Eine ganze Weile hockte er neben ihm und sah ihn einfach nur an. Noch immer konnte er nicht glauben, was vor Stunden geschehen war, geschweige denn, was sein Verschulden war. Oder die Vorwürfe, die er sich dann von allen Seiten anhören durfte.
„Potter...", grummelte es neben ihm. „Hätte ich mir denken können, dass du es bist."
„Ich...-"
„Lass es!"
Harry streckte seine Hand aus und griff bestimmend nach Dracos. „Ich wollte das nicht! Ich wusste nicht, dass du es bist."
„Super! Ist dir eigentlich klar, dass du mich fast umgebracht hättest?! Dir hat nur der Wille gefehlt!"
„Ich-"
„Klappe! Wo bin ich hier überhaupt?"
„In meinem Zimmer...Draco, es tut mir wirklich leid! Ich hab dich nicht gesehen, ich wusste nicht, dass du es bist! Es war ja auch nicht deine Stimme!"
„Natürlich war es nicht meine Stimme. Irgendein Todesser, keine Ahnung wie sein Name ist, war schräg hinter dir! Ich wollte dich beschützen!"
Draco entriss ihm die Hand und setzte sich auf.
„Geh jetzt nicht..., bitte", murmelte Harry heiser. „Es tut mir wirklich leid und...- verdammt, warum kann ich die Zeit nicht zurückstellen?!"
Der Slytherin sah Harry an. Seine Gesichtszüge entspannten sich allmählich und er atmete tief durch. „Für heute bleib ich, aber ich will jetzt meine Ruhe haben."
„Wenn ich jetzt gehe, verschwindest du", murmelte Harry.
„Ich werde nicht verschwinden. Ich möchte nur gerne alleine sein. Ich habe keine Lust jetzt zu diskutieren oder zu streiten. Bitte Harry...", murmelte er erschöpft.
„Du versprichst, dass du heute Abend noch da bist?"
Erst nachdem Draco genickt hatte, strich Harry ihm die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht und warf ihm einen letzten traurigen Blick zu, ehe er sich abwandte.
„Ich werde hier sein, Potter... ich will ohnehin mit dir reden!"
Am liebsten hätte Harry etwas erwidert, aber was hätte das gebracht? Es würde zu einer Diskussion ausarten oder zu einem Streit und, wie Draco eben so schön betont hatte, darauf hatte er keine Lust. Genauso wenig, wie Harry darauf Lust hatte.
Harry trat durch die Tür und wollte sie gerade hinter sich schließen, als Draco ihn noch einmal zurückrief.
„Es ist nichts Schlechtes! Du musst dir jetzt nicht den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrechen."
„Ich..."
„Harry, bis später."
Seine Stimme klang seltsam ruhig, etwas, dass Harry gar nicht von dem Slytherin kannte.
Dann verschwand Harry aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Für ihn war es schwer, jetzt zu gehen und Draco alleine zu lassen. Vor allem, da Harry sich schuldig fühlte und er es sich von allen anhören durfte. Vor Ron hatte er allerdings die meiste Angst, da er von Harry und Draco wusste und ihm das überhaupt nicht passte.
"Harry!"
Natürlich! Hermine hatte mal wieder gelauscht "Wie war's?"
„Wie schon?! Er ist sauer, wird wahrscheinlich mit mir Schluss machen und mich umbringen. Aber ansonsten war's wirklich perfekt!"
„Jetzt sei doch nicht so sarkastisch. Er liebt dich, das weißt du. Und es ist nichts Schlimmes- seine Worte."
„Also hast du gelauscht!"
„Ich musste, du verdrehst schließlich immer alles!"
Hermine sah ihn klagend an, aber er schüttelte bloß seinen Kopf. „Stimmt doch gar ni-"
„Es stimmt und du weißt es!"
Wie er es hasste, wenn sie Recht hatte. „Na schön, es stimmt! Aber trotzdem gibt dir das nicht das Recht zu lauschen, schließlich hätten wir auch über private Sachen reden können!"
„Als ob! Malfoy wird dir nachher ordentlich den Kopf abreißen und ich werde ihn nicht davon abhalten, schließlich bist du selbst schuld! Du hast dich auf ihn eingelassen und-"
„Halt den Mund, Ron!", fuhr Hermine ihn an. „Was denn? Nur weil ich recht habe?!"
„Nein, weil du-"
„Weil ich recht habe und du es weißt, nur hast du nicht den Mut es ihm zu sagen."
„Ich steh direkt neben euch...", murmelte Harry und blickte zwischen seinen beiden besten Freunden hin und her.
„Es tut mir leid, Harry..., ich-"
„Lass es sein! Ihr habt ja recht! Draco und ich passen überhaupt nicht zusammen. Wir sind Gryffindor und Slytherin, Todesser und Held und Mann und Mann... wie kann das schon gut gehen? Es war doch klar, dass es irgendwann so weit kommen wird."
„Also... nur nochmal für mich: Du gibst uns recht und bist nicht sauer?", fragte Ron vorsichtig nach, was Harry ein wütendes Schnauben entlockte. Hermine stieß ihn mit ihrem Ellenbogen grob in die Seite. „Natürlich gebe ich euch nicht recht! Ihr kennt Draco nicht so wie ich. Er ist total freundlich, nett und normal und er ist einfach er, das ganze Gegenteil von dem, was ihr kennt. Und ich will nicht, dass ihr so über ihn redet!"
