Du bist Arthrax Sundergeer.
Du baust dich vor Siwa Ekana zu deiner gesamten Größe auf und setzt deinen finstersten Blick auf. „Du wirst uns fahren, noch heute! Oder du wirst dir wünschen, niemals diesen Hafen angefahren zu haben!“ Betonend legst du die Hand auf deinen Dolch.
Die Augen des Graumeerers weiten sich entsetzt. Es tut dir auch leid, dass du so mit ihm umspringen musst. Eigentlich magst du Siwa. Er ist ein guter Mann, wenn auch nicht völlig vertrauenswürdig. Aber auch das kannst du respektieren. Was schuldet er euch schon, den Angehörigen eines Landes, das mit seinem im Krieg liegt?
Jetzt tritt er langsam beiseite, um euch über die Brücke auf das Schiff zu lassen.
„Käpt’n?“, fragt ein Mann, der oben am Holzsteg steht. Der muskulöse Kerl trägt kein Hemd, dafür eine offenbar schwere Kiste, die er nach unten tragen wollte.
„Wir legen ab“, erklärt Siwa mit düsterem Unterton.
„Aber … die Ladung! Die Waren!“ Der Matrose starrt verständnislos zu euch dreien, als ihr An Bord geht, dann zu seinem Kapitän.
„Ich sagte, wir legen ab!“, faucht Siwa ihn an. „Die Ladung werden wir auf Finkey los!“
Ihr erreicht das Deck. Mehrere Matrosen stehen hier wie erstarrt, die Taue noch in den Händen. Ihr habt sie mitten in ihrer Arbeit unterbrochen. Nun tauschen sie irritierte Blicke, während sie die Segel doch wieder herunterlassen und den Anker rasselnd wieder einholen.
Die Mannschaft ist alles andere als begeistert über diese Planänderung. Aber ihr könnt es nicht helfen.
„Ich hoffe, ihr wisst, was ihr tut“, raunt Siwa euch zu, ehe er auf das höchste Deck geht und das Ruder umfasst. Er brüllt Befehle über das Deck, die von einigen der Männern weitergegeben werden. Wind erfasst eure Segel, das Schiff wird wieder auf die Wellen hinausgezogen. Fast, als würde ein übernatürlicher Sog es zu sich zerren …
°°°
„Land in Sicht!“
Siwa atmet hörbar auf. Du drehst dich zu dem Kapitän. Längst habt ihr einen Platz vor dem Steuer eingenommen, an dem Geländer, von wo aus ihr einen guten Blick auf das geschäftige Treiben der Seefahrer habt, ohne ihnen im Weg zu stehen. Die Mannschaft funktioniert perfekt, wie eine Maschine, in der jedes Teilchen genau dann da ist, wo es gebraucht wird.
Nun richten sich viele auf, als hätten sie sich bisher unter einer Last geduckt. Die Männer – und einige Frauen – waren in den vergangenen Minuten zu einem nervösen Haufen geworden. Manch ein Blick galt dem Himmel, während sich die Lippen in einem gehauchten Gebet bewegten. Als würden die dunkler werdenden Wolken sich als Gewicht über sie senken, haben sie sich zusammengekauert.
Ihre Furcht vor der Dunkelheit ist extrem. Du hast ein schlechtes Gewissen, weil du Siwa hierzu gezwungen hast. Doch welche Schrecken sollen schon in der Nacht lauern? Vielleicht einige größere Fische? Dagegen gab es in Krabvest eine reale, greifbare Gefahr. Sie hätten euch dort sicherlich gejagt und getötet. Selbst mit euren Schöpfersteinen könnt ihr euch nicht gegen eine ganze Meute zur Wehr setzen!
Nun, ihr habt den nächsten Hafen vor euch. Das sollte auch die Mannschaft erst einmal zufriedenstellen. Sie arbeiten wieder beschwingter, stellen die Segel ein, helfen schließlich mit den langen Rudern nach, als ihr eine Bucht vor euch seht.
Zwei Felsarme umrahmen einen natürlichen Hafen, der vor den Wellen geschützt ist. Ein Leuchtturm weist euch den sicheren Weg zwischen den Klippen hindurch. Im Herzen der Bucht funkeln die Lichter einer Stadt, die sich über die verschiedenen Ebenen der Insel erstreckt.
Das muss Finkey sein. Ob damit die Stadt oder die Insel gemeint ist, weißt du nicht genau und du hast auch keine Lust, zu fragen. Dich interessiert nur eines.
„Siwa? Gibt es dort gutes Bier?“
„Bier? Nein, mein Freund, Finkey hat nicht mal ein Gasthaus.“
Du reißt die Augen auf. „Was?“
„Selbst wenn, während der Arbeit wird kein Bier getrunken“, zischt Allyster strafend. Dann wendet er sich an Siwa. „Und wir wollen auch nicht ankern, Kapitän Ekana.“
Verwirrt runzelt Siwa die Stirn. „Sollen wir die Nacht in der Bucht dümpeln?“
„Nein.“ Allyster hat diesen scharfen Tonfall drauf, der bedeutet, dass er innerlich brodelt. „Wir haben großen Zeitdruck. Ich will keine Nacht auf irgendeiner unbedeutenden Insel verschwenden. Wir segeln weiter!“
Siwas Haut wird eine Nuance heller. „Etwa … in der Nacht?“
„Ach, kommt mir nicht mit den Kindergeschichten!“, knurrt Allyster. „Ja, wir nutzen die Nacht. Dort droht uns keine Gefahr, eher weniger. Wir könnten sinken, weil wir in der Dunkelheit zu nah an die Klippen fahren!“ Er weist nach vorne zur Bucht. „Das da ist das wahre Risiko, nicht die Dunkelheit.“
„Nein, Meister Magier.“ Siwa schüttelt den Kopf. „Ich fahre nicht in der Nacht. Niemals.“
Allyster verschränkt die Arme vor der Brust. „Wir sind in einem gefährlichen Auftrag unterwegs. Jeder verstreichende Tag kann über Leben oder Tod entscheiden – unseren, den unserer Freunde und den unserer Auftraggeber. Also noch einmal in aller Deutlichkeit: Wir haben keine Zeit!“
Siwa stellt sich stur. „Wir laufen jetzt in den Hafen ein!“
Allyster wendet sich mit einem müden Seufzen an dich. „Arthrax?“
Nachdem du den Streit der beiden bisher nur stumm verfolgt hast, zuckst du jetzt zusammen. Das ist mal wieder typisch – jetzt sollst du alles wieder reißen. Der nervöse Blick, den Siwa dir zuwirft, verrät, dass du auch durchaus Erfolg haben könntest. Du müsstest nur etwas die Muskeln spielen lassen.
Aber willst du das? Willst du den armen Mann zwingen, sich seiner größten Angst zu stellen? Du versuchst, dich in ihn hineinzuversetzen. Doch deine größte Angst ist, dass Brenna etwas zustößt. Und wie sagte Allyster so schön? Jeder Tag, den ihr länger braucht, bist du länger von ihr getrennt. Sie befindet sich in hoher Gefahr, wie ihr alle, und die Chance, dass ihr etwas zustößt, ist tatsächlich sehr hoch.
Wieder betrachtest du Suwi, der inzwischen vor Angst zittert.
Du überlegst und sprichst dich dafür aus, …
- … die Nacht in Finkey zu verbringen. Lies weiter in Kapitel 8.
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- … Suwi zur Weiterfahrt zu zwingen. Lies weiter in Kapitel 9.