht fett und obwohl sein Gesicht keinen Schönheitswettbewerb gewinnen würde, war es nicht hässlich. Und trotzdem war etwas an dem Mann, das Dionysos die Nackenhaare sträubte. Ein Ausdruck in Emerards Mimik, die feucht glänzenden, fleischigen Lippen oder der feine Schweiß auf seiner Stirn, der nicht von zu hohen Temperaturen kam, sondern vielmehr von innen, von einer innerlichen Erregung her, die lüstern und unangenehm war.
Mit schwerem Tritt ging der Gentleman an den Regalen entlang, als suche er etwas und als er schließlich in eine Nische griff und ein knirschendes Geräusch ertönte, stutzte Dionysos.
»Ein Geheimgang! Daher der Luftzug«, flüsterte er beinahe lautlos und verzog sogleich das Gesicht, denn der dumpfe Geruch, der aus dem finsteren Korridor drang, waberte modrig in den Kellerraum, vermischt mit dem schweren Duft von Kerzenwachs.
»Komm«, murmelte Dionysos zu Ian und huschte aus dem Versteck, kaum dass Emerard den Geheimgang betreten hatte und das Licht seiner Lampe sich entfernte. Sie folgten dem matten Widerschein leise und vorsichtig, darauf bedacht, dass der Mann sie nicht doch noch ertappte, und bewegten sich so einen dunklen Korridor entlang, der sich nach unten zu winden schien, aber keine Stufen hatte.
Der Geruch, der zuerst modrig und schwer von Kerzenwachs gewesen war, veränderte sich, wurde natürlicher, aber auch widerlicher. Es roch nach Elend und verrottenden Knochen und Dionysos wappnete sich bereits davor, was sie sehen würden, wenn der Gentleman sein Ziel erreicht hatte.
Das Geräusch eines rostigen Schlüssels in einem alten Schloss schallte durch die Dunkelheit und der Mann musste Ian festhalten, damit dieser nicht voran rannte, denn sehen konnte der Jugendliche im Gegensatz zu Dionysos kaum etwas. Der Schein der Laterne war für den Jungen zu matt.
Emerard trat durch die massive Tür, die den Eindruck erweckte, bereits Jahrhunderte alt zu sein und zog sie hinter sich heran, doch sie fiel nicht zu und kurz darauf verstärkte sich der Lichtschimmer, der durch den Spalt in den Korridor fiel. Der Geruch von Wachs wurde wieder stärker, denn offenbar waren sehr viele Kerzen entzündet worden.
Dionysos legte den Zeigefinger an seine Lippen und deutete Ian an, ihm zu folgen. So merkwürdig die ganze Szenerie auch sein mochte, sollte sich herausstellen, dass der Gentleman hier unten in diesen muffigen Katakomben nur seine Puppensammlung verbarg, wollte Dionysos nicht derjenige sein, der gewaltsam in diese abstruse Situation einbrach. Sie mussten den zwielichtigen Hausbesitzer bei etwas ertappen, das verwerflich war, einen Beweis haben, dass er mit dem Verschwinden der Kinder zu tun hatte, sonst würde Ian keine Gewissheit haben und auch Dionysos bestrafte niemanden zu Unrecht.
Er trat an die schwere Tür und spähte durch den Spalt. Dahinter sah er in einen großen, offenbar runden Raum, der ringsherum durch offenes Feuer erhellt wurde, als hätte man eine Rinne eingebaut und mit Lampenöl gefüllt, das man nur entzünden brauchte. Der anfängliche Geruch der Kerzen, von denen einige in Haltern an der Wand flackerten, wurde vollkommen von diesem überdeckt. Beinahe wirkte die Kammer wie ein Schrein und ein unangenehmes Gefühl breitete sich in dem heimlichen Beobachter aus, während Ian gar nicht verstand, was er da eigentlich vor sich sah.
