Du bist Aji.
„Nehmen wir doch das Labyrinth“, schlägst du vor. Du siehst zu deinen Gefährten. „Das klingt am sichersten, oder?“
„Dort würde uns immerhin niemand begegnen“, bestätigt Siwa. „Risiken bergen alle Wege.“
„Dann nehmen wir doch Ajis Vorschlag“, sagt Arthrax achselzuckend.
Siwa nickt. „Folgt mir.“
Er schwimmt nach unten und hält sich dabei dicht an den Felsen. Ihr könnt den Stein nutzen, um euch voran zu ziehen, denn so schnell wie Siwa Ekana mit seinen Flossen seid ihr nicht. Der Schmuggler sieht sich mehrmals wachsam um, doch er wartet geduldig auf euch.
Je tiefer ihr kommt, desto kälter wird das Wasser. Siwa scheint das nichts auszumachen, aber du bildest langsam eine Gänsehaut auf den Armen aus. Solange ihr euch bewegt, ist es aber auszuhalten.
Siwa hält schließlich neben einem Tunneleingang und wartet auf euch. Der Eingang hat nicht mal eine Manneslänge im Durchmesser und verzweigt sich bereits wenig später. Sobald ihr in diesen Schatten eintaucht, wird es noch kälter. Und dunkel.
„Hast du keine Lampe bei dir?“, fragt Allyster nach wenigen Schwimmzügen. Der Magier wird von Allyster gezogen. Der Krieger und auch du habt Siwas Bewegungen kopiert und könnt inzwischen halbwegs schwimmen, aber Allyster tut sich schwerer damit.
„Seht ihr etwa nichts?“, fragt euer Führer verwundert.
„Ich weiß nicht, welche Augen ein Graumeerer hat, aber sie unterscheiden sich offenbar von menschlichen Augen“, grummelt dein Mentor.
„Tut mir leid. Hier, Aji, du fasst meinen Fuß. Halte dich gut fest, mein Freund. Der Rest, ihr haltet euch an dem Jungen fest.“
Du umklammerst das kalte, schlanke Bein des Graumeerers, Arthrax packt deinen Knöchel. So schwimmt ihr in einer Reihe weiter. Nach einer Weile bemerkst du allerdings, dass es nicht völlig finster ist. Du kannst kleine, schwache Lichtblitze sehen: Siwas Tattoos, aber auch einige Lichteffekt an den Wänden. Ab und zu passiert ihr Schwärme kleiner Fische, die blaue Lichter aussenden. Je besser sich deine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, desto mehr erkennst du. Trotzdem würde dieses Licht niemals reichen, damit du dich hier orientieren kannst.
Siwa bewegt sich langsam durch die Gänge, wobei er aufpassen muss, dass ihr euch in den Kurven nicht die Köpfe stoßt. Er scheint manchmal innezuhalten, um Markierungen an den Tunneln zu überprüfen, denn er tastet die Öffnungen an einigen Kreuzungen ab, ehe er sich für eine Richtung entscheidet. Einmal müsst ihr auch rückwärts schwimmen, und zu diesem Zeitpunkt gerätst du tatsächlich in Panik. Ihr seid tief unter dem Meer, in eiskaltem Wasser, und ohnehin hat sich bereits ein beklemmender Druck auf deine Brust gelegt. Es ist so finster, dass ihr kaum etwas sehen könnt, ihr befindet euch in einem Labyrinth und wenn ihr nicht rechtzeitig wieder herausfindet, werdet ihr ertrinken, weil die Pikuns versagen. Außerdem seid ihr in Feindesland, wo euch die meisten Bewohner töten würden, wenn sie begreifen, wer ihr seid …
Du atmest ruhig ein und aus, da dir unter der Maske eh nichts anderes übrig bleibt, und die Panik vergeht allmählich. Doch es dauert noch eine Weile, bis deine Glieder aufhören, zu zittern.
