Du bist Aji.
Besorgt siehst du zu Arthrax, der die Axt langsam sinken lässt. Seine Hände beben. Es sind große, starke Kriegerhände, viermal so groß wie deine. So hast du Arthrax noch nie gesehen!
„Was sagst du über meine Schwester?“, grollt er nun den Albino-Graumeerer an. „Nimm das sofort zurück!“
„Es ist die Wahrheit. Und es ist nicht meine Schuld, sondern deine“, sagt der Fremde mit ruhiger Stimme. „Sie wird sterben, wenn ihr uns nicht sagt, wo sie ist. Ja, wir werden sie gefangennehmen, eure ach so wichtige Mission wird scheitern. Aber tun wir das nicht, dann wird sie Barkan’dor erreichen, was dir deutlich weniger gefallen sollte.“
Arthrax schäumt. Durch den ‚Rüssel‘ seines Pikuns strömen Luftbläschen in dichten Strömen. Er sieht fast aus wie die Drachen auf den alten Zeichnungen, die Feuerdrachen, die früher angeblich in Kalynor lebten. Drachen, denen Rauch aus den Nüstern strömte, mächtige Feuerechsen mit Klauen wie Speeren.
Allerdings ist der Graumeerer nicht besonders beeindruckt davon. Der Albino mustert Arthrax mit einem abfälligen Lächeln. „Denkst du, der Elf und die Piratin können sie beschützen? Nein. Nicht in den Minen der Zwerge.“
„Was soll das heißen?“
„Das heißt, dass sie verloren ist, sobald sie die Grenze ins Reich der Zwerge überquert. Deine Schwester wird niemals zurückkehren. Du weißt, dass ich recht habe. Du hast davon geträumt. Ja, du fürchtest dich davor, sie zu verlieren. So stark du auch tust, Kalynorer, du bist nichts ohne sie. Und ich weiß, was du am meisten bereust. Du wirst immer mit dieser Schuld leben müssen, wenn du mir nicht hilfst, Brenna zu retten.“
Hilflos siehst du zwischen den beiden hin und her. Du hast keine Ahnung, wovon der Albino redet, doch Arthrax glaubt ihm offenbar. Die Axt ist ihm fast aus den Fingern geglitten.
„Sie wird leiden“, fährt der Albino mit trügerisch sanfter Stimme fort. „Ihre Gefährten werden zu spät kommen. Du kennst um ihre Schwächen. Karja ist treu, aber sie gehört auf die See, nicht unter die Erde. Elred, so treffsicher er ist, ist im Kampf Mann gegen Mann unterlegen – und wenn sein Gegner auch nur halb so groß ist!“ Eindringlich sieht er Arthrax in die Augen. „Du weißt es. Du kennst sie besser als sie sich selbst. Weil das deine Liebe ist, stumm, wachsam, unsichtbar.“
Langsam schüttelt Arthrax den Kopf. „Brenna … ist stark …“
„Stärker als du, so viel ist klar. Aber manche Feinde der Tiefe kann auch sie nicht bekämpfen. Weißt du, dass sie in ihren letzten Momenten nach dir rufen wird? Und du wirst es nicht hören. Du wirst es nicht wissen. Es gibt kein unsichtbares Band zwischen Geschwistern, dass es dich wissen lassen wird. Erst wenn sie zurückkommen … wenn Elred dich schuldbewusst ansieht, weil er weiß, dass er das unausgesprochene Versprechen gebrochen hat, das er dir nie gegeben hat …“
Arthrax atmet inzwischen schnell und flach. Er erinnert nicht mehr an einen Drachen, sondern wirkt selbst in deinen Augen wie ein kleines Kind.
„Es reicht!“, ruft Allyster zornig. „Schluss mit den Spielchen.“
„Das sind keine Spielchen“, entgegnet der Albino ruhig und sieht deinem Mentor in die Augen. „Es ist die Wahrheit.“
Allyster erstarrt, seine Augen weiten sich. Scheinbar sieht er eine Vision, wie vielleicht schon Arthrax. Siwa sieht angespannt zu dir. Euer Verbündeter ist ratlos, und auch du weißt nicht, was du tun sollst.
