So im Nachhinein betrachtet haben wir in diesen Jahren viele Entscheidungen getroffen, die richtig waren. Dabei verließen wir uns auf unser Bauchgefühl und unseren Instinkten. Alles Wichtige besprachen wir gemeinsam. Manchmal nur Paul und ich, manches mit unseren Eltern. Natürlich machten wir auch damals Fehler. Kleinere und größere, aber noch keine gravierenden, wie dann später. Man sieht es in den Momenten oft nicht. Ist sich sicher, dass man die passende Entscheidung getroffen hat. Alles andere wäre wiederum auch seltsam. Wir hatten immer das Beste für unsere Kinder und unsere Familie im Sinn. Und hier und da sieht man dann nicht, dass eine kurzfristig gedachte Lösung langfristig ein Boomerang werden kann.
Dass Jan nicht nur ein stilles Kind war, sondern auch ein Träumer, fiel ihm schon in der Grundschule auf die Füße. Während Martin mit hervorragenden Noten auf das Gymnasium in die Kreisstadt gewechselt war, musste sich Jan quälen. Dabei war er nicht dumm. Nur unfassbar unkonzentriert. Mich trieb er bei den Hausaufgaben damit regelrecht in den Wahnsinn. Es half wenig, dass Martin ihn auslachte, wenn er nicht mitkam. Jan versuchte auch hier seinem Bruder nachzueifern, aber es kostete ihn Mühe. Es flossen schon hier viele Tränen. Mich ließ das nicht kalt und oft schickte ich ihn dann doch erstmal zum Spielen oder zu seinem Großvater, obwohl wir noch lange nicht fertig waren. Abends versuchte es dann Paul. Mit seiner Ruhe kam er besser bei Jan durch, aber es tat mir im Herzen weh. Wie oft der Junge seine Hefte und Bücher in seiner Hilflosigkeit vom Tisch fegte und sich weinend unter seiner Bettdecke verkroch. Wie oft er morgens in seinem Bett lag und mir erklärte, dass er nicht in die Schule wollte. Bauchschmerzen waren der häufigste Grund. Doch es half ja nichts. Jeder Fehltag würde ihn nur weiter zurückwerfen.
Wir übten viel, ich versuchte es auf spielerische Art und Weise. Jan liebte Geschichten und wollte stundenlang vorgelesen bekommen. Das konnte ich gut nutzen und ich nahm mir abends gerne die Zeit. Jakob beschäftigte ihn mit Zahlenspielen. Zeigte ihm in der Werkstatt, warum er rechnen lernen musste. Als Belohnung ließ er den kleinen Kerl vermehrt mithelfen, überließ ihm Rohstücke, aus denen Jan dann recht geschickt kleine Figuren fertigte. Wir haben heute noch viele dieser ersten Arbeiten. Ich glaube, Jans erstes Schuljahr war für uns alle eine Belastungsprobe. Martin schlug daraus sein ganz eigenes Kapitel. Es trieb ihn regelrecht zu Höchstleistungen an. Paul sparte nicht mit Lob, als Martin am Ende des Schuljahres ein Zeugnis vorlegte, welches nur Einsen und Zweien enthielt. Inwiefern er sich damit unsere Liebe sichern wollte? Nun, ganz von der Hand zu weisen war es nicht, dass Martin insbesondere um die Gunst seines Vaters buhlte.
Auch in jenem Sommer fuhren wir nach Texel. Meine Eltern besaßen dort ein kleines Ferienhäuschen und wir verbrachten in der Regel drei Ferienwochen dort. Margarete kam oft dazu und diesmal war auch meine Schwester für ein paar Tage da. Mittlerweile lebte sie in den Staaten und arbeitete als Tänzerin am Broadway. Ursel ging ihren ganz eigenen Weg und manchmal stahl sich ein kleines Gefühl von Neid in meine Brust. Sie hatte keine Verpflichtungen. Machte nur das, was ihr gefiel. Tingelte ein wenig um die Häuser. Erlebte allerlei lustige Geschichten, die sie mir abends bei zuviel Wein erzählte. Auch ernste Töne waren dabei. In ihrem Beruf hatte sie oft Existenzängste. Sie merkte, dass ihr Körper nicht mehr alles verzieh und dachte darüber nach, eine Tanzschule zu eröffnen und der Bühne Lebewohl zu sagen. Ihre Neffen liebten die außergewöhnliche Tante sehr. Ursel sprach mit einem ulkigen amerikanischem Dialekt und brachte damit beide immer zum Lachen. Mit Martin wanderte sie viel durch das Watt und ließ Drachen mit ihm steigen, so wie wir es in Kindertagen getan hatten. Sie war es, die Jan zuhörte und uns bei der Verabschiedung mahnte, auf den Kleinen besonders zu achten. In eine ähnliche Kerbe stieß wenige Wochen später Jakob.