Dionysos hingegen hatte so etwas schon einmal gesehen, in London, in den geheimen Katakomben eines okkulten Kults, der sich zu einer Untersparte der Freimaurer gezählt hatte, doch anstatt deren meist harmlose Rituale abzuhalten, zu denen sich die Mitglieder freiwillig bereiterklärten, waren in diesem Zirkelhaus satanische Akte vollzogen worden, voller Sex, Blut und Tod, erbracht mittels möglichst unschuldiger und junger Opfer.
Heiß wallte es in dem Mann hoch, als er etwas weiter in den Raum sah, in dessen Mitte ein von vier massiven und mannshohen Kerzenständern eingerahmter Altar stand, auf dem ein blutrotes Tuch aus schwerem Samt im Licht des Feuers schimmerte. Emerard konnte Dionysos nurmehr an seinem nach Krankheit riechenden Körper ausmachen, doch der Geruch verstärkte sich, vermischte sich mit Lust, Schweiß und dem schweren Gestank von Erwartung.
»Was geht denn da vor sich?«, murmelte Ian flüsternd und der Angesprochene brummte.
»Etwas Gottloses.«
Das leise Quietschen metallischer Scharniere und ein darauffolgendes Wimmern ließ den Jugendlichen fast die Türe aufreißen, doch Dionysos hielt ihn zurück.
»Du kannst doch nicht ...«
»Sei’ still!«, zischte der Mann und öffnete die Tür leicht nur ein kleines Stück weiter. Er konnte sehen, wie der Gentleman das kostbare Altartuch sorgfältig zusammenlegte und erkannte das Emblem, das jemand mit viel Aufwand darauf gestickt hatte - einen Ziegenkopf in einem Pentagramm, natürlich. Warum konnten sich die gelangweilten Herren der feinen Gesellschaft nicht ein Hobby wie Angeln suchen, warum musste es immer Teufelsanbetung sein?
Emerard küsste den Stoff und legte ihn in eine kleine Truhe, bevor er sich zur Seite beugte und nach etwas anderem griff, etwas, das Geräusche machen konnte, doch den Eindruck erweckte, nicht ganz bei Verstand zu sein.
Das Kind, das der massige Mann auf dem Schrein legte, mochte um die neun oder zehn Jahre alt sein und der Kittel, den es trug, war zuletzt vor einem Jahr sauber gewesen. Es sabberte und starrte blind an die hohe Decke, während der Feuerschein in den feuchten, aber leeren Augen tanzte. Speichel rann ihm über das Kinn.
»Was ist mit ihm? Du musst doch etwas tun?!« Ian, der noch immer von Dionysos’ festem Griff daran gehindert wurde, in den Raum zu stürmen, hatte einen entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht, doch der Mann, der ihn hielt, schüttelte nur den Kopf.
»Dem Kind kann man nicht helfen, es ist nicht mehr bei Sinnen. Ist es eine der Waisen?«
»Ich ... ich glaube schon, es ist nicht hell genug. Aber das spielt doch keine Rolle, du kannst doch nicht zulassen, was er da ... was er da tut, um Himmels willen, was tut er?«
Dionysos wendete sich von dem Jungen ab und blickte wieder auf die schauderhafte Szenerie. Während Ian seinen Begleiter abgelenkt hatte, hatte der Gentleman sich seines Nachthemdes entledigt und sich vor dem Altar aufgebaut, die Augen lüstern auf dem wehrlosen Kind, das nicht einmal seinen eigenen Tod noch bewusst erleben würde. Schweiß glänzte auf der käsig wirkenden Haut des Mannes und während die Finger der einen Hand über sich glitten, griff die andere nach einem reich verzierten Opferdolch, wie ihn Dionysos schon oft in den Griffeln dieser Wichtigtuer gesehen hatte, die sich mit Hexenutensilien schmückten, ohne zu wissen, wofür diese tatsächlich gebraucht wurden.
»Jetzt tu’ doch was, oder ich werde es!«, knurrte Ian und zog an seinem Arm, der fest umklammert war von den Fingern des anderen Mannes.
