Stundenlang saß ich neben dem Brutkasten. Ich sah meinem kleinen Sohn zu, wie er atmete. Dabei streichelte ich diese zerbrechliche Hand und die winzigen Finger legten sich um meinen Daumen. Abends verließ ich die Klinik nur widerwillig. Und in den Nächten bekam ich kaum ein Auge zu. Ich lauschte mit einem Ohr immer nach dem Telefon. Paul übertrug wichtige Aufgaben an seinen engsten Mitarbeiter, sah nur am Morgen in der Firma nach dem Rechten. Nahm nur Termine wahr, die sich wirklich nicht verschieben ließen. Wenn er nicht mitkommen konnte, begleitete mich meine Mutter.
Ich weinte vor Glück, als man mir den Kleinen erstmals länger in meine Arme legte. Mit seinen grünblauen Augen sah er mich ganz ruhig an und ich flüsterte ihm sanft zu, wie sehr ich ihn liebte. Nach vier Wochen gab es erste gute Nachrichten. Endlich nahm er zu und vor allem konnte er ohne fremde Hilfe atmen. Noch ein wenig sollte er beobachtet werden. Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Zuhause, in der Geborgenheit der Familie, würde sich unser Baby erholen können, dessen war ich mir sicher. Martin, der erst etwas skeptisch auf die Ankündigung eines Geschwisterchens reagiert hatte, fragte nun doch beinahe täglich nach ihm. Er konnte das ja alles noch nicht verstehen.
Am Entlassungstag fuhren Paul und ich alleine in die Klinik. Schon auf dem Gang hörten wir Jan weinen. Das kleine Gesichtchen war rot angelaufen und ich hatte nicht gewusst, dass dieses zarte, kleine Geschöpf so brüllen konnte. Behutsam nahm ich ihn aus seinem Bettchen. Er war so leicht. So zerbrechlich. Sehr viel kleiner als Martin damals im gleichen Alter. Fast wie eine Puppe aus Porzellan.
„So klein“, hauchte ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Ich legte ihn mir an die Schulter und wiegte ihn sanft. Paul trat neben mich und strich seinem Sohn über den Kopf. Er hatte schon den Papierkram erledigt.
„Wenn du soweit bist, können wir ihn nach Hause bringen“, meinte er liebevoll.
Die Schwestern verabschiedeten uns herzlich, hatten sie unser Sorgenkind doch sehr in ihr Herz geschlossen. Jederzeit hatten wir Jan in den besten Händen gewusst. Und auch der Kinderarzt wünschte uns viel Glück und alles Gute. Auf der Fahrt schlief der Kleine ein, nachdem er sich schon in meinem Arm beruhigt gehabt hatte. Viel mehr noch als Martin brauchte unser Zweitgeborener körperliche Nähe. Es beruhigte ihn, wenn er meine Haut riechen und meinen Herzschlag spüren konnte. Wie sehr ich es bedauerte, dass ich ihn nicht stillen konnte. Meine Milch war versiegt, während Jan im Brutkasten aufgepäppelt worden war.
Neugierig kam Martin näher, als ich mit seinem Bruder auf dem Arm vor ihm in die Hocke ging. Interessiert und etwas scheu betrachtete er mit den Augen, die er von Paul geerbt hatte, das Baby. Das nach wie vor schlief und den Mund ein wenig verzogen hatte. Behutsam erklärte ich meinem größeren Sohn, wen er da vor sich hatte. Danach folgte mir Martin in die Stube und sah zu, als ich den Kleineren in den Stubenwagen legte. Die ersten Tage blieb Martin viel an meiner Seite. Natürlich forderte er Aufmerksamkeit ein. Wir bemühten uns sehr, ihm gerecht zu werden. Er sollte sich nicht zurückgesetzt fühlen oder gar eifersüchtig werden. Das gelang uns ganz gut. Bewusst nahmen wir uns Zeit für ihn und wir konnten uns auch jetzt jederzeit auf die Hilfe von Elli und Jakob verlassen. Sei es, dass sie Martin beschäftigten oder etwas besonders mit ihm unternahmen oder dass sie uns auch Jan abnahmen, damit wir Zeit für Martin hatten.
Schon da kristallisierte sich heraus, dass Jakob ein besonderes Händchen für unser Nesthäkchen hatte. Ganz oft war er es, der das von Koliken oder Fieberanfällen gequälte Kind beruhigen konnte. Es war unglaublich anstrengend mit Jan, sehr viel mehr als mit Martin. Er war extrem unruhig. Schrie teilweise das Haus zusammen und wir fanden bis Weihnachten keinen Rhythmus mit ihm. Er kam unregelmäßig für die Flasche und wehrte sich regelrecht mit Händen und Füßen einzuschlafen. Heute frage ich mich, ob sein Unterbewusstsein die Geräusche und Gerüche der Klinik vermisste. Welche Ängste ihn quälten. Ob wir irgendetwas hätten anders machen sollen. Im Grunde schlief er nur ein, wenn ihn einer von uns stundenlang durch das Haus trug, er auf meinem nackten Bauch oder Pauls Brust lag.
