David an diesem Abend ins Bett zu bekommen war gar nicht so einfach. Mehrfach hatte er versucht in das schon geschmückte Wohnzimmer zu gelangen. Die Aufregung war einfach zu groß, der Kleine fieberte dem Christkind sehr entgegen und erinnerte mich dabei sehr an seinen Vater. Irgendwann hatte sich Martin eine lange und spannende Geschichte ausgedacht, über die der Junge dann eingeschlafen war. Unser Großer hatte sich anschließend verabschiedet, da er in seiner Wohnung auf Nele warten wollte.
Jan verschlief diesen Abend. Isabelle hatte nochmal nach ihm gesehen und kam auf unseren Vorschlag dann in die Bibliothek. Wir hatten eine Flasche Wein geöffnet und ihr angeboten, sich zu uns zu setzen.
"Ist oben alles in Ordnung?", fragte ich, als sie sich setzte. Sie nickte.
"David schläft tief und fest. So süß, der alte Teddy." Sie schmunzelte und nahm von Paul ihr Glas entgegen. "Auch Jan schläft. Die Schmerzmittel sind nicht ohne, die setzen ihn ordentlich außer Gefecht. Ein bisschen Temperatur hat er, aber ansonsten er war ganz ruhig."
Sie betrachtete ihr Glas. Lobte den Wein, als sie ihn probiert hatte und lehnte sich dann im Sessel zurück.
"An und für sich hätte ich gerne den Verband gewechselt, aber ich wollte ihn nicht wecken", meinte sie dann. Ich schüttelte den Kopf und gab ihr recht, dass dies sicherlich Zeit bis morgen früh hatte. Jan hatte so geschafft ausgesehen, er sollte wirklich einfach nur durchschlafen. Zögerlich fragte ich dann, was eigentlich passiert war seit Davids Geburtstag.
Mit einem tiefen Seufzer schloss Isabelle kurz die Augen. Dann begann sie zu erzählen, zumindest von dem, was sie wusste, da auch sie an diesem Abend erst dazugekommen war, als Jan die Eltern Dianas schon der Wohnung verwiesen hatte. Kopfschüttelnd saß Paul neben mir, als Isabelle berichtete, was Jan ihr erzählt hatte. Offenbar waren Meisters schnell forsch geworden, hatten ihm Vorwürfe gemacht und ihm an den Kopf geworfen, dass er den Kleinen nicht erziehen würde. Die Situation hatte sich soweit hochgeschaukelt, dass Jan sie gebeten hatte zu gehen. Danach war er mit Diana aneinandergeraten, die offenbar erst mit Spott auf seine Aktion reagiert hatte und dann die Taktik geändert hatte.
Aufmerksam setzte ich mich auf.
"Was soll das bedeuten?", wollte ich wissen. Isabelle schluckte schwer, dann sah sie mich mit sehr traurigen Augen an.
"Sie hat Jan weisgemacht, dass sie ihn vermissen würde. Also vor allem körperlich. Keine Ahnung, wie weit sie gegangen wäre, wenn ich nicht dazugekommen wäre. Offenbar hat sie versucht, ihn zu überreden. Hat ihn auch angefasst, was er nach eigener Aussage versucht hat zu unterbinden. Für mich wirkte es so, als sei er nicht abgeneigt. Sie standen eng beieinander und erst viel später habe ich verstanden, dass sie das provoziert hat. Sie wollte, dass ich es so sehe. Er hat sie angebrüllt, das halbe Haus muss das mitbekommen haben."
Verlegen biss sie sich auf die Lippe. "Bisher habe ich nur Jule davon erzählt. Diana ist zwar direkt abgezogen, als ich in der Wohnung war, aber ich habe Jans Schweigen nicht ertragen. Seine Passivität. Da kam einfach nichts. Keine richtige Erklärung und vor allem kein Bekenntnis zu mir. Also habe ich entschieden, dass ich gehe und bin im Treppenhaus auf Jule und Tom gestoßen."
Paul runzelte die Stirn und nahm einen Schluck. Das Schweigen aller nutze ich, um ansatzweise zu verstehen, was Isabelle da erzählte.
"Was hat der Kleine mitbekommen?", fragte mein Mann dann. Jans Freundin atmete durch.