»Heil dir, Satan«, schnarrte da der Gentleman und zerschnitt das schmutzige Gewand des Kindes, »Ich bringe dir dieses Opfer dar, ein umnachtetes Kind, ganz in deinem Sinne rein. Ich vergieße sein Blut für dich, um es zu trinken, im Austausch für Gesundheit und Kraft.«
Dionysos prustete los und das Geräusch war offenbar zu laut, denn der Herr am Altar zuckte sichtbar, sein Gesicht verlor die verschwitzte rötliche Färbung und er sah sich erschrocken um.
»Showtime«, knurrte Dionysos, ließ Ian los und erhob sich, um endlich den inzwischen ziemlich warmen Raum zu betreten. Während der Junge sich hektisch umsah, hatte der Mann nur Augen für Emerard, der sich nicht von der Stelle rührte, sondern starr auf den Eindringling blickte.
»Wer seid ihr?«, japste er und kniff die Augen zusammen, die offenbar nicht sehr gut waren.
»Ich bin ja ungern der Überbringer schlechter Nachrichten, Sir, aber ich fürchte, so wird dieser Deal nicht laufen.« Dionysos lief den Gang in den runden Raum hinunter. Es waren rings um den Altar tatsächlich Bänke errichtet worden, damit andere Perverse den abartigen Ritualen beiwohnen konnten.
»Wer sind Sie?«, presste der Gentleman hervor und ließ die Augen über den hochgewachsenen Fremden wandern, der ihn hochmütig betrachtete und die Arme vor der Brust verschränkte.
»Aber mein lieber Cornelius«, entgegnete Dionysos, dem gerade eine Idee gekommen war, »erst rufst du mich an und dann willst du nicht wissen, wer ich bin?« Er hob leicht die Hand und ließ das Feuer, das den Raum ausleuchtete, für einen Moment erlöschen, bevor es wieder aufloderte. Das rote Leuchten in den Augen Dionysos’ konnte nur der schwitzende Mann sehen, doch nicht Ian, der noch an der Tür stand und nicht wusste, was geschah.
Das letzte bisschen Farbe wich aus dem Gesicht Emerards und er beeilte sich, den Kopf zu senken. Es war deutlich, dass etwas ihn zutiefst erschüttert hatte, wie es immer geschah, wenn angeblich Gläubige auf einen vermeintlichen Beweis stießen, dass die furchterregende Gottheit, derer sie huldigten, tatsächlich existierte - oder jemand mit überzeugenden schauspielerischen Fähigkeiten ihnen dies vormachte. Dann waren sie voller Angst und Reue wegen der Spielchen und leichtfertigen Wünsche, die sie geäußert hatten.
»Mein ... mein dunkler Fürst!«, presste der Mann hervor und zitterte am ganzen Leib.
»Du willst mir dieses Kind geben, im Austausch für deinen von Pestilenz verdorbenen Wanst, ist das richtig?«
»Ja, ja, mein Herr. Es ist jung und gesund, wie Ihr es bevorzugt.«
Dionysos ließ seine Augen weiterhin rötlich schimmern und das Lächeln, das sich in seinem Gesicht zeigte, war furchterregend. Es schien, dass das Licht in dem Raum dunkler geworden war, wodurch die Schatten tiefer und länger wurden und nun unheilvoll auf dem Gesicht des dunklen Mannes tanzten. Er wirkte durch und durch wie der Teufel, für den ihn viele hielten. Und solange dieser dreckige kleine Scheißhaufen Emerard das dachte, so lange hatte Dionysos leichtes Spiel mit seiner Psyche. Er würde ihm Angst machen, richtige Angst, bevor er ihn in die Hölle zu seinem Herrn schickte!
Langsam schritt Dionysos auf den Altar zu und legte dem Kind die Hand auf die Stirn. Es wimmerte wie ein Kätzchen, zeigte aber nicht die Spur von Angst oder Sinn.
»Du bist ein Narr, Cornelius. Dieses Kind ist wertlos. Es ist nicht bei Verstand, es erbringt mir nicht den Respekt, den ich verdiene, es fürchtet sich nicht!« Grollen schob sich in der Kehle des Mannes nach oben und Emerard zuckte zusammen wie ein geprügelter Hund.
»Aber du empfindest Furcht«, Dionysos leckte sich über die Lippen.
