»Wie hast du den Weg von hier bis in die Stadt geschafft, nachdem sie dich so zusammengeschlagen haben?« Dionysos betrachtete den Jungen mit hochgezogener Augenbraue, als sie vor dem Tor standen, hinter dem im Dunst der jungen Nacht ein trostlos aussehendes Gebäude aufragte. Sie waren noch immer sichtbar im Siedlungsraum Dublins, doch die Häuser waren einfacher geworden. Man konnte bereits sehen, wie sehr sich die Stadt ausgebreitet hatte. Das Waisenhaus hatte sicher einmal einsam auf der Wiese gestanden. Bevor die Eisenbahn gebaut worden war und die einfachen Arbeiterviertel immer weiter angewachsen waren.
»Weiß nicht, Gewohnheit? Ich hab’ gar nicht gemerkt, wie mies es mir ging, bis ich da war. Mir kommt der Weg nicht so weit vor, ich geh’ ihn ja täglich. Nur weiter in der Stadt kann ich Arbeit für den Tag finden. Ich lass’ mich nicht in einem Steinbruch verheizen, wenn ich auch anders was verdienen kann.«
»Ist es das, was die Kinder hier jetzt zu tun bekommen? Fronarbeit?«
Ian zuckte mit den schmalen Schultern. »Hab’ ja gesagt, die Leute hier behandeln uns wie Kriminelle und führen sich auf wie Gefängniswärter. Ist kein Leben mehr.«
»Warum bist du noch da? Du bist bereits ein Mann, alt genug, um wegzugehen.«
»Ich kann nicht gehen, bevor ich nicht weiß, was ...«, Ian ballte die Hände zu Fäusten.
»Maisie? Du hast vorhin von ihr gesprochen. Wer ist sie? Deine Schwester?«
Der Bursche schüttelte den Kopf und der Mann konnte trotz der matten Dunkelheit, die nur durch den Mond erhellt wurde, erkennen, dass sich seine Wangen färbten.
»So, so, also deine Freundin«, schlussfolgerte Dionysos mit einem Schmunzeln.
»Nicht so! Ich habe nie etwas ... ich meine ... ich«, Ian stotterte und seufzte schließlich. »Ich ... würde sie gern heiraten. Doch sie ist verschwunden, seit inzwischen einem Monat. Sie wäre nie gegangen! Sie hat hier nämlich einen kleinen Bruder. Und ... na ja, mich. Ich denke zumindest, dass sie ... mich auch mag.«
Der Mann ließ seinen Blick über das Gebäude wandern, dessen Fenster alle dunkel waren. Es ging inzwischen auf Mitternacht zu und die Bewohner lagen alle längst in ihren Betten. Dionysos wollte dem Jungen keine falschen Hoffnungen machen, doch er hatte längst einen Verdacht, was es sein könnte, das die jungen Leute in diesem Waisenhaus so gravierend veränderte oder ihr Verschwinden herbeiführte. Elternlose Kinder waren ein zu leichtes Ziel, ob für menschliche Beutefänger oder übernatürliche wie ihn selbst, denn niemand fragte nach, wenn sie verschwanden und keiner fühlte sich schuldig, wenn ihnen etwas Abscheuliches zustieß. Dionysos kümmerten der Niedergang und das Elend der meisten Menschen wenig, doch bei Kindern konnte er nicht einfach wegsehen.
Ohne Zögern öffnete er das schmiedeeiserne Tor, das leise quietschte, und betrat den Grund des Waisenhauses. Der ungepflegte Rasen passte perfekt zu der abgeplatzt aussehenden Fassade des Gebäudes und das, was einst einmal ein Spielplatz für die Kinder gewesen sein musste, wirkte in der grauen Dunkelheit trostlos. Überhaupt schien alles den Anschein von Sorgfalt eingebüßt zu haben, auch wenn man die Spuren des einstigen Erscheinens noch hier und da sehen konnte.
»Nettes Plätzchen - für einen Schauerroman«, knurrte der Mann und schloss die Augen. Er horchte auf Ungewöhnliches, während Ian neben ihm stand und ihn verwundert ansah. Dieser Kerl, der sich selbst Dionysos nannte, war wirklich merkwürdig.
»Was tust du?«, flüsterte der Junge.
