„Wo bist du gewesen?", empfing Molly Weasley Harry mit verschränkten Armen und einem strengen Blick. Sie sah ihn abschätzend an und zog ihre Augenbrauen ärgerlich zusammen. Harry blieb unsicher in der Tür zur Küche stehen und wich ihren vorwurfsvollen Blicken aus. Er fühlte sich unwohl dabei, so im Visier dieser Hexe zu sein. Es war wie damals im zweiten Schuljahr, als ihn Fred, George und Ron mit dem fliegenden Auto seines Vaters von den Dursley‘s abgeholt hatten. Aber diesmal stand er alleine da. Er senkte seinen Blick und knetete unwohl seine schwitzenden Hände. Er wollte etwas sagen, nur hatte Harry keine Ahnung, was das Richtige war. Er wusste nicht, was er sagen konnte, um sie zu beruhigen, denn die Wahrheit durfte keiner seiner Freunde oder der Weasleys erfahren.
„Weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Du warst spurlos verschwunden, keine Nachricht, kein Zeichen- nichts!"
Sie durchbohrte ihn förmlich mit ihren vorwurfsvollen Blicken. Harry schwieg. Ihre Stimme klang sauer, aber nicht so sauer, wie im zweiten Jahr, als Ron und die Zwillinge das fliegende Auto geklaut hatten, um Harry zu befreien.
„Tut mir leid, Molly", brachte er leise über seine Lippen. Ihr Blick blieb eisern, aber sie nickte und deutete Harry mit einem Nicken an, nach oben zu gehen.
Das konnte genauso lustig werden, denn Hermine war immer besorgt.
Langsam stieg Harry die Treppe des Fuchsbaus empor, mit einer Hand am Geländer. Wie aus dem Nichts kam Hermine angeschossen und schloss beide Arme fest um den Schwarzhaarigen.
„Harry! Wo bist du gewesen? Warum hast du nichts gesagt? Wo warst du die ganze Nacht? Mit wem war-"
„Hermine, lass Harry doch erstmal antworten", unterbrach Ron sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „In mein Zimmer", forderte er kurz darauf. Harry konnte bereits an Rons Körperhaltung und seiner Betonung erkennen, dass er sauer war, da waren Hermine‘s Fragen harmlos gegen.
Hermine löste sich perplex von Harry und folgte Ron in sein Zimmer. Harry selbst ging zügig hinter ihnen her und schloss die Tür. Er sah sich um. Hermine und Ron hatten auf seinem Bett Platz genommen, direkt unter dem kleinen, schiefen Fenster. Harry selbst beeilte sich und ließ sich auf den Sessel fallen. Vorsichtig sah er auf und blickte seine besten Freunde an, erst Ron und anschließend Hermine.
„Wo bist du gewesen?", fragte Ron gerade heraus, aber als Harry nicht sofort antwortete, fuhr er verärgert fort: „Du bist mir eine Antwort schuldig, meinst du nicht? Schließlich hast du mich einfach eiskalt in der Winkelgasse stehen gelassen. Von einem Augenblick zum anderen warst du verschwunden! Kannst du dir eigentlich annähernd ausmalen, wie sauer ich war? Wie be-"
„Ron ...", versuchte Hermine ihn zu besänftigen, aber es schien nichts zu bringen. Der Rothaarige funkelte wütend zu Hermine.
„Was denn? Er hat es verdient! Er hat uns ohne eine Nachricht stehen gelassen. Uns, seine besten Freunde! Meine Mutter ist fast gestorben vor Sorge! Außerdem ist es nicht das erste Mal gewesen. Neulich war er auch schon mal eine ganze Nacht weg und ich habe es nie angesprochen. Aber jetzt? Ich will endlich wissen, was hier los ist! Ich will wissen, was er verheimlicht! Denn er tut es, ansonsten würde er ja etwas sagen."
„Du übertreibst, Ron! Harry ist fast erwachsen, er hat auch noch ein eigenes Leben und eine Menge Verantwortung. Er soll Voldemort besiegen. Und hast du mal einen Gedanken daran verschwendet, dass Harry jemanden kennengelernt haben könnte?"