»Mein ... mein dunkler Fürst, ich habe ... noch mehr potenzielle Opfergaben für Euch. Bitte, wählt eine aus. Wie ... wie wäre es mit dem Jungen da?« Der Gentleman zeigte auf Ian, der noch immer da stand und die Szenerie entgeistert betrachtete. Er wusste nicht, was sein gespenstischer Gefährte für ein Spiel mit dem Schweinehund abzog, doch auch er verspürte Angst. Dieser Dionysos war niemals ein normaler Mensch! War er vielleicht tatsächlich der Teufel, wie er ihm gesagt hatte? Oder ein besonders unheimlicher Engel? Ian hatte nie daran geglaubt, dass Gottes Heerscharen klein, niedlich und harmlos waren.
»Der Junge ist rein, der interessiert mich nicht im Geringsten, Cornelius. Weißt du es denn nicht? Ich bin ein Sündenfresser. Ich liebe die verdorbenen, die stinkenden Seelen. Die, die es verdient haben, in der Glorie meines Feuers zu brennen und mir zu dienen, die verlogenen, fetten, dahinsiechenden Seelen perverser Kinderficker wie dir. Du bist es, den ich will. Bist du nicht gewillt, dich mir zu opfern? Ist nicht das die größte Ehre für dich? Ich komme dich persönlich holen.«
»H-Herr«, stotterte Emerard und fiel auf die Knie. Sein ganzer Körper zitterte unansehnlich und der Schweiß tropfte ihm vom Kinn, ob durch Angst oder weil der Raum inzwischen wirklich heiß wie die Hölle war, war schwer zu sagen. Dionysos war nur froh, dass ihm die Temperaturen nicht so viel ausmachten, auch wenn er sie nicht gerade mochte. Das würde seiner Teufelsdarbietung nur schaden.
»Ich gebe dir einen Vorgeschmack, Cornelius. Für deine Frechheit, mir dieses minderwertige Opfer anzubieten!« Der Mann ging auf den Knienden zu, legte ihm die Hand auf die Stirn und hob dessen Kopf etwas an, damit sie einander ins Gesicht sehen konnten. Das Rot in den Augen Dionysos’ wurde brennend und in der nächsten Sekunde sackte Cornelius Emerard wie ein nasser Sack zusammen, fing an zu zucken, zu sabbern und zu schreien.
»Was ... was hast du getan?« Ian näherte sich nur zögerlich, denn Dionysos machte ihm Angst.
»Er sieht einen Vorgeschmack auf die Zukunft«, knurrte der Mann, spuckte den sauren Geschmack in seinem Mund aus und wandte sich dem Jugendlichen zu. Es war keine Spur seines dämonischen Gesichts mehr zu sehen und auch das Licht schien wieder heller geworden zu sein. Seufzend blickte Dionysos auf das Altarkind und sah sich dann um. An der einen Seite des runden Raumes war ein großer Käfig aufgebaut worden und darin hockten sie, bestimmt zwei Dutzend abgerissene Gestalten, gehalten wie Vieh, schmutzig, mit leeren Gesichtern, Becher und Brotreste lagen herum und keines der Kleinen schien noch bei Verstand zu sein.
»Was hat er mit ihnen gemacht?« Ian war den Tränen nahe, denn er erkannte viele der Bewohner aus dem Waisenhaus, die bereits länger vermisst wurden.
Dionysos trat wieder an das Kind auf dem Altar heran und fasste es sanft am Kinn, um es genauer anzusehen.
»Hier, das hat er mit ihnen gemacht.« Er deutete auf die feinen, frisch verheilten und noch rosigen Narben an den Schläfen des kleinen Jungen. »Er hat ihnen etwas ins Hirn gerammt und sie dadurch doof werden lassen. Arme Kinder, denen ist nicht mehr zu helfen, fürchte ich. Die wissen wahrscheinlich nicht einmal mehr, wer sie sind.« Dionysos strich dem Kleinen überraschend sanft über die Wange, was Ian für einen Moment verwunderte. Der Mann hatte nicht einen Funken Mitgefühl gezeigt, als er Emerard wie auch immer mit einer furchtbaren Wahnvorstellung belegt hatte, die diesen noch immer schreien ließ, doch nahm sich einen Moment für ein verstümmeltes, geisteskrankes Kind?
