Der nächste Tag begann früh für Yu. Nachdem er sich schnell fertig gemacht und eine Tasse Tee zum Frühstück getrunken hatte, machte er sich auf den Weg zum Rathaus, um sich dort mit Dr. Alriin zu treffen.
Es war ein äußerst düsterer Morgen. Der Himmel wurde von dicken, dunklen Wolken verhangen, doch trotzdem war es bereits zu dieser frühen Stunde äußerst drückend und schwül; wahrscheinlich hatte es über Nacht noch nicht einmal abgekühlt...
Von Yu abgesehen waren auch schon andere Menschen unterwegs, Frauen und Männer, die sich auf dem Weg zur Arbeit befanden oder bereits erste Besorgungen für den Tag anstellten. Doch trotz der relativen Lebhaftigkeit – zumindest verglichen mit dem traurigen, leeren Stadtbild des Vorabends – fühlte sich die gesamte Szenerie irgendwie so unecht, geradezu tot an...
Aber dieses Gefühl der Unwirklichkeit war inzwischen ein Teil seines alltäglichen Lebens geworden, weswegen es nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben musste.
„Sie sind ja auch schon früh unterwegs, hm?“
Yu drehte sich um und sah Aesrah, die mit einem Weidenkorb tragend hinter ihm stand und ihn mit neutraler Miene beäugte; was für ein Zufall, dass er gerade ihr begegnete. Anders als gestern trug sie keinen Hut, ihr leicht gewelltes Haar hatte sie zu einem lockeren Zopf zusammengebunden.
Der Student lächelte.
„Die Arbeit ruft. Aber dasselbe könnte ich auch über Sie sagen...“
Aesrah hob ihren Korb ein wenig an.
„Ich hole jeden Morgen frische Eier und Milch.“
Dann wurde ihre Gesichtsausdruck ein wenig sanfter.
„Wissen Sie, für meine Kuchen und Torten verwende ich nur die besten Zutaten! Besonders meine Erdbeertorten sind in der ganzen Stadt berühmt... Sie können sich gerne davon überzeugen.“
Der unterschwellige Stolz, der in ihrer Stimme mitschwang, war kaum zu überhören. So gerne Yu – der süße Dinge und Desserts liebte – ein Stück davon gehabt hätte: Soviel Zeit war ihm leider nicht gegeben.
Er zuckte mit den Schultern.
„Sobald ich Zeit habe, werde ich Ihrem Angebot sogar nachkommen.“
Dann setze er dazu an, sich von Aesrah abzuwenden.
„Ich sollte mich dann mal wieder auf den Weg machen...“
„...Haben Sie sie... schon gesehen?“
Yu hielt inne. mit einem Mal klang die Stimme der jungen Frau so tonlos, ihre Miene wurde leer und starr. Der Student, der an die Schilderungen des gestrigen Berichts denken musste, fragte sich, ob sie Kontrakt zu den Patienten gehabt hatte – warum sonst sollte sich ihr gesamter Ausdruck so schlagartig verändern?
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, noch nicht. Wieso fragen Sie?“
„Weil...“
Aesrah zögerte. Dann senkte sie ihren Blick.
„...Menschen werden doch nicht einfach so zu... Monstern, oder? Sie sind doch trotzdem noch so wie... so wie wir... Nicht wahr?“
Yus Lächeln geriet nicht ins Wanken, doch jegliche Emotionen schwanden aus seiner Miene.
'Monster', sagte Aesrah. War das die Meinung, die die Bewohner von Alroué bezüglich dieser Krankheit vertraten?
Wie sehr er dieses Wort hasste...
Er drehte sich von der jungen Frau weg und setzte sich langsam wieder in Bewegung.
„Selbstverständlich tun sie das nicht; wie könnten sie auch? Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag...“
Ohne Aesrahs Reaktion abzuwarten ging Yu weg, geradewegs zum Rathaus.
Schon von Weitem erblickte Yu die schlanke Frau mit den ergrauenden Haaren, die ungeduldig auf- und abging. Sie trug einen längeren, dunklen Rock und eine langärmelige weiße Bluse. Sie schien sich bereits der sechzig zuzuneigen, versprühte jedoch die Energie einer sehr viel jüngeren Frau.