„Ich.. nein", stotterte Ron und sah entschuldigend zu der Braunhaarigen, dann zu Harry.
„Du hast jemanden kennengelernt?"
Harry versuchte noch, die richtige Antwort zu finden, da war für Ron die Sache bereits gegessen. Harry spannte sich an, er war kurz davor etwas zu sagen und beide zurechtzuweisen. Sie saßen auf dem Bett und redeten, als sei Harry nicht anwesend.
„Du hast", beantwortete Ron sich selber die Frage, als der Schwarzhaarige nicht rechtzeitig antwortete.
„Also dann, Jungs", erwiderte Hermine. „Ich werde jetzt lernen." Sie sah die beiden abwechselnd an. „Ihr solltet damit auch dringend anfangen."
„Es sind Ferien, Hermine."
Harry entspannte sich ein wenig, als er bemerkte, dass die beiden miteinander diskutierten, so war er nicht mehr Hauptpunkt des Gesprächs.
„Es ist nie zu früh, sich auf das neue Schuljahr vorzubereiten. Solltest du auch dringend tun, Ron."
Sie wandte sich ab, aber da schnellte Rons Hand hervor und griff nach ihrer. „Wenn du schon lernen musst, dann tu's wenigstens hier!"
Misstrauisch blickte sie zu den beiden Jungs, nickte leicht. „Vorausgesetzt, ihr seid nicht zu laut!"
Harry und Ron warfen sich einen kurzen Blick zu. Nachdem Hermine den Raum verlassen hatte, um ihre Bücher zu holen, grinsten sich die beiden an. Harry war aber kaum später wieder ernst und blickte Ron an. „Hab ich gestern Abend irgendetwas verpasst? Ihr beide wirkt so anders."
„Wir haben uns einfach ausgesprochen und wieder vertragen. Aber das würdest du ja wissen, wenn du gestern Abend hier gewesen wärst", erwiderte der Rothaarige vorwurfsvoll und klang am Ende beinahe schon eingeschnappt.
„Fang nicht schon wied-"
„Ron ... fängst du schon wieder davon an? Vergiss das Thema! Du kannst mir lieber beim Lernen helfen. Ich bin sicher, dass Harry schlafen will."
„Eigentlich bin ich hellwach", verteidigte sich Harry, lächelte sie aber an. Immerhin wollte sie ihm helfen und ihn vor Ron verteidigen.
„Fang an zu lernen, Hermine", schnaufte Ron mit einem schiefen Grinsen, fing sich von Hermine aber einen Schlag gegen den Oberarm ein.
„Mit wem triffst du dich jetzt eigentlich immer, Harry", fragte Ron erneut und ließ somit von Hermine ab, welche erleichtert aufseufzte und ihr Buch aufschlug. Während sie darin las und förmlich jedes Wort in sich einsog, murmelte sie: „Ich will es auch wissen, Harry."
Noch immer hatte Harry keine Ahnung, was er darauf antworten sollte, denn die Wahrheit fiel definitiv weg.
„Dann anders: Wo bist du gestern gewesen? Warum verhältst du dich so anders und bist ständig weg?"
„Ich will euch nur Privatsphäre geben", erwiderte Harry und es war wirklich ein Stückchen Wahrheit darin enthalten. Er wollte den beiden ihre Privatsphäre geben, denn Harry bemerkte schon seit einiger Zeit, dass sich zwischen den beiden etwas anbahnte und dort Gefühle im Spiel waren. Nur waren sie zu stur, um sich dies einzugestehen.
„Das ist doch Unsinn!"
Hermine funkelte Harry an. „Du stellst allen Ernstes uns als den Grund da?!"
Sie deutete auf sich und Ron.
„Halt uns nicht solange hin! Wir sind deine besten Freunde, du lässt uns dafür hängen. Meinst du nicht, dass wi- AU!"
Verärgert funkelte er Hermine an und anschließend Harry, der auf gluckste und sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
„Anders bekommt man dich ja nicht ruhig", erwiderte sie schulterzuckend und ließ das Buch auf das Bett zurückfallen.