»Das Menschlichste wäre, sie alle zu töten«, murmelte er und der Jugendliche schnappte nach Luft.
»Was?«
»Sieh’ den Tatsachen ins Auge, Junge. Niemand wird sich ihrer annehmen, kein Waisenhaus, nicht einmal die Kirche wird sie haben wollen.«
»Aber ... das kannst du doch nicht ...«
»Sei’ still. Ist deine Freundin hier?«
Ian presste die Lippen zusammen und drehte sich zu dem Käfig um, doch in dem waren nur Kinder, das Älteste konnte höchstens Zwölf sein.
»Nein. Aber wo kann sie dann sein?«
»Der Scheißkerl hat sie vermutlich zu einer Hure gemacht«, brummte Dionysos und trat gegen Emerard, der sich noch immer wand und zuckte. »Wäre nicht das erste Mal, dass man Mädchen, die ein bisschen was hermachen, als Frischfleisch für Perverse benutzt, sie auf schwarzen Auktionen als Sklavinnen versteigert oder als ... Material für irgendwelche Mörder oder ‘Wissenschaftler’.«
»Nein, das darf nicht sein! Sie ...«
»Die Welt ist beschissen, Ian. Sie war es schon immer und sie wird es bleiben. Je eher du dir deine Märchenvorstellung abgewöhnst, desto besser.«
»Du bist ein gefühlloser Arsch!«
»Ich weiß. Ich habe es auf die harte Tour gelernt.« Dionysos warf dem Jungen einen kurzen Blick zu und brummte leise, als etwas seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er hatte bis eben angenommen, der miese Geruch in dem Altarraum käme von dem verdreckten Käfig und den schmutzigen Kindern, doch er entdeckte einen Durchgang hinter einem der schwarzen Vorhänge, mit denen man die steinernen Wände des runden Raumes geschmückt hatte. Mit geballten Fäusten ging er darauf zu, zog ihn zur Seite und ging ein paar Schritte in den Korridor hinein, der sich in einen kleinen stockfinsteren Raum öffnete. Das Licht aus dem angrenzenden Gewölbe reichte für jemanden mit seinen Augen gerade aus, um etwas zu erkennen und mit einem erschrockenen Aufheulen prallte er förmlich zurück, riss den Arm hoch und presste sich den Stoff seines Mantels auf Nase und Mund.
»Was ist?« Ian war am Eingang des Ganges erschienen, als Dionysos an ihm vorbeiging und die Laterne ergriff, die der Gentleman dabei gehabt hatte.
»Halt’ dir den Ärmel vors Gesicht, damit du nicht zu viel davon einatmest. Es ist ... ich bin nicht sicher, ob du das sehen solltest ...«
»Ich bin kein Kind!«
Der Mann nickte, hob die Lampe und betrat den Raum wieder, die Atemwege geschützt und mit Eiswasser in den Adern. Er konnte Ian neben sich hören, der heftig zu würgen begann und sich gleich darauf schwallartig erbrach.
Sie standen in einer Leichenkammer. Tote über Tote, in verschiedenen Stadien der Verwesung, manche bereits beinahe vollkommen skelettiert, andere so frisch, als hätten sie am Tag zuvor noch geatmet, einfach abgeladen wie Brennholz, aufeinander geschichtet und vergessen in dieser Hölle, die ihr Grab sein sollte.
Während Ian gequält und hustend sein Innerstes nach außen kehrte, was ohnehin nicht viel war, hob Dionysos die Laterne etwas mehr. Es stank bestialisch und Fliegen summten laut, als man sie in ihrer Ruhe störte.
Viele der Körper wiesen böse Schnittwunden auf, man hatte ihnen satanische Symbole in die Haut geritzt, teilweise Finger, Füße und Hände abgetrennt, manche hatten geöffnete Brustkörbe und Organe fehlten. Diese okkulten Satanskulte liebten es, die Herzen von Jungfrauen irgendeiner Ziegengottheit zu opfern oder sie zu essen, was ihnen perverses Vergnügen bereitete.
