Du bist Arthrax Sundergeer.
Die Blicke, die euch folgen, lassen dir manchmal einen Schauer über den Rücken laufen. Als trainierter Krieger erkennst du auf einen Blick, dass diese mageren, müden Gestalten keine Gefahr für euch darstellen – und doch ist da dieses Gefühl einer Bedrohung, das sich nicht abschütteln lässt.
Die Bewohner von Krabvest, dem kleinen Dörfchen jenseits der Grenze, in dem ihr momentan unterkommt, sind misstrauisch. Sie haben den Krieg bereits gesehen. Schon vor Jahren zogen plündernde Söldnergruppen durch dieses Gebiet. Ihr persönlich habt euch auf dem Weg zu eurem Ziel in das Graumeer damals nicht unnötig aufgehalten, aber von euren Bundesgenossen kann man das nicht notwendigerweise behaupten. Sie haben gestohlen, vergewaltigt und ermordet. Die Narben jener Zeit müssen noch frisch sein, sodass ihr als Fremde überall aus der Ferne beobachtet werdet.
In eurer Hörweite sagen die Menschen nichts, jedenfalls nichts von ihren wahren Gefühlen. Sie sind geradezu überfreundlich und mitteilsam, erzählen euch von den schlechten Erträgen ihrer Felder, von den Kindern, die in fernen Städten seien, und ähnliche Märchen, mit denen sie ihren Besitz und ihre Familien schützen wollen.
Du kannst die Kälte in ihrem Blick sehen, diesen Hass, den das Lächeln nie ganz kaschieren kann. Es ist ähnlich wie mit dem Meer selbst: Das Graumeer ist entgegen seines Namens Azurblau, stellenweise türkis, ein glitzerndes Wellenmeer unter der angenehm warmen Sonne. Doch du weißt, dass dieser paradiesische Anblick trügt. Es ist Kriegsgebiet, das Land eurer Feinde – und ein Reich, in dem unzählige Tote unter den Wellen versunken sind.
Vor einigen Jahren habt ihr hier Seeschlachten für kalynorische Händler geführt. Aus dieser Zeit kennt ihr euren Kontaktmann, Siwa Ekana, einen vertrauenswürdigen Händler. So vertrauenswürdig, wie ein Schmuggler sein kann, der sowohl mit den Jenseitslanden als auch mit Kalynor handelt. Siwa profitiert von beiden Seiten des Krieges, doch deshalb muss er sich auch mit beiden Seiten gut stellen. Die Aussicht auf einen Anteil eurer fürstlichen Belohnung sollte seine Loyalität zur Genüge sicherstellen.
Laut den Vogelbriefen, die Allyster mit dem Schmuggler ausgetauscht hat, wird er morgen früh in Krabvest eintreffen. Gerade hast du zusammen mit dem Zauberer und Aji einen Brief an eure Freunde verfasst. In Situationen wie diesen wünscht du dir, dass du selbst schreiben könntest. Aji hat heute geschrieben, von Allyster diktiert, und du konntest dir anhören, wie zornig Allyster über jeden schief geschriebenen Buchstaben geschimpft hat. Das Schreiben klingt kompliziert und schwierig, so was ist nichts für dich. Aber es wäre schön, wenn du Brenna etwas schreiben könntest, von dem Allyster und Aji nichts wissen. Du weißt gar nicht, was du schreiben willst. Aber irgendwie fehlt es dir bereits wieder, mit Brenna abzuhängen und zu saufen. Ob es deiner Schwester genauso geht? Ärgert sie sich auch so sehr darüber, dass ihr euch in diesem wahnwitzigen Auftrag jedes Mal trennen müsst?
Es ist ja beinahe wie verhext. Als ihr wieder in der Taverne wart, warst du sicher, dass Brenna beim nächsten Mal mit dir in einer Gruppe wäre. Als Allyster die Gruppen anders aufteilte, hättest du am liebsten laut widersprochen. Als Brenna nichts in der Art getan hat, hast du dich dann auch zusammengerissen.