Als sie Yu bemerkte, ging sie auf ihn zu.
„Sind Sie unsere Unterstützung aus der Hauptstadt?“
Der Student nickte.
„Ja, ich bin gestern angekommen.“
Dr. Alriin musterte den jungen Mann mit einem kritischen Blick und verschränkten Armen.
„Sie sind furchtbar jung für einen Arzt.“
„Hier liegt wohl ein Missverständnis vor; ich befinde mich noch im Studium“, erwiderte Yu, der sich von ihrem strengen, prüfenden Blick nicht aus der Ruhe bringen ließ.
Wie erwartet verdüsterte sich Alriins Miene schlagartig.
„Steht es so schlecht um die Kaiserstadt, dass sie nun schon Kinder in Seuchengebiete schicken? Wahrlich, dieses Land geht wirklich vor die Hunde...“
Während sie das sagte, schüttelte sie geradezu resignierend den Kopf.
„Wer hat dich überhaupt hierhin entsendet? Die Universität? Das Ministerium?“
Yu ignorierte den Umstand, dass Alriin ihn nun unaufgeforderte duzte, geflissentlich. Allerdings nahm er sich einige Momente Zeit, sich eine Antwort zu überlegen.
Er wollte der Doktorin, die sowieso schon misstrauisch genug war, nicht unbedingt bei ihrer ersten Begegnung verkünden, dass er auf Befehl des Militärs in Alroué war; die Atmosphäre war auch sowieso schon schlecht genug.
„...Das ist momentan von geringer Relevanz. Ich bin lediglich daran interessiert, diese Situation möglichst rasch zu bereinigen.“
Diese Antwort stellte Alriin nicht wirklich zufrieden, ganz im Gegenteil; dennoch entschied sie sich dazu, Yus Antwort vorerst hinzunehmen.
Sie streckte dem Studenten die Hand entgegen.
„Dann hoffe ich – trotz der offensichtlichen Defizite - auf eine gute Zusammenarbeit. Mein Name ist Nhyiat Alriin und ich bin, wie du mit Sicherheit weißt, mit der Lösung dieses Problems betraut worden. Außerdem scheine ich die einzige zu sein, die Interesse an der Gesundheit dieser Menschen hat...“
Der Student nahm sie entgegen und schüttelte sie; Alriin hatte einen äußersten festen Handgriff.
„Das hoffe ich ebenfalls. Nennen Sie mich doch bitte Yu.“
„Nun dann, Yu, unsere Patienten wurden etwas abseits der Stadt untergebracht. Wir sollten uns auf den Weg machen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten marschierte Alriin los; Yu musste sich beeilen, um mit ihr Schritt halten zu können. Die beiden strebten auf den Stadtausgang zu; je weiter sie sich vom Zentrum entfernten, desto schäbiger und verfallener schienen die Häuser zu werden. Der abgestandene, üble Geruch, der gesamte Ortschaft im Griff hatte, wurde penetranter, am Straßenrand stapelten sich die Abfälle.
Dieser Anblick erinnerte Yu stark an die Unterstadt Siances, mit dem Unterschied, dass es dort wenigstens eine Stromversorgung gab, so lückenhaft und fehleranfällig sie auch sein mochte.
Alriin bemerkte Yus interessierte Blicke.
„Ein desolater Anblick, nicht wahr? Außerhalb der Hauptstadt gibt es viele Städte und Dörfer, die in einem ähnlich erbärmlichen Zustand sind...“
Yu beschränkte sich darauf, bedächtig zu nicken; er wusste wirklich nicht, was er darauf erwidern sollte. Er entschloss sich dazu, das Thema zu wechseln.
„Woher stammen Sie eigentlich, Dr. Alriin? Ihr Dialekt unterscheidet sich geringfügig von jenem, den die Bewohner von Alroué sprechen...“
Die Medizinerin wirkte einen Moment lang sichtlich erstaunt.
„...Du musst wirklich kleinlich sein, wenn dir derartige Dinge auffallen.“
Yu lächelte und zuckte die Schultern.
