Zwei Tage, die es unermüdlich und beinahe ohne Unterbrechung geregnet hatte, vergingen, in denen der Mann die meiste Zeit sein Zimmer im Gasthaus nicht verlassen hatte. Er hatte keinen Nerv für menschliche Gesellschaft und außerdem noch nicht ausgekundschaftet, womit er sich in den nächsten Wochen beschäftigen würde. Irland bot viele suspekte Individuen, die einzufangen ihm vielleicht etwas Geld in die Taschen spülen würde. Doch vielmehr gelüstete es ihm selbst nach etwas Lasterhaftigkeit. Sein letzter gepflegter Rausch schien Jahre her zu sein.
Es war bereits Abend und das unermüdliche Pladdern hatte etwas an Stärke verloren, als ein Tumult seine Aufmerksamkeit erweckte. Murrend, weil er es sich gerade mit einem zerfledderten Buch, das er in einer der Kommodenschubladen gefunden hatte, gemütlich gemacht hatte, warf er die Decke von sich und öffnete das Fenster. Wurde das zur Gewohnheit, dass er die Streitigkeiten der Penner und einfachen Arbeiter hier aus erster Reihe miterlebte? Vielleicht sollte er sich ein netteres Gasthaus suchen, in einer ruhigeren Gegend, wo die Menschen besser rochen.
»Verschwinde, wir wollen hier keine Bettler!«, hörte er den dicken Wirt keifen, der das Etablissement führte, das der Mann gegenwärtig sein Zuhause nannte.
»Aber ich muss zu einem Ihrer Gäste. Bitte, Sir!«
»Hau’ ab, oder du lernst meinen Knüppel kennen. So weit kommt es noch, dass dreckige Straßenratten meine Gäste belästigen!«
Der Mann am Fenster horchte auf und war im nächsten Moment angezogen, stieg in seine Stiefel und sprang, wie schon zwei Nächte zuvor, einfach in die schmale Gasse, wo er nahezu lautlos aufkam. An der Hausecke linste er herum und konnte den vierschrötigen Mann mit der Schürze sehen, dessen Walrossbart wütig zitterte und er erkannte auch den Jungen von neulich wieder. Nur, dass dieser jetzt anders aussah.
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Der Bursche, Ian, wandte sich schließlich ab und ließ seinen Blick an der Fassade des Hauses hinauf wandern. Hoffnungslosigkeit zeigte sich in seinem Gesicht. Vermutlich war der Mann gar nicht mehr hier.
Weil Ian keine Lust hatte, von dem fetten Wirt verprügelt zu werden, machte er ein paar Schritte auf die Straße zurück, wo nur wenige Kutschen unterwegs waren und das schummrige Licht der Laternen alles verwischte. Verzweiflung und Schmerz tobten in seinem Leib.
»Hey!«, hörte er es rufen und dachte erst nicht, dass er gemeint war, denn Schreien, Pöbeln und Keifen war in diesem Teil der Stadt normal.
»Ian!«, ertönte es erneut und erst da hob der Junge den Kopf und sah sich suchend um, um den Mann, den er hatte sprechen wollen, in der Gasse neben einigen Kisten mit Abfällen stehen zu sehen. Dieses Mal hatte er seinen Hut nicht auf, denn der Regen war nicht so stark wie neulich und sein grimmiges Gesicht bestätigte das Gefühl, das Ian gehabt hatte, als er ihm zwei Nächte zuvor auf der Straße gegenüber gestanden hatte. Die Präsenz war enorm.
Scheu, doch mit einem Ausdruck von Erleichterung, ging der Junge auf ihn zu und knetete die Mütze, die er in den Händen hielt.
»Du siehst furchtbar aus«, war das Erste, das der Mann sagte. Sein strenger Blick, überschattet von markanten dunklen Augenbrauen, examinierte Ian wie auf einem Seziertisch. Der Körper und auch das Gesicht des Burschen waren schmutzig, zerlumpt und blaue Flecken prangten auf seiner Haut.
