Chris
Mittlerweile war es 17:00.
Alle Teams hatten sich in der großen Halle des Trainingsgebäudes eingefunden und man hatte uns gesagt, dass wir in Kürze weitere Anweisungen erhalten würden. Doch diese kamen nicht.
Stattdessen, wurden wir von einem untersetzten Mann mittleren Alters gebeten, uns in den Ballsaal zu begeben.
„Hier gibt es einen Ballsaal?", rief Hope überrascht.
„Heißt das, wir werden tanzen? Also so richtig?" Man konnte Hope ihre Vorfreude in den Augen ablesen.
Seit ich sie kenne, war es einer ihrer größten Wünsche an einem Ball teilzunehmen, doch leider galt dieses Privileg ausschließlich Bewohnern von OBEN. „Hättest du vorhin ordentlich gelesen, wärst du jetzt nicht so überrascht", sagte Neo in leicht gelangweilten Tonfall. Vor wenigen Stunden hatten wir auf unseren Holopads Regeln und den Ablauf des heutigen Abends erhalten.
Doch während Kirian, Neo und ich uns durch die vielen Seiten gelesen hatten, hatte Hope nur am Rand gesessen und mit den Gummibändern zum Dehnen gespielt. Ich hatte das ungute Gefühl, dass sie die Dinge vom Vortag immer noch belasteten. Ich nahm mir vor, sie noch heute danach zu fragen.
Zusammen mit den anderen, gingen wir hinüber zum Ballsaal. Der Weg dorthin war kurz und das simulierte Wetter war sonnig und warm, sodass ich erst einmal tief durchatmete.
Anders als ich erwartet hatte, war der Ballsaal nicht einfach nur ein Saal. Es war ein komplettes Gebäude.
Es war altmodisch gehalten und kleine Statuen und Ornamente zierten die Fassade. Das Licht der Superlamps spiegelte sich in den Fenstern und blendete mich, sodass ich niesen musste. Neben mir hörte ich ebenfalls ein lautes „Hatschi" und als mich zur Seite drehte, lächelte mich Ash verschmitzt an.
Seine smaragdgrünen Augen funkelten. Ich drehte mich schnell weg und spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Ich hörte noch ein leises Kichern neben mir, dann ging er in das Gebäude und ich folgte ihm.
Innen angekommen musste ich blinzeln. Trotz der riesigen Fenster drang nicht viel Licht in den Saal und die großen Kronleuchter an der Decke tauchten alles in ein gelbliches Licht, welches eine gemütliche Stimmung erzeugte. Die Wände waren in einem verblichenen Weiß gestrichen und eine von ihnen war komplett von Spiegeln bedeckt. Wieder hörte ich das Piepen und eine bekannte Stimme begann zu sprechen.
„Guten Nachmittag, liebe Erwählte. Wie ich es bereits am Vortag erwähnt habe, werden wir uns heute ihrer Etikette widmen."
Theodor Galius Stimme kam aus allen Ecken des Raumes, doch als ich mich umsah, konnte ich keine Lautsprecher entdecken.
„Bitte nehmen Sie mit ihrem Team an einem der Tische Platz. In Kürze werden wir mit der heutigen Lektion beginnen."
Als er zu Ende gesprochen hatte, begaben sich alle Teams an den mit ihrer Teamfarbe gekennzeichneten Tisch. Wie schon zuvor war der Tisch elegant gedeckt und wieder lagen an jedem Platz mehrere Paare an Besteck. Ash musste meinen verwirrten Blick bemerkt haben denn er lehnte sich zu mir hinüber.
„Es gibt mehrere Gänge", flüsterte er. „Jeder Gang hat sein eigenes Paar an Besteck. Du isst immer von außen nach innen." Dankbar sah ich Ash an und er lehnte sich wieder zurück. Dann kamen Kellner und brachten jedem von uns eine Schüssel mit Suppe.
Es piepte wieder.
„Meine Damen und Herren. Kommen wir nun zum ersten Teil ihrer heutigen Lektion. Vor ihnen befindet sich eine äußerst delikate Spinatsuppe." Ich sah zur Schüssel auf meinem Platz, sie war mit einer intensiv grünen Suppe gefüllt und roch einfach nur köstlich.