Mit diesen Worten stapfte Harry wütend davon und verschwand aus dem Fuchsbau. Er ging einfach zwischen den Feldern entlang und wollte an einen ungestörten Ort. Einen Ort, an dem ihn niemand störte und an dem nur er war. Er wollte seine ganzen Gedanken sortieren und nachdenken. Denn die Sache mit Draco hatte auch ihm zugesetzt. Es war ziemlich hart sich einzugestehen, dass man um ein Haar seinen festen Freund getötet hätte. Und er wollte keinen einzigen Gedanken an Ron verschwenden, an ihn und seine Worte. Heute wollte er gar nicht mehr mit ihm sprechen oder ihn sehen. Seine Worte hatten ihn wirklich verletzt. Das Schlimmste für Harry war aber, dass er selber schon darüber nachgedacht hatte. Sie waren das komplette Gegenteil voneinander, aber trotzdem hatte Draco ihm mehr als einmal bewiesen, dass er ein völlig anderer Mensch war, als alle dachten.
Harry kämpfte sich durch das abgebrannte Gestrüpp und verharrte bei einem Baum, der vor einem See stand. Der Stamm war mit grünem Moos bewachsen und strahlte eine Vertrautheit auf Harry aus. Er ließ sich in den feuchten Boden sinken, lehnte sich gegen den Stamm und schloss seine Augen. Seine Gedanken kreisten um Draco und um Ron. Aber in ihm drin begangen die Schuldgefühle langsam zu wachsen. Wäre er doch nur vorsichtiger gewesen, hätte sich umgedreht oder nachgedacht, wäre es möglicherweise nie zu dieser Situation gekommen.
Während er so in Gedanken versunken war, holte ihn der Schlaf ein und sein Kopf kippte leicht zur Seite.
„Absprachen einhalten musst du wirklich noch lernen, was Potter?"
Die Stimme drang nur leise zu ihm durch. Er dachte schon, es wäre Einbildung oder ein Traum, doch dann spürte er eine sanfte Berührung an seiner Schulter.
„Was macht dich so müde?"
Langsam öffnete Harry seine Augen, blinzelte und rieb sich den Schlaf raus, erst dann erkannte er die grauen Augen, die ihn musterten.
„Weiß nicht..."
Draco nickte leicht und ließ sich anschließend neben ihn sinken.
„Ich bin nicht wütend oder so...", begann er, während er sich neben Harry sinken ließ.
„Also ja, ich bin schon sauer. Ich weiß selber nicht warum oder auf was oder wen. Es war ja auch meine eigene Dummheit... ich hätte mich einfach bemerkbar machen sollen. Und du-" Er stieß Harry sanft in die Seite. „Solltest nicht alles so aufnehmen. Ich hätte genauso reagiert wie du, es war Selbstverteidigung."
„Das sagst du jetzt..."
„Weil es wahr ist", beharrte Draco. „Bitte... können wir das Thema einfach lassen?"
Er blickte den Slytherin an und kniff seine Augen zusammen.
„Ich find's eigentlich ganz amüsant, wie angespannt du darauf reagierst."
„Wie schön...", grummelte Harry. „Ok, Themenwechsel."
Doch bevor weiter etwas gesagt wurde, spannte Draco sich an, seine Gesichtszüge verhärteten sich und er wirkte sichtlich unzufrieden.
„Bin gleich wieder da...."
Dann stand er auf und verschwand aus Harrys Sichtweite. Er hörte bloß ein leises Rascheln, welches immer leiser wurde.
Harry lehnte sich zurück und schloss seine Augen. Er wusste nicht, wo Draco hingegangen war oder mit wem er sprach. Es war ihm auch nicht egal, er wusste nur, dass er Draco nicht hetzen wollen würde. Er lehnte seinen Kopf in den Nacken und blickte in den gräulichen Himmel. Es war ein typischer Winterhimmel, der aussah, als ob es gleich schneien würde, aber dafür war es nicht kalt genug. Die Temperaturen waren klar im Plusbereich.
Als Draco aber auch nach einer Weile nicht aufgekreuzt war, beschloss Harry wieder reinzugehen. Mit seinen Händen stützte er sich ab, um auf die Beine zu kommen und ging anschließend quer über das abgebrannte Feld wieder zum Fuchsbau. Hermine wartete bereits am Eingang und warf ihm nur einen vielsagenden Blick zu, während Ron hinter ihr deutlich angespannter wirkte.
„Ist der auch da?!"
„Lass es, Ron!", erwiderte Harry härter, als er wollte. Er sah, dass Ron den Mund öffnete, um etwas zu sagen, ging dann aber stur an ihm vorbei, bis zu seinem Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich und nahm ein paar tiefe Atemzüge, ehe er seinen Freund überhaupt wahrnahm.
„Harry..."
Seine Stimme klang seltsam zerbrochen und auch von hier aus konnte Harry sehen, dass seine Wangen feucht waren.
„Dray...", begann er sanft und ging zu seinem Bett. „Was ist passiert?"
Harry ließ sich neben ihn sinken und schloss augenblicklich beide Arme um den dünnen Körper. „Was ist los? Was war die Nachricht?"
„Meine Mutter... mein Vater ist tot..."
„Dein Vater ist tot?"
„Ja, verdammt!", gab der Blonde grantig zurück.
„Sorry... es ist nur so unglaubwürdig. Dein Vater ist...- war ein starker Mann, ich hätte nie gedacht, dass es so enden würde... es tut mir wirklich leid!"
Zum Ende hin wurde seine Stimme immer leiser.
„Bitte kannst du mich einfach nur festhalten?"