Ein paar Wochen später in New York
Als ich heute morgen aufgewacht bin, da wusste ich, dass dieser Tag ganz bestimmt nicht meiner ist. Keine Ahnung, was mit mir los ist. Ich bin angespannt und bekomme wirklich gar nichts auf die Reihe. Heute morgen habe ich mir Orangensaft statt Wasser auf mein Müsli gekippt und dann hab ich mich fast mit meinem Kaffee verbrüht. So kenne ich mich gar nicht.
Wohl wissentlich hab ich mich kaum aus dem Haus begeben. Nur eben schnell zu meinem Friseur um die Ecke wollte ich und fast hätte ich nicht mal das geschafft. Ganz in Gedanken bin ich über die Straße gegangen und fast hätte mich der Autofahrer erwischt. Gut, dass der Mann aufgepasst hat.
Hoffentlich haben die blöden Paparazzi davon nichts mitbekommen. Die Schlagzeile kann ich mir schon vorstellen. Ich muss über mich selbst den Kopf schütteln.
Mittlerweile ist es 18 Uhr und ich hab das Gefühl, ich platze gleich, so angespannt bin ich. Skeptisch betrachte ich mich im großen Spiegel in meinem Ankleidezimmer. Ob ihr das Outfit gefällt? Wie sie wohl aussehen wird?
Seit wann mache ich mir Gedanken, wie jemand anderem mein Outfit gefällt? Ich habe meinen Stil, der eher klassisch ist. Manchmal ein bisschen legerer als angebracht. Seit Jahren habe ich eine Kooperation mit Hugo Boss, die mir regelmäßig Teile ihrer Kollektion schicken. Besonders bei offiziellen Anlässen, legen sie Wert darauf, dass ich ihre Stücke trage. Aus einer etwas älteren Linie habe ich heute eine helle Chino und ein dunkelblaues Jacket gewählt. Darunter trage ich ein weißes Leinenhemd mit kurzen Armen. Alles in allem gefalle ich mir. Die Bootsschuhe sind von Timberland. Auch eine Marke, mit denen ich schon einige Jahre zusammenarbeite, seit ich mal eine Kampagne für sie geshootet habe.
Auf den heutigen Abend freue ich mich sehr. Gleich werden sie alle kommen. Jamie und Jess und weitere Crewmitglieder unseres gemeinsamen Films. Nach den ganzen Wochen ohne das Leben am Set freue ich mich richtig auf diese Woche. Immer wieder stelle ich mir die Frage, wie es sein wird mit Jess zu drehen?
Seit ich wieder in den USA bin, habe ich viel Zeit damit verbracht mich neu zu sortieren. Nachdem ich Jess in München verlassen habe, war ich in LA für zwei Wochen. Das Zusammentreffen mit meiner Mutter war wie befürchtet laut und endete damit, dass ich ihr angekündigt habe, mir eine neuen Agentin zu suchen. Sie hat all die Jahre ihre Arbeit gut gemacht und ich habe ihr sicher viel zu verdanken, aber nach der Sache mit Jess musste ich ihr einfach mal ihre Grenzen aufzeigen. Ich bin 30 Jahre alt und kann alleine entscheiden, wann, mit wem und was ich drehe. Sie hat sich da nicht einzumischen.
Zwischen Jess und mir hat sich ein reger Nachrichtenverkehr entwickelt. Wir schreiben uns täglich und telefonieren auch ziemlich oft. Ich freue mich jedesmal von ihr zu hören. Sie war ganz aus dem Häuschen, weil sie in Deutschland irgendeinen Preis gewonnen hat. Einen Publikumspreis als beliebteste Darstellerin in einer Soap. Ich hab ihr gratuliert und ihr Blumen geschickt. Was besseres ist mir leider auf die Schnelle nicht eingefallen. Aber ich erinnerte mich, dass sie Orchideen in ihrem Wohnzimmer stehen hat. Eine davon sah ziemlich am Ende aus. Also schickte ich ihr Orchideen.
Leider musste ich in den letzten Wochen auch einige Pressetermine hinter mich bringen. Es ließ sich nicht vermeiden ein paar Mal auf Claire zu treffen. Sie scheint meine harschen Worte in Baden-Baden total vergessen zu haben. Sie schmachtet mich nach wie vor an und ich bin nahe dran mal richtig laut zu werden. Wie kann man nur so sein? Ich behandle sie permanent Scheiße und sie rennt mir trotzdem noch hinterher.