„Ich werde ihnen nun die wichtigsten Regeln beim Essen in der erhobenen Gesellschaft beibringen. Kommen wir zuerst zu Messer und Gabel. Messer und Gabel dürfen nie so gehalten werden, dass es für andere Tischgäste bedrohlich werden könnte. Das Besteck darf nie wie einen Dolch in die Hand genommen werden, sondern muss stets waagerecht gehalten werden. Die Gabel kommt in die linke und das Messer in die rechte Hand. Beim Schneiden von Fisch, Fleisch und Gemüse, wird das Messer wie eine Säge hin und her bewegt und immer nur ein mundgerechtes Stück abgeschnitten. Dies ist eine der wichtigsten Regeln. Falls ihnen jedoch trotzdem einmal ein Missgeschick geschehen sollte, zögern Sie bitte nicht die Serviette zu benutzen. Wenden Sie diese Regeln ab sofort bitte auf jede ihrer Mahlzeiten an."
In den nächsten zwei Stunden lernten wir viele Dinge.
Die wichtigsten Dinge waren:
1. Die Gabel liegt stets links neben dem Teller.
2. Rechts vom Teller befindet sich das Messer und daneben der Suppenlöffel.
3. Der Dessertlöffel liegt quer oder oberhalb des Tellers.
Wir erhielten weitere Gänge, welche mehr als Übungsmaterial als, als Mahlzeit galten.
Am Ende des Abends rauchte mir nach all den neuen Informationen der Kopf.
„Erinnere mich daran beim nächsten Mal etwas zum Schreiben mir zu bringen", sagte Hope, die neben mir im Auto saß.
Sie klang nicht weniger erschöpft, als ich mich fühlte. „Oh ja, ich habe schon wieder die Hälfte vergessen", beschwerte sich Kirian. Ich sah zu Neo und Ash hinüber. Sie waren beide von OBEN und schienen keine Probleme zu haben, sich die heutigen Informationen zu merken. In diesem Moment sah Ash zu mir herüber.
Ein schüchternes Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. „Geh einfach nach deinem Instinkt, ich denke nicht, dass du dir zu viele Gedanken über alles machen solltest", sagte er lächelnd. „Ist notiert", antwortete ich nicht mehr ganz so schüchtern.
Er sah mich aus seinen grünen Augen an und ich musste Schlucken. Ganz langsam wanderte mein Blick zu seinen vollen Lippen. Wie sie sich wohl anfühlen würden?
„Ähm Leute? Weiß jemand was für morgen auf dem Plan steht?" Neo's Stimme riss mich aus meiner Starre und Ash räusperte sich. Den Rest der Fahrt herrschte unangenehmen Schweigen. Auf Neo's Frage hatte niemand eine Antwort parat.
Am nächsten Morgen wurde ich von einer gehetzten Hope geweckt. Sie wies mich dazu an, mich fertigzumachen und dann mit den anderen zum Ballsaal zu fahren. Als wir dort ankamen, hatten sich bereits alle anderen Teams eingefunden. Schon nach wenigen Minuten wurden wir hineingebeten.
Im Gebäude erwartete uns eine große, schlanke Frau mit rabenschwarzen Haaren.
„Einen wundervollen guten Morgen wünsche ich Ihnen", rief sie fröhlich in die Runde.
„Heute wird ein spannender Tag. Sie werden das Highlight jedes Balles lernen, den Walzer." Sie sah uns alle mit einem heiteren Lächeln an, was sie mir direkt sympathisch machte. Endlich mal jemand, der nicht griesgrämig vor sich hin grunzte. Sie wies uns an einen Partner zu finden und uns dann in dem Saal zu verteilen. Am liebsten hätte ich mit Hope getanzt, doch da dies höchstwahrscheinlich unangemessen war, schaute ich mich im Saal nach einen anderen Partner um. Meine zweite Wahl wäre Kirian gewesen, doch der hatte sich leider schon mit Hope zusammengetan und Ash konnte ich nirgendwo finden. Nach toll! Aus dem Augenwinkel sah ich Neo auf mich zu kommen und drehte mich zu ihm. Er bot mir grinsend die Hand an und ich legte meine widerwillig in seine.