"Zunächst wohl nichts. Dass seine Großeltern gegangen sind auf jeden Fall erstmal nicht. Er hat dann wohl gesehen, dass Diana und Jan stritten. Wobei Jan versucht hat, da noch ruhig zu bleiben und ihn immer wieder in sein Zimmer geschickt hat. Die Brüllerei, als ich kam, die muss auch David gehört haben. Aber er saß in seinem Zimmer und spielte, hat nicht mitbekommen, dass ich überhaupt da war. Jule und Tom haben sich um ihn gekümmert an dem Abend. Die versprochene Pizza für ihn gemacht und Tom hat lange mit ihm gespielt. Die ganzen Geschenke waren wahrscheinlich aufregend genug. Ich wollte auf jeden Fall erstmal Abstand. Jule hat mich verstanden und mir versprochen, dass sie ein Auge auf Jan hat. Ich konnte das in dem Moment einfach nicht. Am nächsten Morgen ist er dann nach Hamburg geflogen, ohne dass wir nochmal Kontakt hatten. Das ging von mir aus, da mache ich ihm keinen Vorwurf, er hat es mehrfach versucht. Dann meldete sich sein Kollege bei mir und auch Jule und sie haben mich überredet, dass ich nach München komme. Jan hatte mich an und für sich fragen wollen. Die Anreise war schon organisiert und ein Ticket für mich hinterlegt. Er wollte mich bei der Promotion für das kommende Engagement dabei haben. Leider hat er mich aber eben nicht gefragt, eben gar nichts gesagt. Und ja, ich war sauer. Richtig. Wir hatten so lange Gespräche, nachdem er letztens ohne ein Wort zu euch verschwunden war. Er hatte mir versprochen, dass er mich nicht mehr ausschließt. Dass wir es gemeinsam probieren wollen. Und dann das. Diana hat mich beschimpft, mich beleidigt. In seinem Beisein. Und er macht nichts. Gar nichts."
Ich betrachtete die junge Frau im Sessel gründlich. Sie hatte sehr sachlich, wahrscheinlich sogar bewusst sachlicher als ihr zumute war, erzählt. Dennoch konnte ich auch sehen und spüren, wie viel Emotion mitschwang. Innerlich zog ich meinen Hut vor ihr. Zum einen, weil sie Jan gegenüber sehr klar kommunizierte und ihn forderte und zum anderen, weil sie in der Lage war, auch ihr Verhalten zu reflektieren. Schon hier, an ihrem ersten Abend bei uns, zeigte sie einen kleinen Einblick auf ihren Umgang mit Jans Krise. Und trotz aller Verbitterung, die ich aus der Szene mit Diana herausgehört hatte, war da viel Kampfgeist, Mut und Kraft. Sie liebte ihn nicht nur, sie würde mit und um ihn kämpfen. Das war mir schon da klar und es gab mir in den folgenden Wochen viel Hoffnung.
Wir hörten zu, wie sie dann weiter berichtete. Dass es Jan schon in München nicht gut gegangen war, wie auch in den Tagen zuvor. Erstmals gesorgt hatte sie sich dann am Morgen. Aber schon da waren ihr die Tabletten in die Hände gefallen, die ihm später beinahe zum Verhängnis geworden waren. Von Dr. Jäger hatte er sie bekommen. Verbunden mit dem Versprechen, maximal eine am Tag zu nehmen, falls ihm das Lampenfieber zusetzte. Sie waren abgezählt gewesen, die Therapeutin hatte sich auf ihn verlassen. Und dennoch waren kaum noch welche übrig, als Jan an diesem Morgen in den Zug stieg. Das realisierte aber auch Isabelle erst später.
"Die Fahrt war anstrengend. Florians Sohn und David kabbelten sich, konnten nicht still sitzen und all das zerrte an Jans Nerven. Leider sagte er mir erst nach zwei Stunden, wie stark die Schmerzen wirklich waren. Da ihm permanent übel war, er sich mehrfach übergeben hatte und gerade ein Infekt herumging, vermuteten wir, dass er sich wo angesteckt hatte. Flo war noch so lieb, einen Termin bei seinem Hausarzt in Wien zu organisieren und Alex hatte Jan schon ein Bühnenverbot erteilt. Er wollte ihn gar mit uns direkt auf die Heimreise schicken. Dazu kam es aber nicht mehr. Gott sei Dank hat Florians Arzt die Praxis nicht weit vom Bahnhof. Er kam dazu, als Jan zusammenbrach und verständigte sofort die Rettung. Es ging alles furchtbar schnell. Florians Nanny war gekommen und nahm die Kinder mit und ehe ich es begriff, saß ich mit Alex in der Notaufnahme." Sie räusperte sich und ihr Blick wurde ernst.