Der Mann musterte die Geschändeten, als ihm etwas auffiel, ein Hauch nur, der ihn stutzen ließ. Ungerührt von dem Ekel, der Ian fast umbrachte, ging er auf die Leichen zu und schob einige davon sacht mit seinem Stiefel beiseite. Dionysos wollte sie nicht zu fest anfassen, um nicht zu riskieren, dass das verwesende Fleisch auseinander riss und noch mehr Gestank freisetzte. Man konnte die Luft in dieser Kammer ohnehin schon fast nicht atmen.
Mit einem Seufzen blickte er in das Gesicht eines jungen Mädchens, das vielleicht zwei, maximal drei Wochen tot sein konnte. Der Körper hatte sich recht gut gehalten, sodass der Mann erkennen konnte, dass sie einst sehr hübsch gewesen war. An ihrem schmalen Handgelenk trug sie ein geflochtenes Armband, was das Einzige zu sein schien, das man ihr gelassen hatte, denn ihr magerer Körper steckte in einem blutgetränkten Hemd. Man hatte sie mit Messern traktiert, vermutlich war sie einfach verblutet.
»Ian?«
Der Junge näherte sich ihm zaghaft und machte keinen Ton, doch die Tränen, die über seine Wangen liefen, verrieten Dionysos, dass sie Maisie gefunden hatten. Er ging neben ihr in die Hocke und löste mit sanften Fingern das Armband, das den Geruch des Jungen an sich hatte. Sicher hatte er es für seine Freundin gemacht, wenn sie schon sonst nichts hatten.
»Behalt’ es und lass’ uns von hier verschwinden. Wir können niemandem in diesem Höllenschlund mehr helfen, den Lebenden nicht und den Toten schon gar nicht.«
»Ich will ihn tot sehen«, murmelte Ian, krallte seine Finger um Maisies Schmuckstück und zog die Nase hoch.
»Er ist bereits in der Hölle. Wir müssen nur noch das Feuer anzünden.«
»Nein, ich will, dass er es spürt! Dass er spürt, was mit ihm passiert, bevor er zurückkehrt an den Ort, den deine ... deine Magie ihm vorgaukelt. Ich will, dass er echten Schmerz fühlt, bevor er auf des Teufels Spieß landet!«
Dionysos setzte das verschlagene Lächeln auf und nickte. »Wie du möchtest. Komm’ hier heraus, bevor du erstickst.«
Ian wandte sich nach einem letzten leidvollen Blick ab und tobte aus der Kammer, hin zu Emerard, der keuchte und sich in seinem eigenen Dreck wand. Die Wahnvorstellung musste so real sein, dass er sich glattweg vollgepinkelt hatte.
»Hol’ ihn zurück! Ich will, dass er mir ins Gesicht sieht, wenn ich ihm seine dreckigen Eier zerquetsche.«
Dionysos nahm den kostbaren Opferdolch vom Altar, den Hexen ursprünglich dafür benutzt hatten, um zu bestimmten Mondphasen magische Kräuter zu ernten, und drehte ihn in seinen Fingern. Es spielte keine Rolle, dass diese Klinge eigentlich nicht zum Töten gedacht war, sie war scharf und der sich windende Schweinehund am Boden nicht mehr als ein mit Scheiße gefüllter Sack aus Haut. Der Dolch würde genügen. Der Mann drückte das kühle Metall in die zitternden Finger des Jungen, dessen Wangen gerötet waren und in dessen Augen noch immer die Tränen standen. Er hatte seinen Traum von der Zukunft verloren und das war ein harter Schlag.
»Tu’, was du zu tun bereit bist. Ich werde dich nicht aufhalten und ich werde dich nicht verurteilen.«
Ian packte die Klinge fester und Dionysos ging neben dem wahnhaften Mann in die Hocke, legte ihm die Hand auf die Stirn und im nächsten Moment schlug Emerard die Lider auf, zuckte heftig zurück und verkrampfte sich. Wie im Fieber sah er sich um und versuchte zu erfassen, wo er war. Er schrie auf, als er in die roten Augen des Mannes blickte, der sich über ihn gebeugt hatte.
