Du bist Arthrax Sundergeer.
Deine Entscheidung fällt rasch. So mächtig die Schöpfersteine auch sind, du weißt nicht, wo du da überhaupt anfangen sollst. Beim Kampftraining dagegen ist das einfach. Man beginnt mit dem Aufwärmen, dehnt sich und geht dann die Bewegungsfolgen durch, die du längst im Schlaf beherrschst.
Du rennst los, kaum, dass deine Entscheidung gefallen ist. In einem gemächlichen Tempo überholst du Aji, der dir einen fragenden Blick zuwirft.
„Viel Spaß beim Lernen. Ich bin im Hinterhof.“
Der Junge winkt dir nach, während du deinen Weg in das Dorf hinein suchst. Du nimmst einen kleinen Umweg durch die äußeren Straßen, bevor du zum Gasthof zurückkehrst. Inzwischen geht dein Atem schwer. Das sollte erst einmal reichen, um sich aufzuwärmen!
Der Hof des Gasthauses ist eher ein Stück Sand, wo das Dünengras etwas zurückgeschnitten wurde. Der Boden ist immerhin eben, wenn auch von weichem Sand bedeckt. Es gibt nur eine Tür nach hinten, sowie die schmalen Fenster der Gästezimmer.
Hier beginnst du damit, dich etwas zu dehnen. Du warst noch nie besonders beweglich, genauso wenig wie Brenna. Aji, der nicht einen Tag in seinem Leben geübt hat, ist sehr viel besser als ihr. Und Elred sowieso …
Aber das Dehnen gehört dazu. Du beugst dich zu deinen Zehen herab, kreist mit den Armen, drehst den Rücken und machst noch einige andere Übungen, dann ziehst du deine Axt hervor.
Du wirbelst die mächtige Kriegsaxt herum, schwingst sie über den Kopf, lässt sie in den Händen tanzen. Die Axt ist schwer – fast so schwer wie Aji – aber mit dem richtigen Schwung wird sie schlagartig federleicht. Der Trick besteht darin, niemals gegen die Waffe zu arbeiten, sondern mit ihr. Du folgst ihren Schwüngen, drehst dich hinterher oder bildest den Ankerpunkt, die Muskeln in Rumpf und Rücken stahlhart gespannt. Obwohl sich der Abend langsam über das Land senkt, bist du bald schweißüberströmt und musst das Hemd ablegen. Die warme Luft streicht über deine verschwitzte Haut, während du Übungsschläge ausführst, die vertrauen Blockbewegungen weiter einstudierst und dich ganz in das Spiel mit deiner Waffe vertiefst. Nach einer Weile nimmst du noch das Messer dazu, denn wenn man mit der Axt einen großen Bogen schlägt, kann man den Gegner manchmal mit einem gezielten Dolchstoß überraschen. Der Trick besteht darin, dass der Dolch ganz anders zu führen ist als eine Axt. Während deine Hauptwaffe langsam und schwerfällig ist, um genug Kraft aufzubauen, muss ein Dolchstoß schneller als ein Wimpernschlag sein, sodass der Gegner ihn nicht kommen sieht. Du bist mit der Axt jedoch so vertraut, dass du während der Schläge seelenruhig den Dolch zücken, stoßen und ihn wieder in das Halfter schieben kannst.
Eine ganze Weile bist du so in dein Training vertieft, aber schließlich bemerkst auch du die Unruhe. Rufe hallen durch die Stadt, einzelne Satzfetzen trägt der Wind auch bis zu dir.
„Das erste Omen!“
„Sie sind gekommen! Kalynor ist gekommen, um dem Selenit zu stehlen!“
„Findet die Eindringlinge. Denkt an die Belohnung.“
Die Axt fällt dir fast aus den Händen. Das klingt nach einer Menge zorniger Fischer – die nach euch suchen! Fast wie auf ein Stichwort öffnet sich auch eines der rückwärtigen Fenster und Allyster sieht heraus. Hinter ihm kannst du Aji erkennen.