Zusammen gingen wir an einen freien Platz und warteten auf weitere Anweisungen. Die Tanzstunde bestand im generellen nur daraus, die ersten Schritte zu üben. Erst einzeln und später mit Partner. Es waren nur wenige einfache Schritte, an die wir uns halten mussten. Erst im Viereck und dann etwas freier. Das ganze wiederholte sich und ergab einen wundervollen Tanz, doch ich verstand gar nichts und während die anderen nahezu übers Parkett schwebten, trat ich nur Neo auf die Füße. Netterweise hörte er nach dem fünften Mal auf sich zu beschweren und zog jedes Mal nur noch eine Grimasse. Im Nachhinein bereute er wahrscheinlich seine Partnerwahl.
Nach dem Training wurden uns noch ein Paar organisatorische Einzelheiten vorgetragen. Die restliche Woche würde daraus bestehen, bereits gelernten Regeln, sowie den Tanz zu manifestieren und zu perfektionieren. Am Ende der Woche stand dann der District-Bericht auf dem Plan.
Der weitere Abend verlief ruhig. Nachdem wir wieder in unserem Wohnhaus angekommen waren, begab sich jeder in sein Zimmer. Der heutige Tag hatte jedem von uns so einiges abverlangt.
Gerade als ich dabei war in den Schlaf abzudriften, klopfte es an der Tür. Träge stand ich auf und öffnete sie, als ich sah, wer draußen stand, wurde ich schlagartig wach.
„Hey." Ash stand vor der Tür und lächelte mich freundlich an.
„Ähm, wie geht's wie steht's?", antwortete ich noch immer etwas benommen. Ash lachte leise. Oh mein Gott! Was hatte ich da nur gesagt? Ich wurde rot, doch das brachte Ash nur noch mehr zum Lachen. „Du bist süß, wenn du rot wirst."
Ich erstarrte. Er- das hatte er doch gerade nicht wirklich gesagt, oder? Ich atmete tief durch. Ein kläglicher Versuch mich zu beruhigen.
„Warum bist du hier?" Ich sah im in die smaragdgrünen Augen. Wie jedes Mal zogen sie mich in ihren Bann und ich musste mich beherrschen, um nicht einen Schritt auf Ash zuzugehen. „Ich habe gesehen das dir das Tanzen heute nicht so ganz, ähm, leicht viel."
„Tja, das kannst du wohl laut sagen." Mittlerweile war ich komplett wach und konnte die Worte, die aus meinem Mund kamen, wieder kontrollieren.
„Also, warum bist du hier?" Ich sah ihn fragend an.
„Um dir den Walzer beizubringen", erwiderte Ash in leicht belustigtem Ton. „Sonst blamierst du uns noch." Erneut wurde ich rot. Ich musste aussehen wie eine überreife Tomate.
Auf einmal ging er los, packte mich am Handgelenk und zog mich hinter sich her. Wir gingen die Treppen zum Keller hinunter. Unten angekommen mussten sich meine Augen erstmal an die Dunkelheit gewöhnen. Es roch leicht muffig. Ash zog mich weiter und nach wenigen Sekunden erreichten wir einen kleinen Raum. Er ließ meine Hand los und schaltete eine kleine Lampe in der Ecke an. Jetzt konnte ich wieder etwas sehen und musste Staunen. Wir standen in einem kleinen Tanzsaal. Der Raum war schlicht gehalten und kaum möbliert. Durch zwei kleine Fenster schien das künstliche Mondlicht so hell in den Raum, dass es trotz der Lampe gruselige Schatten an die Wand warf. Also war der Keller doch nicht ganz unter der Erde. Naja, so weit unter der Erde, wie man in einem Unterirdischen Camp gehen kann. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes war ein Spiegel angebracht. Ash drehte sich zu mir um und betrachtete mich eine Weile. „Lass uns anfangen. Zuerst die, ähm Schrittfolge", sagte ich um die Stille zu unterbinden. Er nickte stumm und stellte sich mir gegenüber. „Also, im Walzer gibt es drei Zählzeiten und auf jede dieser Zählzeiten erfolgt ein Schritt. Also gibt es nur drei Schritte", begann er. Ich nickte und hörte weiter zu.
