Du bist Arthrax Sundergeer.
Deine Entscheidung steht fest. Im bewaffneten Kampf weißt du so ziemlich alles, was es zu wissen gibt. Aber mit den Schöpfersteinen hast du viel weniger Erfahrung. Außerdem ist euer Auftrag Wahnsinn – mit Schwertern käme hier niemand weit, die Fähigkeiten der Steine sind sehr viel wertvoller für euch.
Nur weißt du deshalb noch lange nicht, wie genau du die Steinkräfte trainieren sollst. Bei Äxten beginnt man mit Aufwärmen und Dehnübungen, aber man kann sich ja nun nicht wirklich einen Muskel zerren, wenn man einen Stein an der Kette ergreift.
Du würdest Allyster fragen, doch der schläft. Nur ein Narr würde ihn wecken!
Ratlos tastest du nach der Kette. Ihr alle tragt eure Steine unter dem Hemd, an Kettenbändern, die nicht klappern. Nur Allyster besitzt keinen Stein, was den Magier vermutlich ziemlich ärgert. Er hatte jedenfalls schon wieder diesen Unterton, nachdem auch der Blutjaspis ihn nicht akzeptierte. Fünf aktive Steine habt ihr, ihr seid fünf Leute – doch du besitzt zwei Steine und Allyster keinen. Der sechste Stein hat gar nicht auf euch reagiert, jedenfalls nicht auf euch drei.
Den roten Stein trägt der Magier trotzdem bei sich. Aus dem einfachen Grund, dass ihr die Steine so nicht alle an einem Ort habt.
Nun umfasst du den raueren Stein, der in der Form einer großen, geriffelten Schnecke ist. Allyster behauptet, das wäre eine sehr alte, tote Schnecke, ein sogenanntes Fossil. Aber da du dich mit Verwesung auskennst, weißt du, dass das unmöglich ist. Nichts kann so viele Jahre überdauern wie Allyster behauptet!
Kühles Prickeln läuft über deine Haut, als die Unsichtbarkeit des Ammoniten dich einhüllt. Einen Moment zu spät fällt dir ein, dass du dich vor diesen Zaubern vor unfreundlichen Blicken absichern solltest, und du siehst dich um. Du bist am Dorfrand, beinahe vom Strand herunter, zwischen den Hütten hoffentlich verborgen. Scheinbar hat dich niemand beobachtet, du siehst jedenfalls niemanden.
Ein Glück! Wenn du dich gerade verraten hättest, hätte Allyster dich vermutlich in einen Frosch oder so verwandelt.
Vom Stein verborgen begibst du dich auf die Straßen des Dorfes. Das ist riskant, denn während der Zauber dich zwar vor jedem Blick verbirgt, bist du immer noch hörbar. Außerdem hinterlässt du Spuren, schwache Abdrücke, die auf den feuchten, sandigen Abschnitten der Wege erkennbar werden. Du musst auch aufpassen, nicht zu nah an die wenigen Fischer zu kommen, die ebenfalls hier unterwegs sind. Nicht, dass sie mit dir zusammenstoßen!
Du kannst blass die Kugel um dich herum erkennen, eine hellgraue, geisterhafte Blase. Alles, was in diese eintaucht, wird für dich ein wenig farbiger, während die Welt draußen fast wie hinter einem schwachen Nebelschleier wirkt. Es ist kaum sichtbar, den Effekt kann man leicht übersehen, doch allmählich gewinnst du ein Gespür dafür.
Dann hast du also doch etwas über den Stein herausgefunden. Es war eine gute Idee, zu trainieren.
Du stürzt dich in das Getümmel des Marktes. Die Stände befinden sich im Zentrum des kleinen Dorfes. Jetzt, da der Abend sich allmählich über das Land senkt, füllt sich der Platz. Fischer kehren vom Meer heim, um ihre frischen Waren anzupreisen. Andere Bewohner von Krabvest haben nun ihr Tagewerk abgeschlossen und sind auf der Suche nach dem richtigen Fisch fürs Abendessen. Insgesamt ist es ein eher kleiner Markt, umweht von einem penetranten Fischgeruch. Bevor später das richtige Gedränge ausbricht, möchtest du weitergezogen sein. Doch noch kannst du dich gut bewegen.
