Es waren kleine Schritte, aber immerhin ging Jan sie. Kurz nach Ostern überraschte er uns mit dem Wunsch, dass er gerne wieder Gesangstunden hätte.
"Wie ist es denn im Chor?", fragte ich ihn. Wir saßen an diesem Samstagmorgen in der Küche. Martin saß ziemlich verschlafen vor seinem späten Frühstück und Paul hatte den Einkaufszettel vervollständigt. Er hob interessiert den Kopf. In den letzten Wochen hatte insbesondere er jede Bemühung und jede noch so kleinste Besserung gelobt. Seitdem er Jan in dieser einen Nacht auf der Treppe beruhigt hatte, war er deutlich milder im Umgang mit unserem Jüngsten. Jan brauchte uns, hätte aber doch so viel mehr von uns gebraucht. Dass er wieder singen wollte, wertete ich sofort als gutes Zeichen. Jans Blick ging zum Fenster, dann wieder zu uns.
"Ich mag erstmal alleine singen", antwortete er mir dann.
Paul runzelte die Stirn. Martins Geduld machte sich langsam bezahlt. Jan hatte ein paar Klassenarbeiten nach Hause gebracht, die uns hoffen ließen. Die Lehrer hatten uns signalisiert, dass man alles dran setzte, um Jan mit in die nächste Stufe zu nehmen. Ich warf meinem Mann einen langen Blick zu, den er Gott sei Dank auch sofort verstand. Er räusperte sich. Es war so typisch für Jan, dass er geduldig wartete und nicht weiter fragte. Martin hätte uns diese Zeit zum Nachdenken niemals gegeben.
"Gut. Was hältst du davon, wenn wir das mit Herrn Lüders und Herrn Wittkamp besprechen?", fragte Paul. Aufmerksam hatte Jan zugehört. Er nickte leicht. Nur für eine Sekunde hatte es in seinen Augen geblitzt. Jan freute sich, aber er wollte es uns nicht zeigen. Er biss sich auf die Unterlippe und bedankte sich leise. Ich war aufgestanden, weil ich die Kaffeekanne holen wollte und wuschelte ihm im Vorbeigehen durchs Haar. Das erste Mal seit seiner Rückkehr aus der Reha, dass er nicht sofort zurückwich.
"Ist noch was?", fragte Paul, der Jan auch im Blick behielt. War da ein Zögern gewesen? Ich weiß noch, dass ich etwas irritiert war, weil meiner Meinung nach Jan etwas hatte sagen wollen. Als ich später am Tag Paul danach fragte, bestätigte er meinen Eindruck nicht.
Wir hatten in all den Monaten engen Kontakt zur Schule gehalten. Wir wussten, dass Jan im Chor nach wie vor nur dabei saß und in den Orchesterproben kein Instrument angerührt hatte. Dafür hörte er aber aufmerksam zu und er war dabei beobachtet worden, dass er in jeder Sekunde bewusst dabei war. Wir hatten befürchtet, dass er dort mit offenen Augen träumte, aber Lothar Wittkamp hatte uns dahingehend beruhigt. Jan fühlte die Musik nach wie vor, summte manchmal leise mit. Nur sich darüber wieder selbst ausdrücken, das ging noch nicht.
Der sympathische Musiklehrer war es auch, der die Gesangstunden als Einstieg für eine gute Idee hielt. Der uns sogar bestärkte und damit argumentierte, dass unser Sohn Trost in der Musik suchen könnte. Und im Grunde hatte er recht, schon damals war es eine Art Therapie für Jan. Vermutlich hatte es ihn unwahrscheinlich belastet, dass ihn die Stimme verlassen gehabt hatte. Heute weiß ich, wie wichtig diese Kompensation sein kann. Hätten wir ihm diesen Zugang nur früher ermöglicht. Vielleicht hätte sich in seiner Seele weniger festgesetzt. Jan war weit davon entfernt ein unbeschwertes Kind zu sein. Doch wir ließen uns blenden. Weil wir dachten, dass er mit der Musik einen wichtigen Schritt zurück in die Normalität ging. Heute weiß ich, dass er verzweifelt nach Hilfe suchte. Nach einem Weg heraus. Längst war das schwarze Loch, vor dem er so Angst gehabt hatte vor einigen Jahren, nah an ihn herangerückt.