Schließlich wird es heller und ihr gelangt in den Schimmer einer rundlichen Laterne, eine Glaskugel, gefüllt mit leuchtenden Quallen, die an einem Haken an der Wand hängt. Siwa atmet hörbar auf – oder wie auch immer man das Äquivalent unter Wasser nennt – und ergreift einen Haken, der an der Kugel hängt. „Wir haben es geschafft.“
Im Lichtschein seht ihr euch um. Noch immer befindet ihr euch in dunklen Tunneln ohne jedes Anzeichen eines Ausgangs.
Siwa lacht über eure offenkundige Verwirrung und erklärt, noch bevor jemand nachfragt: „Wir sind auf den alten Schmugglerwegen. Hier kenne ich mich wieder aus. Gebt mir ein paar Minuten, um zu wissen, wo genau wir und befinden, aber dann könnte ich euch mit verbundenen Augen zur Schatzkammer führen.“ Er grinst stolz und dir fällt erstmals auf, dass er einen Goldzahn besitzt, einen der Backenzähne in der Mitte. Und so, wie es aussieht, hat er das Gold womöglich aus ebenjener Schatzkammer geklaut.
Siwa schwimmt euch wieder voraus und ihr folgt ihm diesmal aus eigener Kraft. Der Kapitän reicht Arthrax die Lampe, flitzt durch die Gänge und kommt nach einer Weile zurück, um euch dann zielsicher durch das Labyrinth zu führen. Ihr folgt ihm bis zu einer Öffnung, wo der Gang am Rand eines gewaltigen Lochs endet. Vor euch ist mit einem Mal nur noch Schwärze. Erschrocken haltet ihr am Rand dieses Abgrunds. Die andere Seite des Lochs oder der Boden ist nicht zu erkennen. Nur von oben kommt etwas Licht herab.
„Dort ist das Lager“, erklärt Siwa euch. „Das Gold des Graumeers hängt in einem riesigen Netz an der Spitze dieser Höhle, die sich übrigens im Herzen unseres Palastes befindet. Dort gibt es auch Wachen, ihr müsst also vorsichtig hinaufschwimmen. In das Netz könnt ihr hinein – es gibt Tunnel im Gold, das ist geschickt gestapelt. Und es ist ein großes Netz, nicht, dass es da Missverständnisse gibt.“
„Eine Schatzkammer in einem Netz.“ Allyster schüttelt den Kopf.
„In der Mitte liegt der Stein“, fährt Siwa unbeirrt fort. „Ihr müsst nur an den Wachen …“
Er bricht ab, als ein tiefes Dröhnen den Stein erzittern lässt. Du schluckst und nimmst die Lampe entgegen, die Arthrax dir sofort in die Hand drückt, um seine Axt zu zücken.
„Was war das?“, fragt Allyster mit scharfer Stimme.
Siwa ist ebenfalls blass geworden. „Ich … keine Ahnung.“
Ihr seht zu dem tiefen Abgrund – denn dorther kam das Grollen. In der schwarzen Tiefe erkennst du Bewegung. Etwas Großes, das an eine gigantische Schlange mit flatternden Flossen erinnert. Die Schuppen sind dunkel, aber die Flossen blitzen in dunklem Blau auf. Dann siehst du den mondgelben Schimmer großer Augen.
„Das ist ein Monster!“, quiekst du ängstlich.
„Eine Seeschlange“, murmelt Siwa bestätigend. „Los, wir müssen hier weg!“
Artrax schwimmt zurück in den Gang, aber Allyster nach vorne und oben. Dann sehen die beiden einander verdutzt an.
„Weg“, wiederholt Arthrax und deutet mit dem Daumen über die Schulter. „Sicherheit.“
„Wir müssen zur Schatzkammer“, widerspricht Allyster. „Nutz den Ametrin!“
„Sie wird uns riechen“, jammert Siwa. „Seid ihr wahnsinnig?“
„Das ist vielleicht unsere einzige Chance“, beharrt Allyster.
Von unten braust das Monster herbei, eine riesige Seeschlange. Noch ist sie weit unter euch, doch sie wird euch auf dem Weg nach oben einholen können …
Du zögerst, dann …
- … folgst du deinem Mentor. Lies weiter in Kapitel 22.
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- … fliehst du mit Arthrax. Lies weiter in Kapitel 23.