„Manche nennen es 'kleinlich', ich hingegen betrachte mich als 'aufmerksam'.“
Zum ersten Mal wurde ihre sonst so mürrische Miene ein wenig weicher.
„So kann man es natürlich auch sehen. Aber du hast Recht, ich stamme ursprünglich aus dem Süden. Der einzige Doktor, den Alroué hatte, ist vor fünf Jahren gestorben, woraufhin mich eine gute, ortsansässige Freundin bat, seine Nachfolge anzutreten. Da ich die Landschaft und das Klima dieser Region schon immer gemocht habe, hatte ich keinen wirklichen Grund, abzulehnen...“
„Wie sozial von Ihnen...“
Alriin ließ sich von seiner trockenen Bemerkung nicht beirren.
„Ich habe im Laufe meines Berufslebens schon sehr viele Regionen bereist, von denen Alroué noch nicht einmal die schlimmste ist. Aber so etwas wie diese Seuche, die hier momentan grassiert, habe ich noch nie zuvor erlebt...“
Die beiden waren inzwischen am Stadttor angekommen. Die Ärztin deutete auf ein kleines Gebäude ähnlich einer Scheune, welches auf einer der weitläufigen Wiesen errichtet worden war.
„Dort ist das 'Krankenhaus' – wenn man es denn so nennen möchte.“
Yu musste ihn nicht einmal von innen sehen, um zu wissen, dass dieser Schuppen ganz gewiss nicht den Standards einer medizinischen Einrichtung genügte. Trotzdem, er konnte die Logik hinter dieser Ortswahl erkennen – besser, man schaffte die Kranken möglichst außer Reichweite der restlichen Bevölkerung. Soweit Yu nach seinem gestrigen Gespräch mit der Wirtin beurteilen konnte, würden die Einwohner Alroués, die ohnehin von einem Fluch ausging, mit Sicherheit der Paranoia anheimfallen, sollten sie die wahren Ausmaße dieser Krankheit begreifen.
Alriin drückte die Klinke hinunter und stieß das breite Scheunentor schwungvoll auf.
Nun konnte Yu einen Blick auf das Innenleben des vermeintlichen Krankenhauses erhaschen: Wie erwartet handelte es sich um einen einzigen, offenen Raum. Weiße Vorhänge dienten als dazu, um wenigstens ein Minimum an Privatsphäre zu bieten. Die meisten von ihnen waren zugezogen, um die Patienten vor den Blicken anderer zu schützen.
Eine junge Frau in weißer Kleidung und langen, dunkelbraunen Locken schritt auf Alriin und Yu zu, nachdem die beiden eingetreten waren.
„Frau Doktor! Gut, dass Sie zurück sind!“
Alriin runzelte die Stirn.
„Ist etwas vorgefallen, Ema?“
Die Krankenschwester – Ema – nickte hastig.
„Der Zustand von Herr Erith hat sich rapide verschlechtert! Er scheint das letzte Stadium erreicht zu haben...“
„So schnell? Heute morgen erst war er doch noch stabil gewesen!“
Sofort stürmte Alriin an Yu und Ema vorbei – wobei sie ersteren unsanft anrempelte - , riss einen der Vorhänge beiseite und trat in die Nische ein. Yu selbst konnte von seinem Winkel aus lediglich das Fußende des grauen Metallbetts mit den weißen Lacken sehen; auch er näherte sich nun dem Ort des Geschehens, wenngleich auch weniger stürmisch.
Der Anblick, der sich ihm darbot, war einer der schrecklichsten, der sich ihm in seinen bisherigen zwanzig Lebensjahren dargeboten hatte:
Dieser Mensch, der in dem schmalen Bett lag, war kaum noch als solcher erkennbar.
Die Verhornung der Haut hatte bereits eingesetzt. Dicke, stark gerötete Schuppen bedeckten jeden Zentimeter seines sichtbaren Körpers, an vielen Stellen war die Hornschicht eingerissen und spröde, wirkte viel zu trocken. Auch die Kornea seiner Augen war ausgetrocknet, war trübe und entzündet.