In LA hab ich mich wirklich mit Maggie und Peter getroffen. Wir sind zusammen Essen gegangen. Wir haben dabei die Vergangenheit fast gänzlich ausgeklammert. Die Sache mit den Briefen hat Maggie mir bestätigt. Aber auch sie wollte nicht so richtig damit rausrücken, warum Jess das Reiten aufgegeben hat. Dann haben wir uns nur noch über die Zukunft unterhalten. Peter dreht gerade die 15. Staffel seiner Serie. Einfach unglaublich. Ein Ende ist wohl noch nicht geplant. Leider hat Maggie bestätigt, dass Jess erst mal in Deutschland bleibt. Dort wird sie angefragt und hat neben den beiden Projekten, die sie mir gegenüber erwähnt hat auch einen Vertrag unterschrieben für eine kleine Serie. Es handelt sich um einen historischen Stoff aus den Tagen der Wiedervereinigung. Es freut mich für Jess, das sie so gut im Geschäft ist. Auch wenn sie dafür in Europa leben muss.
Aber jetzt drehen wir ja erstmal hier in New York. Wir werden hauptsächlich draußen drehen und dann noch Szenen in einer Suite im Plaza Hotel. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, dann muss ich sagen, dass ich nervös bin. Mit Jess zu drehen ist irgendwie aufregend.
Doch bevor wir drehen, treffen wir uns alle heute Abend zum Dinner und anschließend gehen wir in einen Club. Ab Montag wird dann gedreht.
Morgen muss ich zwar noch zu einem Talk Show Interview, aber dass ist erst am Abend. Da werde ich wohl wieder fit sein. Ja, ich bin auch gerade gut im Geschäft. ‚Snowland‘ läuft in den Kinos ganz gut und vor zwei Tagen habe ich mir die erste Fassung meiner letzten Arbeit angeschaut. Ich muss sagen, ich finde es ist gelungen. Meine Partnerin bei diesem Dreh war Lynn. Sie treffe ich heute Abend. Sie schrieb mir, dass sie auch im Club sein wird. Im Gegensatz zu Claire ist sie ganz erträglich und nicht weiter an mir interessiert. Wir waren ein paarmal zusammen im Bett, aber es war von beiden Seiten nicht mehr als Sex. Zumal sie, glaube ich, einen Partner hat. Zwar erzählt sie nie viel von ihm, aber ich hab sie einmal mit ihm telefonieren gehört.
Mit Jamie habe ich vereinbart uns bei mir zu treffen und dann alle gemeinsam in das kleine Restaurant bei mir um die Ecke zu gehen. 15 Personen haben zugesagt für heute Abend. Ob alle mit in den Club gehen ist noch nicht sicher. David James Elliot wird auch zum Abendessen kommen. Er wird den Vater spielen in unserem Film. Hier in New York brauchen wir ihn eigentlich nur für ein kurzes Telefonat, das ich mit ihm führe, aber er wollte dabei sein und das freut mich. Inzwischen ist der Cast wohl komplett wie Jamie mir sagte. Ich bin echt gespannt.
Die Klingel meiner Wohnung holt mich aus meinen Gedanken. Noch ein letzter Blick in den Spiegel und ich gehe und öffne die Türe.
Nach und nach trudeln alle ein. Jamie sieht verändert aus. Er hat einen Oberlippenbart. Ich weiß ja, dass er Bart bevorzugt, aber diese Art gefällt mir nicht unbedingt an ihm? Mir gefällt er besser mit drei Tage Bart. Aber das gehört wohl zu seiner neuen Rolle. Er spielt im neuen Kenneth Brannagh Film. Wieder eine Agatha Christie Verfilmung. Die Dreharbeiten gehen noch bis Ende Januar und finden zum Teil in Venedig statt. Danach wird er dann zu uns ans Set nach Baden-Baden kommen.