Die Ärzte hatten ihr später erklärt, dass Jans Kreislauf während der Operation zweimal abgesackt war und die Tabletten wie ein Katalysator gewirkt hatten.
"Er hat sich schon in Wien ein paar Takte dazu anhören dürfen. Diazepam macht zudem schnell abhängig. Ich war dann auch Zuhause mit beim Hausarzt und bei der Therapeutin. Beide haben ihm klare Ansagen gemacht. Weder Dr. Krüger noch Dr. Jäger waren sonderlich zimperlich zu diesem Thema. Sie haben auch untereinander gesprochen, um Doppelrezepte in der Zukunft zu vermeiden. Gerade die Therapeutin war sehr angetan davon, dass ich ab und an bei Gesprächen dabei bin. Sie sagt, dass es wichtig ist, dass auch der Partner eingebunden ist. Und Jan weiß, dass ich ihm aktiv helfen möchte."
Als sie Diazepam erwähnte griff ich nach Pauls Hand. Natürlich hatten wir auch schon davon gehört. Aber natürlich hatten wir keine Ahnung gehabt, dass unser Sohn welches nahm. Ein bisschen war ich enttäuscht, dass Dr. Jäger ihm diese auch noch verschrieben hatte. Isabelle nahm die Psychotherapeutin in Schutz. Es hatte eine Hilfestellung sein sollen und Jan hatte versprochen, damit verantwortungsbewusst umzugehen. Dass er sich wegen der Bauchschmerzen auch Ibuprofen und Aspirin besorgt und dies alles gleichzeitig geschluckt hatte, war nicht vorhersehbar gewesen. Im OP hatte diese Mischung den Chirurgen Kummer bereitet und Jan hatte deutlich länger auf der Intensivstation verbracht, als üblich. Daher war Schonung verordnet worden. Dass er jetzt überhaupt hier war, war der Gutmütigkeit eines Arztes in Wien zu verdanken.
Wir erfuhren noch so allerlei. Dass David sich schnell gefangen hatte nach der Aufregung in Wien. Dennoch hatte es Tränen gegeben, als er nicht über Nacht hatte bei seinem Vater bleiben würfen. Der Kleine sei in den letzten Tagen furchtbar anhänglich gewesen und hatte Jan kaum aus den Augen gelassen. Isabelle, die Pädagogik studiert hatte, vermutete, dass der Junge sehr viel mehr von dem Stress seiner Eltern untereinander mitbekommen hatte, als es auf den ersten Blick den Anschein machte. Und ganz offenbar fühlte er sich als Beschützer seines Vaters. Er spürte und begriff mit seinen vier Jahren schon sehr gut, dass Diana Jan sehr verletzt hatte.
Mittlerweile war die Weinflasche leer. Paul hatte seine Pfeife erneut gestopft und blickte gedankenverloren in die Kerze. Er hatte überwiegend ruhig zugehört und wenig kommentiert. Isabelle hatte sich eine der Decken gegriffen und sich in den Sessel gekuschelt. Draußen fielen Schneeflocken lautlos auf die feste Schneedecke. Es war schon nach Mitternacht.
"Ihr habt ein wunderschönes Heim. Jan hat schon davon erzählt, aber es ist noch so viel gemütlicher, als er es beschrieben hat." Sie lächelte und ihre Augen wanderten vom Bücherschrank zur Bilderwand.
Nickend folgte ich ihrem Blick durch den Raum.
"Schön, dass du dich wohlfühlst. Wir hoffen sehr, dass es vielleicht auch dir ein Zuhause sein kann. Und dass Jan diesen Ort als Rückzugsmöglichkeit versteht." Wie schön es doch war, diese bemerkenswerte Frau kennen zu lernen. Wie sehr ich mir an diesem Abend wünschte, dass es für die Beiden eine Zukunft gab. Ahnte Jan, wie sehr sie ihn liebte? Wie bereit sie war?
Wir sprachen dann über andere Themen. Vor allem ich wollte mehr über Isabelle erfahren. Aufgewachsen mit einem Bruder, in einem liebevollen Elternhaus. Der Vater hatte eine kleine Handwerkerfirma, die Mutter im Einzelhandel gearbeitet. Bis vor ein paar Jahren war Isabelle mit ihrer Jugendliebe liiert gewesen, aber man hatte sich nach dessen beruflichen Umzug nach London auseinandergelebt. Sie waren sich freundschaftlich verbunden, Mike hatte eine Engländerin geheiratet und wurde bald Vater.