Diese Hyperkeratose, die Yu in dieser Form noch nie zuvor gesehen hatte, wäre an sich schon gravierend genug, doch die zahlreichen, riesigen Geschwülste, die den Körper des Mannes auf groteske Weise entstellten, boten ein wahrlich verstörendes Krankheitsbild.
Einige der Tumore, die die trockenen Hautschuppen durchbrochen hatte, schienen auf unheimliche Weise zu pulsieren, andere waren bereits aufgebrochen und sonderten ein gelbliches, eitriges Sekret ab, welches auch die einst weißen Bettlaken verfärbte. Bei näherer Betrachtung fiel Yu auf, dass einige der aufgeplatzten Geschwülste Zähne, Haare und sogar Knochen enthielten, andere hatte derartige Ausmaße angenommen, dass sie beinahe wie zusätzliche Gliedmaße wirkten.
Der Student begriff erst einige Momente später, dass er den Patienten mit großen Augen anstarrte; hastig wandte er seinen Blick ab und richtete ihn auf Alriin und Ema, die hastig einige Injektionen vorbereiteten.
Yu wusste nicht, wie er reagieren sollte.
Ja, dieser Patient litt unter schrecklichen Schmerzen, wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt und Yu, der sich dieser Sache eigentlich annehmen sollte, fühlte sich in diesem Moment vollkommen überfordert. Er konnte nun jedenfalls sehen, warum inzwischen auch das Militär Interesse an diesem Fall zeigte.
„Sein Fieber ist viel zu hoch!“, verkündete Ema verzweifelt.
Hastig tränkte sie einige Tücher in kaltem Wasser und legte sie in seine Leisten.
„Sorge dafür, dass seine Flüssigkeitszufuhr gewährleistet wird!“, wies Alriin, die dem Kranken eine Spritze verpasste, die Krankenschwester an.
Yu, der die Maßnahmen der beiden Frauen bisher schweigend beobachtet hatte, trat näher an das Bett heran. Er zögerte kurz, streckte dann jedoch seine Hand aus und legte sie vorsichtig auf den nackten Arm des Patienten. Ja, er wusste, was er jetzt zutun hatte...
Yu schloss seine Augen und lenkte seine gesamte Konzentration auf den Mann, der da vor ihm lag, auf die Stelle, die er berührte.
...Und dann konnte er es sehen.
Es war diffus, hatte sich über den gesamten Körper verteilt, aber eindeutig da. Yu konnte die krankmachende Energie, die den Patienten erfüllte, spüren, fühlte – wenn auch sehr dumpf – die Qualen, die er verspürte.
Wenn Yu diesen schädlichen Fluss nur wirklichen einordnen könnte. Ob sie die Ursache oder nur ein Symptom war, sicher war, dass diese dunkle Energie ein gravierendes Problem darstellte.
Ein betäubendes, elektrisierendes Gefühl verriet ihm, dass sie nun auch auf ihn zustrebte.
Der Student atmete scharf ein und zog schnell seine Hand weg. Er schlug seine Augen auf und sah verstohlen zu Alriin und Ema hinüber – zum Glück waren die beiden Frauen zu sehr in ihre Arbeit vertieft gewesen, um seine Aktion zu bemerken.
Es war nur ein kurzer und vager, aber dennoch sehr aufschlussreicher Kontakt gewesen; wahrscheinlich, so dachte sich Yu, war diese Sache mit dem 'Fluch' doch nicht so abwegig, wie es im ersten Augenblick schien.
Der junge Mann schüttelte stumm mit den Kopf.
„Es ist sinnlos...“, murmelte er.
Alriin, die seine Worte gehört hatte, warf ihm einen düsteren Blick zu.
„Natürlich ist es das, aber es ist das einzige, was wir tun können! Wenn du bessere Vorschläge hast, dann nur zu.“
Nein, hatte er nicht. Das einzige, was er sicher sagen konnte, war, dass keine der verfügbaren Medikamente irgendetwas gegen diese Krankheit hätte ausrichten können.
Tatsächlich war er sich nicht sicher, ob es überhaupt eine Heilung gab. Dieser entstellte Mann war jedenfalls jenseits jeglicher Rettung.