»Ich ...«
»Lass’ mich raten, du brauchst nun doch meine Hilfe? Egal zu welchem Preis?«
»Ich weiß nicht, wer du bist und warum du mir helfen willst, aber ...« Für einen Moment schloss Ian die Augen und taumelte, was den Mann veranlasste, ihn an den Schultern zu packen und auf eine Kiste zu drücken, damit er sich setzte. Erst da fiel auf, dass der Bursche eine unschöne Wunde am Kopf hatte, die sein schmutzig-blondes Haar verklebte. Der Geruch des Regens und des Mists in der Straße hatte den des Blutes vollkommen überdeckt.
»Ich ... ja, ich brauche deine Hilfe. Es kann so nicht weiter gehen und niemanden kümmert es. Mir ist egal, was du dafür forderst ...«
»Mach’ dich nicht lächerlich, wer hätte denn Interesse an so einem mageren Hering wie dir? Du bist doch höchstens vierzehn!«, brummte der Mann und starrte Ian wieder ins Gesicht, die dunklen Augen schwarz in der abendlichen Dunkelheit. »Wer hat dich verletzt?«
»Ich bin bereits siebzehn«, murmelte der Jugendliche. »Man gibt uns im Waisenhaus nicht besonders viel zu essen ...«
»Beantworte meine Frage, dann kommen wir zum Geschäft.«
»Eine der Wachen im Heim. Ich habe ... mich beschwert. Unangenehme Fragen gestellt und da ... wollte man mich zum Schweigen bringen, glaube ich. Mir tut alles weh«, flüsterte Ian und lehnte sich erschöpft gegen die Wand. Er war blass und der Mann konnte deutlich wahrnehmen, dass der Versuch, den Bengel mundtot zu machen, beinahe gelungen wäre. Er war verletzt, innerlich.
»Warte hier einen Moment, ich bin gleich zurück.«
Tot nutzte Ian ihm nichts und sterben würde er, wenn sich niemand seiner Verletzungen annahm.
Ohne Schwierigkeiten gelangte der Mann durch die Seitentür, die eigentlich fest verriegelt war, in das Gasthaus und kehrte nach zwei Minuten mit einem kleinen Becher zurück, der mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt war.
»Trink’ das«, forderte er von dem Jungen und hielt ihm das Gefäß hin.
»Was ist das, Branntwein?«
»Davon würde dein Körper sich nicht besser fühlen. Trink’ einfach und dann komm’ zur Sache.«
Ian bemerkte nur unterschwellig, während er den Becher an seinen Mund führte, wie der Fremde ein kleines Messer in seiner Manteltasche verschwinden ließ und sich über das Handgelenk rieb.
Der Inhalt des Gefäßes war warm, sonderbar süß und der Junge merkte sofort, wie der Schmerz, der seinen Brustkorb beherrschte, sich verflüchtigte.
»Hm, was immer das ist, es ist der Wahnsinn«, murmelte der Junge, trank alles aus und lehnte sich dann wieder an. Er seufzte, als das unangenehme Stechen beim Luftholen nachließ und das schmerzhafte Pochen in seinem Kopf sich in Luft auflöste. »Du bist ein Zauberer. Oder bist du ein Arzt?«
»Nein, mitnichten. Keins davon«, knurrte der Mann und entspannte sich, denn mit den Verletzungen verschwand auch der Blutgeruch, der von Ian ausgegangen war. »Also? Schieß’ los, wir werden nicht jünger.«
»Ich lebe im Waisenhaus Our sacred lady ein bisschen außerhalb an den Bahnschienen. Früher, als es noch von der Kirche geführt wurde, war es zwar nicht perfekt, aber es war in Ordnung. Wir hatten nicht viel, aber bekamen zu essen, eine einfache Schulbildung, um irgendwann allein zurechtzukommen und wurden nicht geschlagen.« Ian blickte an die Wand gegenüber, ohne sie wirklich zu sehen. »Vor ... hm, zwei Jahren ungefähr, hat ein Privatmann es übernommen. Irgend’so ein feiner Pinkel, der sich wahrscheinlich auf Wohltätigkeit einen runterholt. Und seitdem geht es bergab. Das Haus verkommt, das Dach ist undicht, ständig ist irgendjemand krank und keiner kümmert sich. Früher war es sauber und es gab kaum Ungeziefer, heute ist es alles ...«, der Junge schüttelte sich. »Die Betreuer, die der neue Besitzer mitgebracht hat, sind eher Kerkerwachen, die ohne zu fragen zuschlagen, wenn man in ihren Augen etwas falsch gemacht hat. Wir hungern. Aber das ist noch nicht das, was mir so zu schaffen macht.«