„Die Zukunft ist wandelbar, ja“, spricht der Fremde mit melodischem Singsang. „Viele Wege führen durch die Zeit. Wir wussten nicht, auf welchem davon ihr kommt, doch dass ihr kommt, war klar zu sehen. Und ebenso klar und deutlich sehen wir die Leiche der Kriegerin Brenna, wenn ihr euch hier weiterhin weigert. Ich will nicht lügen – ihr Leben kümmert mich nicht. Ich kenne sie nicht, ich sehe sie sogar als Feindin. Aber ich bin bereit, sie zu retten, wenn ihr mir die Schöpfersteine überlasst. Ich will mein Land retten, ihr die Zukunft verhindern, in der ihr sie verliert. Ist das nicht ein fairer Tausch? Seht es euch an. Ihr spürt, dass kein fauler Zauber daran ist. Die Macht des Selenits ist dieser Blick voraus, eine Warnung, der wir nur folgen können. Streckt mir die Hand entgegen und ihr werdet sehen, wie der Schrecken schwindet.“
Tatsächlich bewegt Arthrax die Hand nach vorne und sein Blick verklärt sich hoffnungsvoll.
„Oh nein“, flüstert Siwa. „Sie glauben ihm.“
Das Herz schlägt dir bis zum Hals. Zwar kannst du die Visionen deiner Freunde nicht sehen, aber selbst du spürst die bedrohliche Wahrheit. Es ist etwas in der Stimme des Fremden. Du hast viele Lügner getroffen, aber er lügt nicht. Er verhandelt mit euch, und er ist in einer mächtigen Position.
Du musst etwas tun! Panisch siehst du dich um und fasst dann nach dem Ametrin. Vielleicht sind Tote in der Nähe, die du zu dir rufen kannst. Als du den Stein berührst, glüht der weiße Stein am Hals des Albinos wie zur Antwort auf und der blinde Blick des Fremden ruckt zu dir herum.
„Du“, flüstert er. „Sieh her!“
Du blinzelst, und plötzlich siehst du Brenna. Schreiend stürzt sie in einen Abgrund, aus dem Flammen schlagen. Wieder und wieder siehst du sie fallen, Elred und Karja daneben, die die Hände ausstrecken. Manchmal ändert sich ein Detail. Die Kleidung ist mal getarnt, mal ihre normale Kleidung. Sie kriegen Verletzungen, die wieder verschwinden. Du begreifst, mit einer Sicherheit, wie man sie sonst nur im Traum hat, dass es verschiedene Zukunftsvisionen sind. Die Details mögen sich ändern, doch dieser Fixpunkt bleibt.
Brenna stirbt. Wie ein Felsen, an dem kein Weg vorbeiführt, ein schwarzer Berg auf der Straße, die ihr nehmen wollt. Die einzige Möglichkeit, diese Vision zu vertreiben, ist, wenn du in Betracht ziehst, die Steine aufzugeben. Dann siehst du Kalynor in Flammen, aber ihr seid alle zusammen. Brenna ist bei euch. Du siehst sogar, wie ihr euch friedlich von den Graumeerern abführen lasst – euch geschieht kein Leid.
„Der Selenit kann nicht lügen“, säuselt der Albino euch ins Ohr. Du weißt, dass er recht hat. Es ist, als würde der weiße Stein mit dem Ametrin kommunizieren. Immerhin sind die Schöpfersteine ja auch ähnliche Wesenheiten. Der Ametrin, der bereits ein vertrauter Freund für dich ist, sagt dir, dass du der Vision glauben kannst. Für Arthrax, der gleich zwei Schöpfersteine trägt, muss es noch deutlicher sein.
„Welche Treue schuldet ihr Kalynor? Ist sie das Leben eurer Gefährtin und Schwester wert?“, fragt euch der Fremde. „Wir können uns gegenseitig helfen. Ihr könnt auf Vergebung hoffen, wenn ihr jetzt das Richtige tut. Ihr könnt bleiben.“
„Allyster …?“ Das ist Arthrax‘ Stimme, doch der Krieger klingt so kläglich, dass du ihn fast nicht erkennst. „Allyster, wir können sie nicht … opfern.“
„Visionen“, murmelt dein Mentor ungläubig. „Es ist die Zukunft. Wir haben sie in der Hand.“
Langsam senkst du den Blick auf deine eigenen Hände. Siwa schwimmt hilflos neben euch. Arthrax ist verzweifelt, Allyster wie betäubt von der neuen Erkenntnis. Es liegt an dir – sollst du die Entscheidung für deine Gruppe treffen? Kannst du das?
Und welche Entscheidung soll es sein? Arthrax wird dir nie verzeihen, wenn du Brenna opferst. Aber ist ihr Leben wirklich mehr wert als ganz Kalynor?
Du entscheidest dich, …
- … Kalynor zu opfern. Lies weiter in Kapitel 28.
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- … Brenna zu opfern. Lies weiter in Kapitel 29.