Als eine der letzten steht Jess vor meiner Türe. Puh. Ich freue mich so sie zu sehen. Als sie eintritt und ich ihr hinterher schaue, während sie auf Jamie zugeht, muss ich schlucken. Mein Gott, dieses Kleid. Es ist dunkelrot, aus Jersey und hinten mit transparenter Spitze. Es endet nur knapp unter ihrem Hintern und bringt diesen optimal zur Geltung. Verdammt! Was hat sie vor?
Ich gehe hinter ihr her und stelle mich an ihre Seite. Dabei lege ich meinen Arm um sie. Ich will verflucht sein, wenn sie heute Abend irgendjemand anderes anfasst. Da spricht wohl doch gerade der große Bruder aus mir. Was auch sonst? Als ich ihr tiefes Dekolleté sehe, bleibt mein Herz für einen Moment stehen.
Sie dreht sich zu mir und wieder strahlt mich dieses umwerfende Lächeln an. „Na, Karosserie und Original-Ausstattung als Gut befunden?“ Sie hat gemerkt, dass ich sie abgescannt habe.
„Ich hätte gerne auf eine Demonstration der Original-Ausstattung verzichtet. Ich war mir dessen auch so bewusst. Was hast Du vor?“
„Einen entspannten Abend mit netten Leuten verbringen.“
„Dafür hätte das Kleid ruhig etwas länger und geschlossener sein können.“ Ich fühle etwas in mir, dass ich sofort als Wut erkenne. Wo kommt das denn her? Ich habe nicht das geringste Recht ihr vorzuschreiben, wie sie sich zu kleiden hat. Ich bin weder ihr Vater, noch Bruder noch Freund. Aber ihr Outfit ist für meinen Geschmack eindeutig zu offenherzig. Was zum Geier hat sie vor?
„Oh, höre ich da den besorgten großen Bruder sprechen?“ Und da war es wieder, dieses Unwort.
„Den Freund, der nicht will, dass seine Freundin in Schwierigkeiten kommt.“ Spreche ich und höre selbst, dass ich ziemlich hart klinge. Man könnte meinen ich sei …. Nein! Ganz sicher nicht.
„Ich bin ein großes Mädchen und kann ganz gut auf mich aufpassen.“ versucht sie mich zu beruhigen und macht es damit auch nicht besser.
„Was ich nicht ausprobieren möchte.“
Sie zieht die Augenbrauen hoch. Oh ha, da ist es wieder: das Funkeln in ihren Augen. „Wie ich Dich kenne, wirst Du die nächsten Stunden nicht von meiner Seite weichen. Also…wer sollte es da wagen, sich an mich heran zu machen?“ Eine rhetorische Frage wohl eher.
„Da draußen schwirren jede Menge Jungs herum, die sich freuen würden Dean Harper sein Date auszuspannen.“ Man bin ich eingebildet!
„Ich bin Dein Date?“ sie zieht die Augenbrauen wieder hoch.
Darauf antworte ich besser nicht. Gut das Jamie uns in dem Moment unterbricht.
„Es sind alle da. Wir sollten los.“
Kaum eine halbe Stunde später sind wir im Restaurant und warten auf unser Menü. Jamie hat vorbestellt, damit es schneller geht. Um 23 Uhr werden uns Limousinen abholen und zum Club bringen.
Leider sitzt Jess zwischen David und Jamie am anderen Ende der Tafel. Immer wieder beobachte ich sie aus der Entfernung. Was ist nur los mit mir?
Das Essen ist hervorragend. Die Stimmung auch. Alle scheinen gut zu harmonieren. Jamie hat einen stimmigen Cast zusammengestellt. Grundlage für reibungslose Dreharbeiten und meist überträgt sich die gute Stimmung am Set auch auf den Zuschauer. Er spürt, wenn es Spannungen gab. Zumal wir auch noch auf engem Raum zusammen leben werden.
Bevor die Limousinen kommen verabschieden sich einige von uns. Übrig bleiben 10 Personen. Auch Jamie geht ins Hotel. Er will mit seinen Mädchen telefonieren. Nach unserer Drehwoche wird er endlich wieder nach Hause fliegen. Millie wird es ihm danken. Zuletzt war er im November zu Hause als Dulcie Geburtstag hatte.