Er traute sich nicht, lauter in die Konzentration des Mannes einzudringen, der tatsächlich für einen Moment unwillig zuckte und die Stirn in Falten legte, bevor er die dunklen Augen wieder öffnete. Das Licht des Mondes brach sich unheimlich darin und Ian glaubte, einen vagen roten Schimmer in ihnen zu sehen, doch schob es auf seine Einbildung. Woher sollte sich denn in der Nacht etwas Rotes in den Augen widerspiegeln?
»Da drin sind mindestens drei Kinder, die schwindsüchtig sind, einer der Wachen hat ein Verdauungsproblem und ihr habt eine Mäuseplage im Gebälk«, brummte Dionysos. Sein Blick wanderte von dem vernachlässigten Grund zu dem Kiesweg, der ihn durchzog und zu einer halbhohen Mauer führte, an deren oberen Ende man einen Eisenzaun eingezogen hatte, dessen Spitzen scharf nach oben zuliefen und matt im Mondlicht schimmerten. Der Mann bewegte sich darauf zu, während Ian noch immer irritiert dastand und ihm schließlich nachlief.
»Woher weißt du das?«, zischte der Junge.
»Was?«
»Das mit den kranken Kindern und dem Wächter? Oder die Mäuse? Es stimmt, es raschelt in den Wänden.«
»Ich hab’ es gehört«, antwortete Dionysos und hielt, etwas verborgen hinter einem alten und knorrigen Baum, an, der an das separierte Grundstück angrenzte. Die Regenwolken hatten sich vollkommen verzogen und einen sternenklaren Himmel hinterlassen, der das Mondlicht ungehindert freigab. Alles war in silbernen Schein getaucht und der Mann wollte verhindern, dass er und der Junge zufällig entdeckt wurden, falls jemand aus einem der Fenster sehen sollte.
»Gehört?«
Dionysos nickte und zog Ian in den Schatten des Baumes, bevor er über die Mauer blickte und das kleine, aber sichtbar brandneue Herrenhaus betrachtete. Offenbar hatte der Besitzer es errichten lassen, nachdem er das Grundstück erworben hatte und sich dabei nicht lumpen lassen. Was dem einen Gebäude an Ordnung fehlte, besaß dieses im Übermaß. Der Rasen war üppig, die Bäume gestutzt und die Fassade makellos. Doch niemand, der es sich leisten konnte, würde so ein verwahrlostes Stück Land kaufen, wenn er nicht einen Sinn dahinter sehen würde.
»Warst du schon einmal in diesem Haus?«
»Nein. Ich finde es unheimlich.«
Der Mann brummte wie zur Bestätigung. Es stimmte, irgendwas an diesem Gebäude war nicht koscher. Obwohl es ordentlich und bei Tage sicher auch hübsch anzusehen war, erschien es ihm, als läge ein Pesthauch darauf, wie eine böse Aura, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
»Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu«, murmelte er.
»Ich bin nicht sicher, ob ich wissen will, woher du diese Sachen weißt ...«, Ian sah Dionysos von der Seite an und sein Gesicht zeigte deutlich die Irritation.
»Wahrscheinlich nicht, wenn du nicht hinterher überall Monster sehen möchtest«, murmelte der und schloss wieder die Augen. Es dauerte nur kurz, bis er den Mund verzog und ein unbestimmtes Geräusch machte. »Es stinkt.«
Er huschte an der Mauer entlang und überwand geschickt das niedrige Tor, das den Waisenhausgrund von dem Garten des Herrenhauses trennte. Ian folgte ihm und im Schutz der Bäume und hübsch gestutzten Büsche näherten sie sich dem Gebäude.
»Ich dachte, du willst im Heim nach dem Rechten sehen?« Der Junge zitterte vor Neugier und auch etwas Furcht.