„Da bist du ja!“, ruft der Zauberer herab. „Arthrax, pack deine Taschen. Ich denke, wir sollten zum Hafen.“
°°°
Du brauchst nicht lange, um zu packen. Ihr wusstet ja alle, dass es bald weitergeht, und die Atmosphäre im Gasthof war so dicht, dass ihr auch kein Bedürfnis hattet, euch häuslich einzurichten. Offenbar habt ihr euch nicht getäuscht, denn es klingt, als rechnen wenigstens ein paar der Bewohner mit eurem Eindringen …
Wenig später habt ihr also eure Bündel und Rucksäcke bereits geschultert und eilt durch die Straßen hindurch zu den Kais.
Aji stürmt euch voran, schließlich bleibt er stehen und winkt. „Er ist da!“
Wenig später erblickst auch du die vertraute Flagge von Siwa Ekana, zwei Krabben auf orangenem Grund. Erleichterst atmest du auf. Ein freundlicher Anblick!
Der Graumeerer kommt euch auf dem Schiff entgegen. Er ist kein einfacher Mensch, sondern einer vom Jenseitsvolk. Seine Haut ist gebräunt und mit dunkleren, rötlichbraunen Tattoos bedeckt, gepunktete Linien, stilisierten Haien und Angelhaken. Seine Haut wird stellenweise von Knochen durchbrochen, die in die Tattoos eingearbeitet sind. Haiknochen oder etwas ähnliches, das wie eine Nadel durch die Haut gestoßen wird. Knochen und Muscheln sind auch in sein Haar geflochten. Am auffälligsten ist aber sein langgezogener Körperbau mit großen, flossenähnlichen Füßen, die auf dem Holz der Docks klatschen.
„Meine Freunde!“ Er breitet die Arme aus und grinst. „Da seid ihr ja schon.“
„Können wir heute bereits aufbrechen?“, fragt Allyster ihn statt einer Begrüßung.
Siwa verzieht das Gesicht unwillig. „Es ist fast dunkel … Wir würden die nächste Insel vielleicht nicht vor der Nacht erreichen.“ Er glaubt wirklich an dieses Geschwätz – seine Stimme erhält einen dunklen Akzent, den er sonst meist verbirgt, wenn er unter Fremden ist. Er rollt das R, als wäre seine Zunge zu schwer für diesen Laut. Nachdenklich legt der Schmuggler den Kopf schief. „Warum habt ihr es so eilig?“
„Wir haben … etwas Ärger.“ Allyster sieht sich um. Allerdings liegt Krabvest friedlich und still hinter euch. Von einer zusammengerotteten Meute ist nichts zu sehen. Einzelne Bewohner bewegen sich von den Docks zum Dorf oder laufen auf dem Weg zu irgendwelchen Besorgungen vorbei. Niemand schenkt euch einen zweiten Blick.
„Ärger also“, meint Siwa zweifelnd. „Hört mal, der Ozean ist mehr Ärger, eindeutig. Lasst uns morgen fahren.“
Allyster dreht sich zu dir und gestikuliert ungeduldig. Offenbar sollst du den Kapitän überzeugen oder einschüchtern. Du zögerst und siehst noch einmal zum Dorf. Es gibt kein Anzeichen mehr von Feindseligkeiten. Vielleicht war es ja nur ein verrückter Priester, der die Menschen für einen Moment angestachelt hat? Außerdem sind die meisten Leute hier Menschen, teilweise selbst Kalynorer. Kann der Aufstand wirklich etwas mit euch zu tun haben?
Ja, du könntest Suwi zwingen, jetzt noch loszufahren. Aber es ist tatsächlich ruhig. Sollte der Spuk so schnell vorbei sein? Wart ihr vielleicht einfach zu paranoid?
Du wendest dich Suwi wieder zu und …
- … stimmst zu, die Nacht abzuwarten. Lies weiter bei Kapitel 6.
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- … drohst ihm, damit er euch sofort mitnimmt. Lies weiter bei Kapitel 7.