Als wir am Club ankommen sind schon Paparazzi da. Ich hasse es. Ich nehme Jess in den Arm und kämpfe mich durch die Leute. Rufe nach Selfies und Autogrammen ignoriere ich. Im Inneren des Clubs werden wir in eine der VIP Lounges auf der oberen Etage geführt. Auf dem Weg dorthin treffen wir auf Lynn. Sie nimmt Jess in den Arm und beide scheinen sich wirklich zu freuen. Dann bekomme ich einen Kuss aufgedrückt und ernte zudem einen tadelnden Blick von Jess.
„Ihr kennt Euch?“
„Ja, wir haben zwei Folgen ‚Moon‘ zusammen gedreht. Lynn war meine Schwester.“ Das wusste ich nicht. Aber ich weiß eh nie so genau, was andere gerade drehen oder gedreht haben. Mich interessieren die Menschen und nicht deren Arbeiten.
„Kommst Du mit uns?“ frage ich Lynn.
„Ja. Mein Freund wird sich verspäten. Er kommt später. Bis dahin würde ich mich Euch anschließen.“
Während Jess sich in die Lounge begibt, hält Lynn mich zurück. „Tu ihr nicht weh, Dean.“ He, was meint sie denn damit?
„Das hatte ich nicht vor. Sie ist wie meine Schwester. Nie würde ich ihr weh tun.“
„Na dann ist ja gut.“ Was soll das. Warum macht sie sich Sorgen um Jess?
Der Abend verläuft locker. Wir unterhalten uns alle und Lynn fügt sich gut in die Truppe ein. Wir reden über unseren Film und sie freut sich wie ich schon auf die Promotour im Frühjahr. Premiere wird in New York Anfang Mai sein. Der Film läuft in Kinos aber auch auf Netflix. Ohne die modernen Streamingdienste läuft heute gar nichts mehr.
Vertieft in mein Gespräch mit Lynn hab ich gar nicht bemerkt, dass Jess und zwei der Jungs von der Produktion den Raum verlassen haben. Lynn vermutet, dass sie auf der Tanzfläche sind. Ich trete heraus auf die Empore und versuche mich auf die Fläche einige Meter unter mir zu konzentrieren. Es dauert, aber irgendwann kann ich Jess entdecken. Sie bewegt sich gut. Die Frau hat Rhythmus im Blut. Nicht nur mir fällt das auf. Sebastian, unser Regieassi scheint auch Gefallen an ihr zu haben. Für mein Gefühl könnte er ruhig ein paar Zentimeter von Jess wegrücken. Als er seine Hände auf ihre Hüften legt und sie an sich zieht ist es mit meiner Ruhe vorbei. Wie von der Tarantel gestochen springe ich die Treppe hinunter. Niemand fasst Jess so an!
Ich bahne mir meinen Weg durch die tanzende Menge, immer darauf bedacht, Jess und Sebastian nicht aus den Augen zu lassen. Mein Blutdruck steigt noch ein bisschen, als ich sehe, wie Jess ihren Kopf auf Sebastians Brust lehnt. Himmel, sie ist überhaupt nicht mehr bei sich.
Als Sebastian mich entdeckt, lege ich meinen finstersten Blick auf. Er scheint zurück zu schrecken. Er will es sich wohl nicht mit mir verscherzen. Regie Assis werden schon mal ausgetauscht, der Hauptdarsteller selten.
Jess bemerkt überhaupt nicht, dass ich Sebastians Platz einnehme. Eigentlich sollte ich dem hier schnell ein Ende setzen. Aber irgendwie kann ich nicht. Einen Song lang tanzen wir, Hüfte an Hüfte. Als dann ein langsamer Song beginnt, will ich schon aufhören und Jess und mich von der Tanzfläche schieben. Aber da hab ich die Rechnung ohne meine Kleine gemacht. Als sie sieht, wer da mit ihr tanzt legt sie ihre Arme um meinen Hals und ich kann nicht anders, als sie näher an mich ran zu ziehen. Ich lege meine Stirn an ihre und wir verhaken unsere Augen. In dem Moment ist es so, als sei alles andere unwichtig geworden. Es zählen nur Jess und ich.
Der erneute Wechsel bei der Musik holt mich zurück ins Hier und Jetzt. Ich nehme Jess bei der Hand und wir gehen schweigend zurück in die Lounge. Irgendwas ist hier verdammt seltsam.