»Bis auf die Mäuse und die schwelende Tuberkulose ist da nichts Ungewöhnliches im Gange. Da braucht es einen Kammerjäger und einen Arzt. Hier jedoch ist das anders ... irgendetwas ist an diesem Ort, aber ich kann nicht genau sagen ... ich höre nichts. Nur gedämpft, könnte auch Einbildung sein. Aber dieser Geruch ... über dem ganzen Haus hängt etwas, das wie die Hölle stinkt.«
»Du ... bist nicht wirklich der Teufel, oder?«
Dionysos warf dem Jugendlichen einen Seitenblick zu, zusammen mit einem feinen Lächeln, das kaum über seine Mundwinkel hinauskam. »Aber nahe dran. Bleib’ hier.« Er schlich sich weiter und blieb an der Haustür stehen, die eigentlich eine natürliche Barriere bildete, die er nicht überschreiten konnte, solange ihn der Hausbesitzer nicht hereinbat, doch das schwache Lächeln vertiefte sich zu einem diabolischen Grinsen, als er die geschnitzten Worte las, die in den Rahmen der Türe geschnitzt worden waren. Ein einfaches lateinisches Sprüchlein, das die Schranke einriss, die Dionysos gezwungen hätte, draußen zu bleiben. Die Menschen waren so dumm und wussten gar nicht, welche Sicherheit sie herschenkten durch so etwas Profanes wie ein Willkommen. Jahrhundertealtes Wissen um Bann- und Schutzzauber war verloren gegangen, doch der Mann konnte nicht behaupten, dass er dies bedauerte. So machten sie es ihm doch viel einfacher.
Er hob die Hand und als es klickte, schwang die Tür mit einem leisen Knarren nach innen.
»Du bist doch ein Zauberer!«, zischte Ian, der sich herangeschlichen hatte und ihn mit großen Augen ansah.
»Es ist besser, wenn du nicht zu viel über mich weißt. Sonst muss ich dich vielleicht am Ende umbringen und dann wird nichts aus deiner Traumhochzeit mit deinem Mädchen«, murmelte Dionysos und lautlos betraten sie das Haus.
»Gott, schau’ dir das an! Wir haben drüben Möbel, die selbst gezimmert sind.«
»Wir sind nicht hier, um die Einrichtung zu bewundern, Ian. Sei’ leise.« Doch es stimmte, das kleine Herrenhaus war exquisit und sehr teuer eingerichtet, nicht ungewöhnlich für einen Gentleman der Oberschicht, aber etwas unangenehm, wenn man bedachte, in welchen Verhältnissen dieser Mann die Kinder, die unter seinem Schutz standen, leben ließ.
Ian zuckte zusammen, so sehr, dass Dionysos es fast körperlich spüren konnte, als eine Tür sich öffnete und ein junges Mädchen, zweifellos eine Magd, aus einem dunklen Zimmer in den Flur trat. Sie ertappte die beiden Eindringlinge, warf einen Blick auf die geöffnete Haustür und wollte gerade den Mund öffnen, um um Hilfe zu rufen, als der Mann die Hände hob, es leise knackte und das junge Ding zu Boden fiel. Die Öllampe, die sie in den Händen gehalten hatte, schwebte noch immer in der Luft. Dionysos ergriff sie und blies sie aus, während Ian nach Luft schnappte.
»Du hast sie umgebracht! Wie auch immer, aber du hast ...«
»Mach’ dich nicht lächerlich, das habe ich nicht. Sie ist nur bewusstlos. Was hätte ich denn davon? Leg’ sie dort im Salon auf das Sofa«, der Mann deutete auf einen breiten Durchgang, hinter dem man ein elegantes Wohnzimmer erahnen konnte, »aber sei’ leise, bitte. Ich will nicht noch mehr Störungen haben, bevor ich weiß, was hier los ist, sonst stirbt der Nächste vielleicht wirklich.«
»Was ist das für eine unheimliche Gabe, die du da hast?!« Der Junge war blass geworden und starrte sein Gegenüber an, unentschlossen, ob er in Panik verfallen oder ihn bewundern sollte.
»Willst du deine Freundin finden und herausbekommen, was hier los ist, oder nicht? Beschwer’ dich nicht über etwas Nützliches, sondern sei’ froh, dass ich es kann, sonst hätte die dumme Gans hier alles zusammengeschrien!« Dionysos zischte und Ian nickte, hob das Dienstmädchen hoch und trug es statt in den Salon in sein Zimmer zurück. Die Bewusstlosigkeit kam so plötzlich über die Magd, dass sie keine Zeit gehabt hatte, die Tür zu schließen, sodass der Jugendliche ihre Kammer rasch fand. Dort würde sie keinem auffallen.
Währenddessen blieb der Mann im Flur stehen und schloss die Augen. Seine Sinne tasteten das Haus ab und etwas störte ihn massiv. Etwas war da, das er nicht greifen konnte, etwas Unheimliches, mit Pesthauch versetztes, doch das Gebäude schien normal zu sein. Woher kam diese Unruhe, die er verspürte, die aber nicht seine eigene war? Er fühlte Angst in sich, die nicht ihm gehörte und er konnte nicht sagen, woher sie kam.