»Was kann denn schlimmer sein? Das Heim klingt für mich nach einem Arbeitshaus.«
»Arbeiten sind wir gewöhnt. Unter der Schirmherrschaft der Kirche haben wir dort Spielzeug hergestellt, um etwas für das Waisenhaus zu verdienen. Davon wurde dann Essen gekauft oder zu Weihnachten mal ein richtiger Baum oder ein paar einfache Geschenke für die Kleineren von uns. Seit der Übernahme geschieht das nicht mehr. Wir bekommen Brühe und Brot, jeden Tag. Festtage gibt es nicht und zum Arbeiten werden die, die kräftig genug sind, jetzt abgeholt und irgendwohin geschafft. Sie reden nicht darüber und die anderen dürfen nicht fragen, sonst setzt es Prügel. Manchmal ... kommen Leute zu uns und dann ... verschwinden Kinder.«
Der Mann hörte Ian schweigend zu und zog die Augenbrauen kraus. Zwielichtige Gestalten, die sich unter dem Deckmantel ihres Standes und dem Anschein von Wohltätigkeit gerade die zur Beute machten, die sich nicht wehren konnten und um die sich niemand kümmerte, waren ihm nur zu vertraut, denn die gab es überall, nicht nur in Irland. Doch er wollte den Jungen zu Ende reden lassen, bevor er sich ein Bild machte.
»Und die Chance, dass die einfach abgehauen sind, besteht nicht? Oder adoptiert?«
»Maisie wäre nie einfach abgehauen«, murmelte der Junge und blinzelte, bevor er die Nase hochzog. »Nein. Die, die verschwunden sind, waren noch viel zu jung, Adoptionswillige kommen schon nicht mehr, seit die Kirche das Heim abgetreten hat und andere ... hatten wieder andere Gründe, nicht abzuhauen. Nein, ich glaube das nicht. Ich glaube, da geht etwas viel Schlimmeres vor. Der Gentleman, dem wir nun gehören, residiert in einem schicken Anwesen auf dem Grundstück des Waisenhauses und es ist verboten, sich dem Gebäude zu nähern. Vielleicht leide ich unter Verfolgungswahn, aber ich habe ein mieses Gefühl dabei. Es sind in den zwei Jahren zu viele von uns einfach verschwunden oder haben sich dermaßen verändert, dass man sie nicht wiedererkennt. Ich glaube einfach nicht, dass ...«, Ian brach ab und schüttelte den Kopf. »Jetzt merke ich auch, wie verrückt ich mich anhöre. Es tut mir leid. Vergiss’ es. Danke für die Medizin.« Der Jugendliche wollte aufstehen und sich abwenden, als der Mann ihn am Arm festhielt.
»Was, du verschwendest meine Zeit und willst jetzt einfach verschwinden?«
»Ich sagte schon, dass es mir leidtut!«
»Hör’ zu, Junge, jetzt, wo ich schon mal davon weiß, lass’ mich dir helfen, in Ordnung?«
»Wer denkst du, wer du bist, dass du dich gegen einen reichen Gentleman und seine feinen Freunde durchsetzen könntest? Die spucken doch auf uns.«
Die markanten Augenbrauen zogen sich zusammen, als der Mann ein Lächeln auflegte, das ihn wie einen gefährlichen großen Vogel aussehen ließ. Ian zuckte leicht zurück und der Fremde ließ ihn los, bevor er sich aufrichtete.
»Man nennt mich Dionysos. Ich war früher genau wie du, doch die Zeiten, in denen ich andere über meinen Wert habe entscheiden lassen, habe ich hinter mir gelassen. Wenn dir jetzt einer helfen kann, dann ich. Du kannst mir vertrauen. Ich halte meine Versprechen.«
»Jetzt weiß ich, dass du verrückt bist. Nur Irre geben sich selbst die Namen heidnischer Götter.«
»Manche nennen es verrückt, ich nenne es zweckorientiert. Ich bin bei klarem Verstand, du kannst dir sicher sein. Zeig’ mir dieses Waisenhaus und lass’ uns ein paar Geheimnissen auf die Spur gehen. Das rettet mich vor der unsäglichen Langeweile!«