Wieder hält mich Lynn auf, bevor ich mich neben Jess setzen kann.
„Bitte Dean, lass die Finger von ihr. Sie wird es nicht verkraften, wenn Du sie nach den Dreharbeiten absägst.“ Was redet sie da?
„Hör zu Lynn. Es ehrt Dich, dass Du Dich um sie sorgst. Aber das ist nicht nötig. Ich habe kein Interesse an ihr. Wir sind wie Geschwister. Sind Freunde. Sex mit ihr ist tabu. Und ihr weh tun ist das letzte was ich will.“
„Das gerade da unten sah aber ganz anders aus.“
„Denk was Du willst.“ Ich drehe mich um und stapfe wütend Richtung Lounge.
Ich weiß, dass Jess anders ist als Lynn und Claire und all die anderen. Nie würde ich was mit ihr anfangen und sie dann wieder abservieren. Für meine Bedürfnisse wird es am Set schon irgendwen geben und wenn nicht, dann werde ich halt mal ohne auskommen. Wird mich schon nicht umbringen. Was meint Lynn da vorhin gesehen zu haben? Wir haben getanzt. Nicht mehr und nicht weniger. Und dass es mir nicht gefallen hat, das Sebastian sich so an sie ran geschmissen hat, ist ja wohl verständlich. Jess ist viel zu gut für ihn. Für jeden, wahrscheinlich.
Lynn ist hinter mir her gekommen und hält mich am Arm fest. Mit einem finsteren Blick schaue ich sie an. „Damit das mal klar ist, Dean. Jess ist kein Kind von Traurigkeit. Auch sie hatte schon Affäre am Set. Sie kann durchaus unterscheiden zwischen Sex und Liebe, aber ich befürchte, bei Dir wird ihr das nicht gelingen und deshalb: Lass die Finger von ihr.“
„Wie kommst Du darauf, dass es bei mir anders ist?“
„Weil sie Gefühle für Dich hat. Schon immer.“ Lynn schaut zu Jess. Sie scheint zu hoffen, dass sie uns nicht gehört hat. Ist das ein Geheimnis?“
Natürlich hat sie Gefühle für mich. Wir sind wie Geschwister aufgewachsen. Es wäre schade, wenn es nicht so ist.
„Das sie Gefühle für mich hat ist doch klar. Aber doch nicht solche.“ Lynn verdreht die Augen. Hab ich irgendwas übersehen?
„Und Du hast auch Gefühle für sie.“ knallt Lynn mir vor den Kopf und sieht mir dabei fest in die Augen.
„Ja, auch. Ganz klar. Sie ist wie eine Schwester für mich.“ betone ich. Wäre doch schlimm, wenn ich nichts fühle für sie.
Lynn verdreht die Augen und läßt mich alleine. Gott, was soll der Scheiß?
Ich setze mich neben Jess und schnuppere an dem Cocktail, den sie in ihrer Hand hält.
„Nichts für Dich. Viel zu süß.“ meint Jess. „Ich hab Dir einen Cola Bourbon bestellt. Steht da.“ Sie zeigt auf den kleinen Tisch. Woher weiß sie, dass ich Cola Bourbon trinke?
„Danke. Ich trinke den noch, dann mach ich mich auf den Heimweg. Soll ich Dich mitnehmen?“
„Ne lass mal. Was machst Du morgen?“
„Ausschlafen und dann hab ich einen Termin. Late Night Show. Da muss ich hin. Claire wird auch da sein.“
„Claire.“ Sie schaut mich an, als wolle sie sagen <das muss ja wohl nicht sein.>
„Ich weiß, aber so ist der Deal.“
„Kein Problem.“ Das ist glatt gelogen. Sie hat ein Problem mit Claire.
„Im übrigen kannst Du vögeln wen Du willst. Lynn, Claire, wen auch immer. Du bist erwachsen und ein freier Mann.
„Richtig. Kleines. Und ein Recht, dass Du auch hast.“ Ich stupse mit meinem Zeigefinger ihre Nasenspitze an.