„Kein Grund mich mit deinem Buch gegen den Kopf zu schlagen."
„Doch! Harry wird es uns schon erzählen, wenn er sich dafür bereit fühlt. Aber du musst ihm auch ein klein wenig Privatsphäre gönnen. Zudem bezweifle ich, dass du ihm alles erzählst."
„Eben hast du ihm noch Vorwürfe gemacht, dass er uns als den Grund darstellt!"
„Das war etwas völlig anderes", verteidigte sich die Braunhaarige.
„Hermine!"
Harry erhob sich und sah die beiden kurz an. „Ich werde mich hinlegen", murmelte er und verließ daraufhin das Zimmer. Aber er bezweifelte, dass seine Freunde dies gehört hatten, da sie keine Reaktion gezeigt hatten. Sie waren so in ihrem Streit versunken, dass sie Harry zum Ende hin gar nicht mehr wahrgenommen hatten.
Seine Schritte führten ihn die Treppe hinunter, dass er sich hinlegen würde, war bloß eine Ausrede. Er versuchte dabei möglichst leise zu bleiben und nicht gesehen zu werden, da er nicht erklären wollte, warum er ein Buch über das „Apparate and disapparate" las. Neben der Küche zog sich ein langes Bücherregal bis an die Decke und war überfüllt mit jeglichen, alten, muffigen Büchern. Er sah sich alle Bücher genau an, fuhr mit dem Finger drüber, um auch ja keines zu übersehen. Aber schon bald musste er enttäuscht feststellen, dass es lediglich alte Schulbücher von all ihren Kindern waren und ein paar Bücher über Muggelkunde. Er zog sich ein dunkelblau eingebundenes Buch aus dem Regal, „Magic Spells". Das konnte ihm vielleicht helfen, da das Apparieren mitunter dieser Kategorie fallen könnte.
Leise, so wie er erschienen war, schlich er die Treppe wieder hinauf. Als er in seinem Zimmer war, schloss er die Tür hinter sich. Mit dem Buch ließ er sich auf sein Bett fallen, er murmelte sich unter seiner Bettdecke zusammen. Das er plötzlich alleine im Bett lag und kein spitzer Kommentar kam, fühlte sich seltsam an. Wie eine Leere, die auf seine Brust drückte. Im gedimmten Licht schlug er das Buch auf und pustete einmal drüber. Eine dichte Schicht Staub entfernte sich von den Seiten und machte die Schrift auf den vergilbten Seiten erkennbar. Die einzelnen Seiten und Zaubersprüche überflog er und nahm dadurch nur die Hälfte wahr. Inzwischen war er schon in der Mitte des Buches angekommen und bisher nicht fündig geworden. Sein Mut hatte ihn fast schon wieder verlassen, als er die nächste Seite aufschlug. Als Überschrift stand dort: „Apparate“. Aber während Harry die Seite durchlaß, verließ ihn der Mut. Diese Seite ging nicht darum, wie man das tat, sondern beschrieb was „Apparate“ eigentlich ist. Gefrustet legte er das Buch auf seinen Nachtschrank, schloss seine Augen.
Harry wollte wissen, wie man apparierte. Er wusste bisher, dass man eine Apparier-Prüfung ablegen musste. Man musste volljährig sein. Die Wirkung vom Apparieren kannte er ebenfalls, man konnte innerhalb Sekunden den Ort wechseln. Aber er konnte sich nicht erklären, wieso Draco es konnte. Er war weder volljährig, noch konnte er die Prüfung bereits abgeschlossen haben. Der Slytherin tat es verbotenerweise und dachte mit Sicherheit nicht einmal über die Risiken nach.
Es konnte doch nicht sein, dass dieser Haushalt kein Buch darüber besaß. Gleich morgen würde Harry in Flourish and Botts ein Buch darüber suchen. Vielleicht wusste Hermine etwas, ganz sicher sogar. Bestimmt konnte sie ihm alles aufzählen. Aber er konnte sie nicht fragen, denn dann müsste er sich erklären.