„Auf der ersten Zählzeit erfolgt für die Dame ein Schritt nach hinten und für den Herren ein Schritt nach vorn." Er ging demonstrativ mit dem rechten Bein einen Schritt auf mich zu. Da er mir sehr nahe stand hatte ich keine andere Wahl als mit meinem linken Bein voran einen Schritt nach hinten zu gehen. Wäre ich nicht nach hinten getreten, hätten sich unsere Körper berührt. Ich schluckte. „Auf der zweiten Zählzeit geht die Dame mit dem rechten Bein nach rechts und der Herr mit links nach links. Achte aber darauf, dass du den Schritt nicht schließt, sondern dass dein linkes Bein stehen bleibt." Auch dies setzte er um und ich folgte seinem Beispiel.
„Als letztes ziehst zum bei drei dein verbliebenes Bein an dein Standbein heran. Wenn du damit fertig bist, wechselst du zu den Schritten deines Partners. So bewegst du dich immer im Viereck."
Er schaute mich herausfordernd an und ich folgte seinem Befehl. Nach einer Weile hatte ich den Dreh raus und lächelte ihn stolz an.
Er schmunzelte nur, ging zum Musik-Player neben der Tür und kurz darauf durchflutete langsame, rhythmische Musik den Raum.
„Hast du Lust es als Paar zu probieren?" Ich nickte und er bat mir seine Hand an. Ich legte meine Hand in seine und vorführte kichernd einen Knicks. Danach legte ich meine Hand auf seine rechte Schulter. „Lege sie nicht auf meine Schulter, sondern auf meinen Oberarm. Unsere Ellenbogen müssen ungefähr auf derselben Höhe sein. Die Dame steht immer etwas weiter links als der Herr." Ich rutschte etwas nach links und sah erwartungsvoll zu ihm hoch. Durch den dünnen Stoff seines Oberteils konnte ich seine trainierten Oberarme fühlen.
Behutsam legte er seine Hand zwischen meine Schulterblätter und zog mich näher an sich. Zu nah! Ruckartig trat ich einen Schritt zurück und entfernte mich von ihm. Er sah mich leicht erstaunt und verwirrt zugleich an. Dann fing er an zu lachen.
„Es ist wichtig das sich unsere Körper leicht berühren. Nur so kann ich dich richtig führen", sagte er und kam mir wieder näher. Diesmal ließ ich es zu und atmete seinen Duft ein.
Langsam begann er sich mit der Musik zu bewegen. Am Anfang war es ungewohnt, doch je länger wir zusammen tanzten, desto angenehmer wurde es. Er zählte den Takt leise mit, damit ich nicht das Tempo verlor. Ich sah die ganze Zeit über seine Schulter hinweg in den Spiegel und konzentrierte mich auf die Schritte.
„Hör auf in den Spiegel zu starren. So kommst du aus dem Takt." Er sah mir in die Augen. „Ich werde dich jetzt führen, konzentriere dich nur auf mich." Ich ließ meinen Blick vom Spiegel ab und betrachtete Ash's Gesicht.
Er hatte leichte Bartstoppeln und direkt unter seinem linken Auge, hatte er einen kleinen Leberfleck. Als mein Blick zu seinen Lippen glitt, trat ich Ash fast auf die Füße. Schnell sah ich weg. Je länger wir tanzten, desto weniger dachte ich an die Schritte. Ohne das ich es merkte, führte Ash mich aus dem Viereck und wir tanzen durch den kompletten Raum. Ich schloss meine Augen und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Als das Lied verstummte lösten wir uns nicht voneinander. Ich sah zu ihm auf. Auf seinen Wangen konnte ich einen leichten Hauch an Rosa erkennen.
Er lächelte mich an. Warum war er selbst im Schlafanzug und mit unordentlichen Haaren noch so unglaublich süß und sexy zugleich?
Warte! Schlafanzug? In diesem Moment bemerkte ich, dass wir beide immer noch in Schlafanzügen waren. Schnell trennte ich mich von ihm und ging ein paar Schritte zurück, um mein Mickey Mouse Shirt glattzustreichen. Ash schmunzelte nur und ging zur Tür. Peinlich berührt folgte ich ihm. Als wir wieder an unseren Zimmern angekommen waren, hielt er an und drehte sich zu mir um.
„Gute Nacht, Chris", sagte er nur und zwinkerte mich an. Dann öffnete er die Tür zu seinem Zimmer und ging hinein. Mit einem leisen klicken schloss sie sich hinter ihm.