Du bist immerhin kein Kind mehr. Du musst nicht ständig am Rockzipfel irgendeines Weibs hängen. Aber trotzdem … du fühlst dich irgendwie nicht vollständig.
Jetzt ist Allyster schlafen gegangen und Aji sitzt irgendwo am Strand. Ihr habt dem Jungen eingeschärft, dass er die Kapuze nicht absetzen sollte, um sein merkwürdiges Haar zu verbergen. Hoffentlich ist er vernünftig und hält sich daran. Allmählich wird der Junge aufmüpfig. Du hattest selten mit Kindern zu tun, aber selbst du weißt, dass sie irgendwann ihre Grenzen austesten müssen. Unter anderem aus deiner eigenen Zeit im Waisenheim und von Brenna davor.
Du langweilst dich. Und da du niemals so verrückt wärst, Allysters Schlaf absichtlich zu stören, beschließt du, nach Aji zu sehen. Außerhalb der Taverne kannst du gleich freier atmen, als wäre der stechende Blick des Wirts, der am anderen Ende des Raumes Krüge wusch, eine Last auf deinen Schultern gewesen.
Du gehst zum Strand, lässt die Hütten und die angespannte Atmosphäre im Dorf hinter dir und betrachtest die Wellen. Deren regelmäßiger Rhythmus beruhigt dich wieder. Du hast gar nicht gemerkt, wie sehr du dich verspannt hast. Ja, die Bewohner von Krabvest sind harmlose Fischer, die keine Bedrohung für dich darstellen, selbst wenn du nicht zwei Schöpfersteine bei dir tragen würdest – aber du rechnest trotzdem die ganze Zeit mit einem Versuch. Es sind die Instinkte eines Mannes, der von Kindesbeinen an als Söldner gelebt hat. Du nimmst dieses Zittern in der Luft wahr, das Gefahr voraussagt. Eine Mischung aus Angst und brodelnder Wut, Verzweiflung und altem Groll.
Du wanderst am Strand entlang. Hier draußen sind kaum Menschen. Weiter im Westen, an den Kais, arbeiten Fischer an ihren Netzen und Arbeiter be- oder entladen die Schiffe. Aber hier draußen ist man recht allein. Der Strand ist flach, was es schwierig macht, sich an jemanden anzuschleichen. Ideales Gelände, wie du findest.
Aji sitzt auf einer vorgelagerten Landzunge, die künstlich errichtet wirkt. Ein Deich aus gestapelten, kopfgroßen Steinbrocken, der vermutlich die Gewalt der Wellen brechen soll. Nicht, dass die kleinen Wellen hier besonders gefährlich wirken … Doch die Geschichten von den Stürmen hast du bereits früher gehört.
„Arthrax!“, begrüßt dich Aji.
Du hockst dich neben ihn. „Na? Was machst du da?“
Grinsend zeigt Aji seine Sandburg. Er ist gerade dabei, den Wassergraben darum herum mit Kieseln zu befestigen. „Willst du mitmachen?“
„Ach, gerade nicht.“ Du bereust diese Worte schon im nächsten Moment. Scheiße, was wäre dabei, einen Kanal zum Wasser zu ziehen oder so? Aber jetzt hast du dich schon als vernünftiger Erwachsener gegeben, Chance vertan.
„Ich … hatte nachgedacht“, murmelte Aji. „Über das Graumeer. Es sieht nicht grau aus.“
„Ich glaube, das ist so ein Name, bei dem sich die Leute ganz viel gedacht haben“, brummst du und setzt dich nun doch in den warmen Sand. Du beginnst, mit dem Finger Linien in den Boden zu ziehen. „Die meiste Zeit ist das Meer hier ein Paradies, aber gelegentlich verwandelt es sich in einen schwarzen Albtraum. Weiß und Schwarz, verstehst du? Toll und … nicht so toll. Deshalb ist es das Graumeer. Weder das eine noch das andere.“
„Hm.“ Der Junge runzelt die Stirn.