Du testest die Grenzen des Zaubers aus. Die Blase lässt alles mühelos passieren: Ob Standecken oder wehende Kleidungsstoffe. Aber wenn du die Hand streckst, dehnt sich die Blase mit aus und verformt sich, um an dich angepasst zu bleiben.
Eigentlich ist die Blase der Unsichtbarkeit etwas zu klein für mehr Personen als dich. Du greifst nach einer kleinen Kiste mit Aalen, um auszutesten, was dann passiert. Fast sofort schreit der Standbesitzer auf.
„Wer hat meine Kiste gestohlen?“
Mit dem Diebesgut in der Hand stehst du direkt vor der Auslage. Verdammt – die Blase hat sich gerade genug ausgedehnt, um auch noch die Kiste mit aufzunehmen. Jetzt sehen alle her und von allen Seiten nähern sich Schaulustige.
Du gerätst in Panik. Die Kiste kannst du jetzt nicht einfach wieder absetzen. Wieso musstest du auch auf dem Markt üben? Hastig siehst du dich um. Der Ring der Umstehenden ist bereits zu dicht, um zwischen ihnen hindurchzuhuschen.
„Das waren Aale bester Qualität! Wer von euch war das?“, zetert der Händler. „Das waren die Tageseinnahmen Wer ist denn … wer stiehlt denn …?“ Seine Wut bröckelt wie eine Maske vom Gesicht und er kämpft plötzlich mit den Tränen.
Besorgte Händler kommen immer näher. Du siehst dich um und bückst dich dann, um die Aalkiste rasch unter das Tuch des Standes zu schieben. Dann weichst du stolpernd zur Seite. Immer mehr Menschen umringen den Stadt, einige sprechen dem verzweifelten Händler gut zu, andere sehen sich suchend um.
Der Auflauf wird immer noch größer. Langsam wird es schwierig, sich von allen Menschen fernzuhalten. Da du jetzt weißt, dass alles innerhalb der Blase für Außen unsichtbar ist, weißt du auch, dass du nicht zu nah an die Menschen herangehen kannst. Oder sie werden mit unsichtbar und können dich dafür sehen! Dein Herz schlägt wie verrückt. Was sollst du tun?
Dann kommst du auf die Idee, die Plane des Marktstandes anzustoßen. Dabei wird ein Teil davon zwar kurzzeitig unsichtbar, doch du ziehst die Hand so schnell zurück, dass es hoffentlich niemand bemerkt. Dafür ruft kurz darauf eine Frau: „Da, unter dem Stand, ist sie das?“
Du läufst hinter den Stand und hältst die Luft an, während die Fischer das Gesuchte hervorziehen. Verdattert sieht der Händler darauf. „Ich stelle doch nie etwas unter den Stand.“
„Vielleicht war es jemand im Vorbeigehen, der dagegen gestoßen ist?“
Du atmest auf, als jemand diese Vermutung äußert. Dann tritt jedoch ein größerer Fischer vor, in dessen dunklem Haar und Bart Holzperlen klackern. „Nein. Das war das Zeichen, das vorausgesagt wurde. Die Kalynorer. Der verschwindende Fang ist das erste Omen ihrer Ankunft!“
Geraune erhebt sich, die Menschen sehen sich misstrauisch um. Dir stockt fast der Atem. Was für ein scheiß Omen meint der Kerl denn jetzt? Es hat dich doch niemand sehen können – woher wissen sie, dass du ein Kalynorer bist?
Zum Glück rotten sich die Händler jetzt mehr in der Mitte des Platzes zusammen, wo der dunkelhaarige Kerl steht. Du kannst vom Markt huschen, durch einige Gassen laufen und dir den Schöpferstein wieder umhängen, was den Zauber beendet, da du den Ammoniten loslässt.
Du musst zu Allyster und Aji! Der Junge ist sicher längst wieder im Gasthaus, wo er lernen wollte, und auch Allyster schläft dort. Während du rennst, hörst du Schreie vom Marktplatz. Worte verstehst du kaum, allerdings weißt du, dass es um die Kalynorer geht. Während du zurück zum Gasthof rennst, erhaschst du in den Zwischengassen gelegentlich einen Blick auf die wachsende Menschenmeute.