„Meine Chance hast Du ja erfolgreich zu Nichte gemacht.“
„Sebastian. Im Ernst?“
„Warum nicht?“
„Oh, bitte. Der ist doch unter deinem Niveau.“
„Ah, und Du nicht?“
„Jess! Lass es.“
„Schon gut. Wir sehen uns Montag im Plaza. Ich hab dort ein Zimmer.“ Sie dreht mir demonstrativ ihren Rücken zu. Na toll.
Ich schlucke mein Getränk runter und gebe Jess noch kurz einen Kuss auf die Stirn. Sie riecht einfach wundervoll. Über mich selbst den Kopf schüttelnd verlasse ich den Club. Prompt laufe ich in Lynn hinein, die vor der Türe steht und ziemlich sauer zu sein scheint. Irgendwer wird gerade ziemlich von ihr zusammen geschissen.
Als sie mich erblickt bricht sie das Gespräch einfach ab. Sie steht ganz nah vor mir. Ihre dunklen Augen funkeln.
„Na, schöner Mann, schon auf dem Nach Hause Weg?“
„Hab morgen einen Termin. Sollte ausgeschlafen sein.“
Wir sehen uns noch eine Weile an. Ich weiß, auf was es hinaus läuft.
„Komm.“ sage ich und greife nach ihrer Hand.
Der Sex mit Lynn ist um Klassen besser als mit Claire. Sie ist sehr erfahren und wir kennen uns inzwischen ziemlich gut. Sie weiß, was ich mag und wie. Und so wundert es mich nicht, dass sie mich am Morgen in meiner Küche sehr nachdenklich anschaut. Meine Performance letzte Nacht war nicht optimal. Ich konnte nie so ganz meinen Kopf ausstellen. Das hat sie gemerkt. Dafür kennt sie mich einfach zu gut.
„Dean,“ beginnt sie „auch wenn Du es abstreitest, irgendwas ist. Und wenn ich mich nicht ganz täusche, dann hängt es mit Jess zusammen.“
„Was soll denn sein? Jess und ich drehen zusammen. Ich hab sie 15 Jahre nicht gesehen. Natürlich war es komisch sie wieder zu sehen und ja, ich hab Gefühle für sie, dass sagte ich Dir schon. Aber das hat nichts mit Sex zu tun. So ein Interesse hab ich nicht an ihr. Und ich weiß auch nicht, was Du für ein Theater darum machst. Jess und ich sind uns klar, dass es nicht einfach wird. Wir spielen ein Paar. Aber wir können beide professionell damit umgehen.“
„Gut. Wenn es so ist, dann fein. Aber nochmal: spiel nicht mit ihr.“ Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie mehr weiß als ich.
„Was weißt Du, was ich nicht weiß, Lynn?“ Irgendwas ist da. Sie würde nie so darauf rumreiten, wenn es ihr nicht wirklich wichtig wäre.
„Das kann ich Dir nicht sagen.“
„Also gibt es da was?“
„Ja, aber das muss Jess Dir sagen. Ich hab ihr gesagt, dass es besser ist, wenn Du davon weißt, aber sie bockt noch.“
Was kann das sein?
„Weißt Du, dass es eine Zeit gab, da hat sie fast verzweifelt versucht in einem Cast mit Dir zu sein? Sie hätte jede Rolle angenommen.“
„Darüber haben wir gesprochen.“ Nicht ganz so, aber sie hat mir ja erzählt von dieser einen Sache.
„Dean ich muss jetzt. Ich will nur, dass es Euch beiden gut geht. Du weißt, ich mag Dich. Ich mag den Sex mit Dir. Aber auch sonst. Und Jess mag ich auch. Sie hat es verdient glücklich zu sein.“
„Ich habe nicht vor sie unglücklich zu machen.“ Man, wann kapiert sie das endlich?
„Denk einfach an meine Worte.“
Nachdem sie die Türe hinter sich geschlossen hat, gehe ich unter die Dusche. Immer wieder kreisen meine Gedanken um Lynns Worte. Aber auch an Jess muss ich denken und die Situation gestern. Ich hab es genossen, sie in meinen Armen zu halten, dort auf der Tanzfläche. Es fühlte sich gut an.
Und das ist ja nicht verboten. Schließlich haben wir eine gemeinsame Vergangenheit. Wäre Dad nicht gestorben würden wir wahrscheinlich noch ewig zusammen gelebt haben. Wer weiß das schon so genau.