Auch Ian sah das Glühen der Iriden, doch er hatte jede Furcht vor Dionysos verloren. Es war dem Jungen egal, ob er sich mit dem Teufel oder einem Dämon oder auch einem von Gottes Racheengeln verbündet hatte. Ian wollte nur noch Vergeltung üben für Maisie und all die Kinder, die er gekannt und die Emerard mit seinem Satanskult vernichtet hatte, weil er sein eigenes unwertes Leben damit zu verlängern versucht hatte.
»Willkommen zurück, Cornelius. Hat dir meine Sommerresidenz gefallen? Leider musste ich deinen Aufenthalt etwas verkürzen, um noch einige Dinge zu klären. Aber sei’ gewiss, du kehrst alsbald dahin zurück. Was sagst du?«
»Du ... wer bist du? Bist du wahrhaftig der Teufel?«
Dionysos lächelte, es wirkte fast milde. »Für den einen bin ich ein Engel«, er blickte kurz zu Ian, »und für den anderen - dich - bin ich der Teufel. Das kannst du sehen wie du willst, mein Freund. Fakt ist, du wirst heute Nacht deinem Herrn begegnen, wie auch immer du es drehst und wendest. Vielleicht ist der freundlicher zu dir, aber ...«, Dionysos’ Gesicht veränderte sich auf schauderhafte Weise, »die Hölle ist der Ort der Bestrafung. Das vergesst ihr alle zu gern, die ihr eure stinkenden Seelen dem Teufel anbietet.«
»Ich hab’ doch ... nichts getan ...«, stammelte der Mann am Boden und ließ erschöpft den Kopf sinken.
»Nichts GETAN?!«, schrie Ian, holte aus und trat ihm in die Weichteile. Emerard heulte auf und Dionysos machte einen Schritt zurück. Es war die Rache des Jungen, nicht seine.
»Du hast nichts getan? Wie nennst du das hier? Oder die Kammer da hinten? Du hast das Waisenhaus benutzt für dein Teufelswerk und willst nichts getan haben?« Der Jugendliche trat erneut zu. »Du hast meine Freunde getötet!« Noch ein Tritt. »Du wolltest mich von deinen Schlägern umbringen lassen, weil ich Fragen gestellt habe!« Ein weiterer Tritt. »Du hast uns hungern lassen und leben wie Vieh!« Ian schnaufte und spuckte auf den keuchenden Mann, der innerhalb weniger Sekunden vier harte Tritte in den Bauch und Genitalbereich hatte einstecken müssen. »Nicht er ist der Teufel! Du bist es! Und selbst diese Bezeichnung ist noch zu gut für dich!«
»Bitte ...«, röchelte Emerard und hob entwaffnend die Hände.
»Du kannst flehen bis die Hölle zufriert. Du hast Maisie getötet! Ich würde dir nicht helfen, selbst wenn du in Flammen stehen würdest und ich die Möglichkeit hätte, das Feuer zu löschen.« Der Junge sah verbissen auf den Dolch in seiner Hand und hob ihn an. Der Gentleman riss die Augen auf, bevor er sie fest zusammenkniff und fing zu wimmern an, hässlich und erbärmlich, zitternd wie eine Qualle. Er erwartete jede Sekunde, dass die blitzende bläuliche Klinge auf ihn niederging, doch das geschah nicht.
Zögerlich öffnete der Mann die Lider wieder und auch Dionysos betrachtete den Jugendlichen, der auf den Dolch starrte und dessen Wangen voller Tränen waren. Ian war wütend und bebte sichtbar, der Kampf in ihm spiegelte sich auf seinem Gesicht wider, doch schließlich ließ er die Klinge fallen und sank schluchzend auf die Knie. Der Jugendliche war nicht wie Cornelius Emerard, er war kein Mörder und würde für diesen Abschaum auch nicht zu einem werden.