Wir entschieden früh im Jahr, dass wir diesen Sommer lange nach Texel fahren würden. Paul hatte einige Mandanten an seine Mitarbeiter verteilt und war deutlich kürzer getreten. Er wollte verhindern, dass er in den Ferien ins Büro musste. Wir brauchten Familienzeit. Mussten auch gemeinsam Ruhe und Erholung finden.
Zudem entschlossen wir uns, frei gewordene Pferdeboxen nicht neu zu vermieten. Dabei hatten wir nach wie vor viele Anfragen. Auch die Ferienwohnung stand seit dem Winter leer. Rein finanziell konnten wir uns es uns leisten. Jakobs Erbe hatte einen nicht unwesentlichen Teil dazu beigetragen. Auch Pauls Brüder hatten nicht mit dem Vermögen des Vaters gerechnet. Und Jakob hatte jedem einen gerechten Anteil überlassen. Pauls ältester Bruder Heinrich, von allen nur Hien genannt, zog nach seiner Scheidung zurück in die Heimat. Er wohnte übergangsweise in der kleinen Wohnung, ehe er ein paar Ortschaften weiter eine Arbeit und ein neues Heim fand.
Martin freute sich auf seine letzten Sommerferien. Seine Mission Abitur lief nach eigenen Aussagen nach Plan und er bereitete schon seine Unterlagen für das Studium vor. An den Wochenende zog er um die Häuser. Freitagabends, nach dem Fußballtraining, ging es in die Disko. Samstag half er immerhin Zuhause, aber abends war er in der Regel wieder unterwegs. Man muss ihm zugute halten, dass er sonntags nie den Gottesdienst und das Mittagessen versäumte. Und er war auch immer pünktlich auf dem Sportplatz. Seit Karola hatte er kein Mädchen mehr mitgebracht, aber seinen Erzählungen entnahm ich, dass er durchaus Verabredungen hatte.
Sein Zeugnis präsentierte er uns dann voller Stolz und ließ verlauten, dass er mit einem Notenschnitt von 1,5 im Abitur rechnete.
"Damit sollte die Zulassung an der Uni ein Klacks sein", meinte er zwinkernd. So war er eben. Mit Schuljahresbeginn hatte er auch vor, direkt den Führerschein anzugehen. Zusammen mit Hien und Paul suchte er nach einem Kleinwagen. Wir hatten ihm ein Budget festgesetzt und vereinbart, dass wir ihm das Auto zum Geburtstag schenken durften. Den Führerschein, darauf hatte er bestanden, wollte er aber alleine finanzieren. Hier und da war er die Vernunft in Person, ab und an schlug er ordentlich über die Stränge. Dass er dennoch so gute Noten hatte lag weiterhin an seiner Auffassungsgabe. Martin musste wenig lernen, nach wie vor fiel es ihm leicht. Er freute sich auch deshalb so auf das Studium, weil er hoffte, dass er dort mehr gefordert werden würde.
Es wurde Juli. Ein Bilderbuchsommer. Die letzte Schulwoche. Paul bereitete das Büro auf seine Abwesenheit vor. Ich kümmerte mich um die Vorbereitungen für Texel. Wusch und packte, lernte eine von Martins Klassenkameradinnen ein. Nicole würde in den nächsten vier Wochen die Pferde versorgen. Annemarie würde ihr helfen und sich um den Garten kümmern. Die Notenkonferenzen waren durch und wir atmeten auf. Die Fünf in Mathe hatte Jan nicht wegbekommen, aber überall sonst hatte er sich um diese eine Note verbessert, die es brauchte. Es war knapp gewesen, keine Frage. Aber Jan hatte sich durchgebissen. Und das trotz der ganzen Umstände.
Natürlich waren da Bedenken. Im Herbst würden Fächer dazukommen und das Pensum sich steigern. Doch erstmal sollte auch er die Ferien genießen. Ich hatte ihm schon versprochen, dass wir auf die Insel keine Schulbücher mitnehmen würden. Ich hoffte, dass das Wetter halten würde, damit er viel draußen sein konnte. Sunny kam natürlich mit, mittlerweile war der Collie fast 9 Jahre alt. Martin hatte einen Stapel Autozeitschriften angeschleppt, weil er sich noch Wissen aneignen wollte. Ich musste schmunzeln, als wir endlich das Auto beluden. Ich freute mich auf diesen Urlaub. Den letzten, den wir gemeinsam als Familie verbrachten. Martin hatte schon angekündigt, dass er nach dem Abitur mit Jonas verreisen wollte. Interrail. Um so mehr war ich dankbar, dass wir diesen Sommer nochmal zusammen verbringen konnten.