Du machst noch ein paar Striche mit den Fingern, dann schaufelst du eine Handvoll Sand aus dem Viereck, das du instinktiv gemalt hast. Den feuchten Sand aus den tieferen Schichten klopfst du an den Wänden der Grube wieder fest.
„Was genau ist der Albtraum?“, fragt Aji vorsichtig.
„Gesehen habe ich das alles nie, ich kenne nur Gerüchte“, stellst du klar. „Vielleicht ist es nur Aberglaube. Als wir hier waren, haben sich die Kapitäne sämtlich geweigert, nachts zu fahren. Sie behaupten, dass dann Monster aus den Tiefen aufsteigen, die das Sonnenlicht fürchten. Aber sie erzählen auch von Geistern der Toten, merkwürdigen Lichtern, falschen Leuchttürmen … Das kann’s alles nicht geben.“
„Wieso nicht? Es gibt doch Magie.“
„Ja, aber … die Toten sin‘ tot. Die kommen nichts wieder. Niemals.“
Aji sieht auf und bemerkt dein Werk. „Nachbarburg?“
„Oder ein Wehrturm oder so.“ Mit einem merkwürdigen Gefühl siehst du auf die Burg. Ja, das macht Spaß, aber du hast gleichzeitig das Gefühl, du hättest bei einem Test versagt.
„Wir sollen also nachts nicht segeln. Dann können wir nicht weit fahren, oder?“
„Es gibt viele Inseln da draußen. Die Schiffe reisen von Insel zu Insel.“ Du hast den Widerstand aufgegeben und baust eine Insel inmitten deiner Grube, ein Fundament für einen Turm. „Das ist relativ umständlich, weil die Inseln natürlich nicht im idealen Abstand liegen. Die Reisen hier dauern ewig.“
„Und sonst gibt es nichts?“
„Na ja … da wären noch die Stürme. Die sollen heftig sein, aber sie sind zum Glück selten.“ Du lächelst den Jungen an. „Die werden wir garantiert nicht erleben.“
„Ich weiß nicht … wir haben schon ziemlich viel Pech.“
„Dann muss irgendwann eine Glückssträhne kommen. Denn wenn man den Geschichten glaubt, dann sind wir tot, sobald ein Sturm aufzieht. Mausetot.“
Der Junge wird still. Aji steht auf und klopft sich den Sand ab.
„Deine Burg ist doch noch nicht fertig.“
Er wendet den Blick nur langsam von den Wellen zu dir. „Ach … das ist doch unwichtig. Ich gehe mal zurück zum Zimmer und lerne noch etwas. Allyster schimpft sonst.“
Du siehst dem plötzlich schweigsamen Kind nach, mit dem unbestimmten Gefühl, dass er etwas weitaus Wichtigeres verloren hat als du mit deinem Kampf um Seriosität.
Dann siehst du auf den Sandturm, seufzt und zerstörst ihn mit einem Wischen. Schwerfällig drückst du dich hoch und machst dich auf den Rückweg zur Taverne, ein Stück hinter Ajis schmaler Gestalt. Der Junge trägt die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
Vielleicht hat er recht – solltest du auch etwas mit den Schöpfersteinen üben? Das kann doch nur helfen, wenn ihr sie im Kampf benötigt. Allerdings weißt du nicht, was genau du üben oder trainieren sollst. Beim Axtkampf hast du sinnvolle Übungen! Im Zweifelsfall ist es vielleicht besser, bei dem zu bleiben, was du kennst.
Du entscheidest dich …
- … für das Training mit den beiden Schöpfersteinen. Lies weiter in Kapitel 2.
[https://belletristica.com/de/chapters/338802/edit]
- … für das Axttraining. Lies weiter in Kapitel 3.