Nur langsam spielte sich ein Alltag ein. Ohne Elli und Jakob wäre ich verzweifelt. Als Jan dann das erste Mal länger als drei Stunden am Stück schlief, schreckte ich wiederum hoch und vergewisserte mich, dass er noch lebte. Es war die Zeit, in der man viel über den plötzlichen Kindstod sprach. Noch eine neue Gefahr. Paul meinte, ich würde schon Gespenster sehen.
Martins fünften Geburtstag feierten wir dann letztmalig im ganz großen Kreis. Pauls Geschwister waren nach und nach samt Familien weggezogen. Unser Junge freute sich über ein Baumhaus, das Jakob für ihn gezimmert hatte. Mit viel Geschick hatte Jakob die Überraschung vor seinem Enkel versteckt. Aber noch am Vormittag zog es von der Werkstatt in den Garten um. Dank der milden Temperaturen tobte Martin am Nachmittag mit seinen Cousinen schon über die Leiter nach Oben. Sein Großvater versprach ihm, dass er im Frühjahr noch eine Rutsche bauen und auch im Haus noch Kleinigkeiten verbessern würde. Martin wünschte sich eine Räuberhöhle zum Verstecken und eine Truhe für seine Schätze.
Es war ein heiterer Familientag, an dem auch Jan von Arm zu Arm wanderte. Friedlich schlummerte er aber erst bei Jakob ein. Zum Leidwesen Martins, der seinen Opa an dem Tag zu gerne noch weiter in Beschlag genommen hätte. Ich glaube, es war der erste Tag seit Jans Geburt, an dem ich einfach wieder lachen und unbeschwert sein konnte. Nach dem Abendbrot verabschiedeten sich unsere Gäste und ich badetet das gähnende Geburtstagskind. Wir kuschelten noch ausgiebig und ich las ihm eine Piratengeschichte vor, die er so sehr liebte. Das dicke Buch mit den Geschichten zur Nacht. Wie oft habe ich es in den Händen gehalten und wie sehr es heute noch zum Einsatz kommt. Ich blieb noch an Martins Bett sitzen und beobachtete ihn beim Schlafen.
So schnell war er so groß geworden. Ein Lausbub. Mit viel Schabernack im Kopf. Wo er war, wurde viel gelacht. Seine Spiele waren wild und mit seinen Freunden ging es oft laut her. Stillsitzen war überhaupt nicht sein Ding und ich hatte ein bisschen Sorge, wie das werden könnte, wenn er erstmal in die Schule kam. Noch war aber viel Zeit dafür. Pauls Bruder sei im gleichen Alter ähnlich wild gewesen, hatte mir Elli erzählt. Erst mit der Einschulung war jener ruhiger geworden. Paul und ich hatten schon beschlossen, ihn im Frühling im Sportverein anzumelden. Ich musste lächeln, als er sich auf die Seite rollte. Wie oft hatte er eine Schramme am Unterarm, irgendwo einen blauen Fleck. Ich fuhr ihm durch sein dunkelblondes Haar und gab ihm noch einen Kuss, dann verließ ich das Kinderzimmer.
Als ich ins Schlafzimmer kam, lag Paul mit unserem Kleinsten auf dem Bett. Er legte einen Finger auf seinen Mund und bedeutete mir, leise zu sein. Paul hatte sein Hemd ausgezogen und Jan schlief auf seiner Brust. Die kleinen Lider zuckten und er schnaufte ganz leise. „Hast du ihn gefüttert?“, erkundigte ich mich sanft. Mein Mann nickte und deutete zur Kommode. Dort stand die leere Flasche. Der Kleine hatte gut getrunken, was uns hoffentlich ein paar Stunden Ruhe gab. Ich schlüpfte aus meiner Kleidung und streifte nur ein Nachthemd über. So kuschelte ich mich neben Paul. Seine Hand ruhte auf Jans Rücken und ich legte meine Hand vorsichtig auf seine. Paul lächelte.
„Ich liebe euch“, sagte er zärtlich. Seine Lippen berührten meine Schläfe. Ich rückte etwas näher und achtete darauf, dass wir das Baby nicht weckten.
Wir lagen einfach nur da. Es war der erste innige Moment seitdem Jan auf der Welt war. Obwohl wir nur nebeneinanderlagen war da so viel Gefühl und Geborgenheit. Paul seufzte. "Immer schön einen Schritt nach dem anderen", sagte er dann. In seiner Stimme schwang unglaubliche Liebe mit. Und Zuversicht.