Am Eingang des Gasthofes wirst du fast von der Tür getroffen, die aufgestoßen wird.
„Allyster!“
„Arthrax!“ Der Magier sieht dich mit gerunzelten Brauen an. „Da bist du ja endlich. Was ist da los?“
„Irgendwas von einem Omen und dass die Kalynorer schuld sind?“ Du zuckt mit den Schultern. Deine eigene Rolle möchtest du lieber verschweigen. Schon jetzt scheinen kleine Blitze aus Allysters Augen zu zucken. Du lässt es besser nicht darauf ankommen, dass es mehr werden.
Mit einem schraubstockartigen Griff um deinen Arm zieht dich der Zauberer herein. „Pack dein Zeug. Wir gehen direkt zum Hafen!“
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Du brauchst nicht lange, um zu packen. Ihr wusstet ja alle, dass es bald weitergeht, und die Atmosphäre im Gasthof war so dicht, dass ihr auch kein Bedürfnis hattet, euch häuslich einzurichten. Wenig später habt ihr also eure Bündel und Rucksäcke bereits geschultert und eilt durch die Straßen hindurch zu den Kais.
Aji stürmt euch voran, schließlich bleibt er stehen und winkt. „Er ist da!“
Wenig später erblickst auch du die vertraute Flagge von Siwa Ekana, zwei Krabben auf orangenem Grund. Erleichterst atmest du auf. Ein freundlicher Anblick!
Der Graumeerer kommt euch auf dem Schiff entgegen. Er ist kein einfacher Mensch, sondern einer vom Jenseitsvolk. Seine Haut ist gebräunt und mit dunkleren, rötlichbraunen Tattoos bedeckt, gepunktete Linien, stilisierten Haien und Angelhaken. Seine Haut wird stellenweise von Knochen durchbrochen, die in die Tattoos eingearbeitet sind. Haiknochen oder etwas ähnliches, das wie eine Nadel durch die Haut gestoßen wird. Knochen und Muscheln sind auch in sein hüpflanges, braunes Haar geflochten. Am auffälligsten ist aber sein langgezogener Körperbau mit großen, flossenähnlichen Füßen, die auf dem Holz der Docks klatschen.
„Meine Freunde!“ Er breitet die Arme aus und grinst. „Da seid ihr ja schon.“
„Können wir heute bereits aufbrechen?“, fragt Allyster ihn statt einer Begrüßung.
Siwa verzieht das Gesicht unwillig. „Es ist fast dunkel … Wir würden die nächste Insel vielleicht nicht vor der Nacht erreichen.“ Er glaubt wirklich an dieses Geschwätz – seine Stimme erhält einen dunklen Akzent, den er sonst meist verbirgt, wenn er unter Fremden ist. Er rollt das R, als wäre seine Zunge zu schwer für diesen Laut. Nachdenklich legt der Schmuggler den Kopf schief. „Warum habt ihr es so eilig?“
„Wir haben … etwas Ärger.“ Allyster sieht sich um. Allerdings liegt Krabvest friedlich und still hinter euch. Von der zusammengerotteten Meute ist nichts zu sehen. Einzelne Bewohner bewegen sich von den Docks zum Dorf oder laufen auf dem Weg zu irgendwelchen Besorgungen vorbei. Niemand schenkt euch einen zweiten Blick. Von einem Mob mit Fackeln und Mistgabeln ist gar nichts zu sehen.
„Ärger also“, meint Siwa zweifelnd. „Hört mal, der Ozean ist mehr Ärger, eindeutig. Lasst uns morgen fahren.“
Allyster dreht sich zu dir und gestikuliert ungeduldig. Offenbar sollst du den Kapitän überzeugen oder einschüchtern. Du zögerst und siehst noch einmal zum Dorf.
Ja, du könntest Suwi zwingen, jetzt noch loszufahren. Aber es ist tatsächlich ruhig. Sollte der Spuk so schnell vorbei sein? Warst du vielleicht einfach zu paranoid?
Du wendest dich Suwi wieder zu und …
- … stimmst zu, die Nacht abzuwarten. Lies weiter bei Kapitel 4.
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- … drohst ihm, damit er euch sofort mitnimmt. Lies weiter bei Kapitel 5.