Das Schuljahr hatte begonnen und Paul war auf einer Geschäftsreise. Mich hielt Martin auf Trab, der für ein Schulprojekt meine Hilfe brauchte. Wir bastelten an einem Sonnensystemmodell. Martins Perfektionismus machte ein zügiges Vorankommen unmöglich. Der Maßstab musste eingehalten werden, erklärte er mir eifrig. Immer wieder lief er mit dem Lineal umher und begutachtete unser Endergebnis dann kritisch. Lächelnd strich ich ihm über den Schopf. Mächtig gewachsen war er in den letzten Monaten, mit fast 13 klopfte außerdem die Pubertät laut an die Tür.
"Na gut", meinte er endlich. "Aber wie bekomme ich das in die Schule?", fragte er.
"Ich fahre dich und Jonas morgen und hochtragen schafft ihr bestimmt", zwinkerte ich. Mein Sohn nickte zufrieden.
"Darf ich dann noch los?", wollte er wissen. Mein Blick wanderte zur Uhr.
"Wir essen um Sieben", schlug ich als Kompromiss vor. Paul war nicht da und eine Ausnahme konnte nicht schaden.
Sofort strahlte Martin und im Überschwang drückte er mir einen seiner seltenen Küsse auf die Wange.
"Aber du räumst dann hinterher hier noch das Chaos auf!", rief ich ihm hinterher, als er in den Flur eilte.
"Versprochen!", rief er zurück, während er schon in seine Sportschuhe fuhr. Ich sah noch, wie er seinen Fussball unter den Arm klemmte und dann fiel schon die Tür ins Schloss. Mit einem Mal war es fast zu leise im Haus. In der Küche stellte ich das Radio an und entschied, schonmal das Gemüse für den Abend zu putzen.
Im Hof lag Sunny, der die Werkstatttür im Auge hatte. Vermutlich wartete er auf Jan und Jakob, wie auch ich. Am Mittag hatte es wieder Tränen bei den Hausaufgaben gegeben. Da ich mit Martin sein Projekt beenden hatte wollen, hatte ich Jan schlussendlich Aufschub gewährt. Vor dem Abendessen aber, so hatten wir es vereinbart, wollten wir uns an den Rest setzen. Viel war es nicht, nur ein paar Rechenaufgaben und eine Diktatvorbereitung. Doch ich kannte mein Kind. Wir würden dafür eine Weile sitzen. Als ich eine halbe Stunde später meine Hände am Geschirrtuch trocknete, war von Jan noch nichts zu sehen. Also entschied ich, ihn zu holen. Mich ärgerte, dass Jakob, der die Diskussion am Mittag mitbekommen hatte, den Jungen nicht von sich aus vorbei schickte. Sunny sprang auf und kam schwanzwedelnd auf mich zu, als ich vom Haus zur Werkstatt ging.
Die Tür stand einen Spalt offen und ich konnte Jakob sprechen hören. Er stand hinter seinem Enkel und erklärte ihm ruhig, wie er das Holz zu bearbeiten hatte. Dann führte Jan die Bewegung aus und beide schwiegen einträchtig dabei. Hier und da korrigierte Jakob die noch ungelenken Bewegungen Jans.
"Ich störe euch ungern, aber da warten noch Hausaufgaben", sagte ich. Dabei betrat ich den Raum. Vor Jan lag ein Stück Holz, aus dem offenbar ein kleines Häuschen werden sollte. Vermutlich für das Spielzeugfort, das er zusammen mit seinem Großvater baute. Jakob hob den Kopf und nickte mir freundlich zu, dann fuhr er Jan über die Schultern.
"Wir haben ganz die Zeit vergessen, Anke. Verzeih", meinte mein Schwiegervater milde. Dann sah er Jan an. "Wir machen hier morgen weiter."
Sofort verzog Jan sein Gesicht, dann rutschte er unwillig vom Drehhocker. Er kaute auf seiner Lippe und machte keinerlei Anstalten, mir zu folgen. Irritiert blieb ich stehen.
"Kommst du, bitte", forderte ich ihn auf. Unsicher sah Jan zwischen seinem Opa und mir hin und her. Seufzend übernahm Jakob.
"Lauf schon rüber, wasch die Hände und hol die Sachen raus. Die Mama und ich kommen gleich." Endlich kam Bewegung in den Buben. Er trottete an mir vorbei und Sunny folgte ihm zum Haus. Fragend sah ich meinen Schwiegervater an. Der hielt einen Lumpen in den Händen und säuberte seine Finger.
"Anke, habt ihr mal überlegt, dass hinter Jans Überforderung mehr stecken könnte?", fragte er.
"Er braucht sein Tempo", gab ich zurück. "Jan ist nicht dumm", verteidigte ich meinen Sohn. Jakob schüttelte milde den Kopf.
"Nein, keinesfalls. Und ganz bestimmt muss er in seinem Tempo lernen, aber das meine ich nicht, Anke."