Die Brünette liebte Kinder und Tiere, hatte selbst zwei Katzen. David liebte die Beiden natürlich. Sie gestand mir, als Paul die zweite Flasche Wein geöffnet hatte, dass sie sich schon bei Davids Schnuppertag vor eineinhalb Jahren unseren Sohn als äußerst attraktiv eingestuft hatte. Aber es hatte sich dann herausgestellt, dass er vergeben war. Der Funke war übergesprungen, als Diana ihn gerade verlassen hatte. Wir tauschten ein paar Anekdoten. Sie erzählte von David, dessen fröhliches Gemüt in der Kita sehr beliebt war. Im Gegenzug teilte ich ein paar der unbeschwerten Erlebnisse mit Jan.
Nur Paul saß hauptsächlich schweigend dabei. Manchmal hörte er uns ganz genau zu, ergänzte wortkarg hier und da, aber meistens schien er ganz weit weg zu sein. Ganz entgegen seiner Gewohnheit hatte er sich noch eine Pfeife angesteckt. Fred schlief auf seinen Füßen. Ab und an zuckten die kleinen Pfoten. Die erste Kerze auf dem Adventskranz war beinahe heruntergebrannt, als ich wieder auf die Uhr sah. Endlich räusperte sich Paul und setzte sich auf. Er zog an der Pfeife und sah Isabelle lange an.
"Isabelle, was genau hat Jan über den Abend und das was Diana getan hat erzählt?", fragte er schließlich. "Was genau heißt, sie hat ihn vermisst? Was bedeutet, sie hat ihn angefasst?"
Die junge Frau war schon dabei gewesen, die Decke zusammen zu falten und hatte sich aus dem Sessel erhoben. Jetzt hielt sie inne.
"Auf was möchtest du hinaus?", fragte sie Paul. Der zuckte die Schultern. "Ich verstehe das einfach nicht, Isa. Diese Hexe hat unseren Sohn jahrelang betrogen. Zudem hat sie sich immer wieder verhalten, als wäre er ihr egal. Was auch immer die Beiden zusammengehalten hat, eine Liebe oder Beziehung auf Augenhöhe war es nicht. Jan hing an ihr, keine Frage. Hat versucht für sie alles richtig zu machen. Dann geht sie einfach. Lässt ein paar Zeilen und eine bittere Wahrheit zurück. Nun will sie ihn wiederhaben? Oder spielt sie mit ihm, weil ihr das Kind entgleitet? Oder, einfach mal ins Blaue gesprochen, weil sie keine Macht über ihn mehr hat? Weil er dich kennengelernt hat und ihr nicht mehr nachtrauert? Was will sie? Was setzt sie ein? Wenn sie provoziert, dass du die beiden so entdeckst, vermutlich in der Hoffnung, dass du ihn dann fallen lässt, was wird sie erst tun, wenn sie merkt, dass das nicht funktioniert?"
Seine stahlblauen Augen ruhten auf ihr, während ich ihn sprachlos anstarrte. Bei den ganzen Gedanken, die wir uns wegen Jan und David gemacht hatten, hatten wir gar nicht nach dem Warum gefragt. Isabelle hatte die Decke fallen lassen und sank auf den Sesselrand.
"Gute Frage", murmelte sie. Dann sah sie Jans Vater an. "Er ist nicht ins Detail gegangen. Sie habe versucht ihn zu küssen, was er unterbunden habe. Da sei nichts passiert, auch wenn sie es darauf angelegt hatte. Vorher habe sie ihn noch beschimpft und er sei völlig perplex gewesen. Mehr hat er nicht gesagt. Nur eben ihre Worte, dass sie ihn vermissen würde, besonders das Körperliche." Nun lag ihre Stirn in Falten. "Zu mir sagte sie, als sie die Wohnung verließ, dass ich keine Chance habe."
In meiner Brust wurde es eng. Ein mulmiges Gefühl, dass ich mittlerweile gut kannte. Dianas Gift. Kein Wunder hatte Isabelle auch Abstand gebraucht, ich konnte sie verstehen. Ich konnte aber auch meinen Sohn verstehen, der sich so schwer tat sich zu öffnen. Hatte er die Kraft, sich hier zu wehren? Grenzen zu setzen gegenüber der Frau, die ihn jahrelang gut im Griff gehabt hatte? Ich dachte im Bett noch lange nach, auch Paul blieb schweigsam. "Es liegt was in der Luft", flüsterte er, als er mich irgendwann fest in seine Arme zog. Ich kam nicht umhin, ihm recht zu geben. Die Vorahnung kitzelte mich regelrecht.