Er verstaute den Lumpen in einer Box und räumte Jans Werkstück in ein Regal. Seine nächsten Worte trafen mein Mutterherz tief. Und ich habe sie nie vergessen. Hätte ich sie ernster nehmen sollen?
"Jan leidet. Verliert sich in Träumereien." Mein Schwiegervater lehnte an der Werkbank, an der eben noch mein Sohn gesessen hatte. "Er braucht eure Hilfe, Anke. Oder Hilfe von Außen." Er legte seinen Kopf schief und sah mich aufmunternd an.
"Wir wissen, dass er nicht dumm ist. Aber weiß er das? Der Junge braucht irgendwas, was ihm mehr Selbstvertrauen gibt. Hier drinnen blüht er auf, wenn ich ihn lobe oder ihm zutraue, dass er etwas alleine versuchen darf."
Nun kämpfte ich mit den Tränen. Mein Schwiegervater kam näher und schloss mich in seine Arme.
"Was machen wir nur falsch?", fragte ich nach einer Weile. Jakob lachte leise und wir verließen zusammen die Werkstatt. Während er sorgfältig die Tür absperrte und den Schlüssel einsteckte, antwortete er mir.
"Ihr macht doch nichts falsch. Das habe ich auch nicht sagen wollen. Meine Anmerkung zielte eher darauf ab, dass Jan vielleicht ein bisschen mehr Unterstützung braucht als andere Kinder." Nachdenklich folgte ich ihm ins Haus. In der Stube wartete Jan, vor ihm lag sein Mathebuch auf dem Tisch und er hielt schon einen Bleistift in der Hand. Immerhin hatte er schon angefangen.
Jakob legte mir einen Hand in den Rücken. "Mathe übernehme ich", zwinkerte er mir zu und mir fiel ein Stein vom Herzen. Und auch Jan sah seinen Großvater erleichtert an, als der sich neben ihn setzte. Aufmerksam hörte Jakob zu, als Jan seiner Bitte nachkam und erklärte, was er zu tun hatte. Hier und da fragte er kritisch nach und wieder einmal zeigte sich, dass Jan offenbar nicht immer zugehört hatte. Mit viel Geduld führte Jakob den Jungen durch die Aufgaben. Ich ließ die Beiden alleine und deckte den Tisch für das Abendbrot. Elli winkte herüber, als sie mit einem Eimer in Richtung der Ställe ging. Nach einer halben Stunde löste ich Jakob ab und übte mit Jan die Worte für das anstehende Diktat.
Er war müde, das konnte ich sehen. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl umher. Mit seiner Hand verschmierte er regelmäßig die Wörter, die er zumindest richtig aufs Papier gebracht hatte. Ich ließ es gut sein. Klappte das Buch zu und strich ihm über den Schopf.
"Räum zusammen, Schatz. Das war alles gut. Schau nur, dass du morgen die Tinte trocknen lässt", empfahl ich ihm. Betrübt blickte Jan seine Finger an.
"Entschuldigung", murmelte er.
"Ach, Schatz. Das ist nicht schlimm. Das waschen wir gleich weg. Nur, deine Lehrerin kann vielleicht die Wörter nicht mehr erkennen und es wäre ja schade, wenn du alles richtig hättest und sie es nicht sieht, oder?"
Nickend schloss Jan den Ranzen. Mit einem Kuss schickte ich ihn in das kleine Badezimmer. Gerade als ich mich fragte, wo sein Bruder blieb, klapperte die Tür. Zusammen mit Elli betrat Martin das Haus und strahlte über das ganze Gesicht. Er hatte rote Wangen und ließ seinen Fußball achtlos fallen.
"Ich hab so einen Hunger, Mama!", rief er. Eilig schlüpfte er aus den Schuhen.
"Wir haben nur auf dich gewartet", meinte ich lächelnd. Ich wandte mich der Küche zu und hörte noch, wie Martin mit Jan im Badezimmer um ein Handtuch stritt. Seufzend holte ich das vorbereitete Ofengemüse heraus. Elli mischte sich nebenan ein und Martin verstummte.
Hinter mir ging die Kellertür und Jakob tauchte mit zwei Flaschen Bier auf. Er sah mich an und ich nickte nur. Elli kam mit den Kindern herein, die sie sofort ihre Plätze einnahmen. Noch während ich das Essen verteilte, begann Martin von seinem Nachmittag zu erzählen. In epischer Breite ließ er uns teilhaben, wen er alles auf dem Sportplatz getroffen hatte und holte zwischen den Bissen kaum Luft. Jan stocherte ein wenig lustlos mit der Gabel auf seinem Teller umher und gähnte leise vor sich hin. Ich beobachtete meine Söhne und schüttelte innerlich wieder einmal den Kopf. Zwei Kinder. Die unterschiedlicher nicht sein könnten und die zweifellos beide unsere waren. Als ich später Jan ins Bett brachte, fielen mir Jakobs Worte wieder ein. Hätte ich damals gewusst, was uns bevorstand, ich hätte die Beine in die Hand genommen und seinen Rat befolgt.