Du bist Arthrax Sundergeer.
Du senkst den Kopf und trittst zurück. Obwohl Allyster nun die Augen gefährlich verengt und dich strafend ansieht, du kannst Siwa nicht bedrohen. Der Kapitän ist dir sehr sympathisch, vor allem aber ist er euch zu keinerlei Treue verpflichtet. Wer weiß, wenn ihr zu viel Druck ausübt, beschließt er vielleicht, euch stattdessen zu verraten!
Davon abgesehen ist es nun wirklich wieder still. Vermutlich war es nichts und ihr seid einfach paranoid. Du lächelst Siwa an. „In Ordnung, mein Freund. Morgen fahren wir dafür so früh wie möglich, in Ordnung?“
„Selbstverständlich. Aber jetzt aus dem Weg mit euch – ich muss Waren abladen! Die will ich nicht zurück nach Finkey fahren.“
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„Was sollte das?“, fragt Allyster dich, als ihr wieder auf euren Zimmer seid. „Hatte ich nicht klargemacht, dass wir hier weg sollten?“
Tapfer hältst du dem zornigen Blick des Zauberers stand. „Es gibt keinen Grund, überstürzt aufzubrechen. Oder siehst du hier irgendwo einen Mob mit Fackeln und Mistgabeln?“
Allyster sieht finster durch den Schankraum. Hier sitzen einige Reisende, viele sehen müde in ihre Eintöpfe, die sie mit Brot auftunken. Andere trinken mehr oder weniger schweigend, ganz in ihren Gedanken versunken.
Allyster seufzt. „Na gut. Vielleicht gibt es keinen Grund zur Sorge. Aber etwas Eile kann uns ja auch nicht schaden. Und vor allem hätte ich es gerne, wenn du auf mich hörst.“
„Ich bin kein Kind“, brummst du mies gelaunt.
„Natürlich nicht, Arthrax. Aber ich bin immer noch älter! Du kannst mich doch nicht einfach so ignorieren.“
„Das habe ich nicht“, sagst du beschwichtigend. „Ich denke nur … Siwa ist ein Einheimischer. Er kennt den Ozean. Wenn er sagt, dass er nachts nicht fahren will, dann hat er sicherlich einen Grund dafür.“
„Sag bloß, du wurdest auch von diesem Aberglauben angesteckt!“ Allyster stöhnt genervt.
„Wir wohnen hier nicht. Er schon.“
„Kapitän Ekana ist wie alle Seefahrer. Sie glauben die Kindermärchen, die sie ihren Jüngsten erzählen. Das heißt nicht, dass wir das tun sollten. Aber“, Allyster atmet tief durch, „ich verstehe deine Sorgen. Also werden wir morgen fahren. Aber in Zukunft will ich nichts mehr über diese Legenden hören!“
Du nickt, dann winkst du dem Wirt. „Ein Bier! Willst du auch, Allyster?“
„Bist du verrückt geworden? Wir sind in einem Job!“ Der Magier dreht sich zum Wirt. „Kein Bier!“
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„Land in Sicht!“
Zwei Felsarme umrahmen einen natürlichen Hafen, der vor den Wellen geschützt ist. Ein Leuchtturm weist euch den sicheren Weg zwischen den Klippen hindurch. Im Herzen der Bucht leuchten die bunten Häuser einer Stadt, die sich über die verschiedenen Ebenen der Insel erstreckt.
Das muss Finkey sein. Ob damit die Stadt oder die Insel gemeint ist, weißt du nicht genau und du hast auch keine Lust, zu fragen. Dich interessiert nur eines.
Du drehst dich zu dem Kapitän. Längst habt ihr einen Platz vor dem Steuer eingenommen, an dem Geländer, von wo aus ihr einen guten Blick auf das geschäftige Treiben der Seefahrer habt, ohne ihnen im Weg zu stehen. Die Mannschaft funktioniert perfekt, wie eine Maschine, in der jedes Teilchen genau dann da ist, wo es gebraucht wird.
„Siwa? Gibt es dort gutes Bier?“
„Bier? Nein, mein Freund, Finkey hat nicht mal ein Gasthaus.“
Du reißt die Augen auf. „Was?“
„Selbst wenn, während der Arbeit wird kein Bier getrunken“, zischt Allyster strafend. Dann wendet er sich an Siwa. „Und wir wollen auch nicht ankern, Kapitän Ekana.“
Verwirrt runzelt Siwa die Stirn. „Es ist fast Abend und die Strecke bis zum nächsten Hafen ist länger.“
„Na und?“ Allyster hat diesen scharfen Tonfall drauf, der bedeutet, dass er innerlich brodelt. „Wir haben großen Zeitdruck. Ich will keine Nacht auf irgendeiner unbedeutenden Insel verschwenden. Wir segeln weiter!“
Siwas Haut wird eine Nuance heller. „Etwa … in der Nacht?“ Er schüttelt den Kopf. „Ich fahre nicht in der Nacht. Niemals.“
Allyster verschränkt die Arme vor der Brust. „Wir sind in einem gefährlichen Auftrag unterwegs. Jeder verstreichende Tag kann über Leben oder Tod entscheiden – unseren, den unserer Freunde und den unserer Auftraggeber. Also noch einmal in aller Deutlichkeit: Wir haben keine Zeit!“
Siwa stellt sich stur. „Wir laufen jetzt in den Hafen ein!“
Allyster wendet sich mit einem müden Seufzen an dich. „Arthrax?“
Nachdem du den Streit der beiden bisher nur stumm verfolgt hast, zuckst du jetzt zusammen. Das ist mal wieder typisch – jetzt sollst du alles wieder reißen. Der nervöse Blick, den Siwa dir zuwirft, verrät, dass du auch durchaus Erfolg haben könntest. Du müsstest nur etwas die Muskeln spielen lassen.
Aber willst du das? Willst du den armen Mann zwingen, sich seiner größten Angst zu stellen? Du versuchst, dich in ihn hineinzuversetzen. Doch deine größte Angst ist, dass Brenna etwas zustößt. Und wie sagte Allyster so schön? Jeder Tag, den ihr länger braucht, bist du länger von ihr getrennt. Sie befindet sich in hoher Gefahr, wie ihr alle, und die Chance, dass ihr etwas zustößt, ist tatsächlich sehr hoch.
Wieder betrachtest du Siwa, der inzwischen vor Angst zittert.
Du überlegst und sprichst dich dafür aus, …
- … die Nacht in Finkey zu verbringen. Lies weiter in Kapitel 10.
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- … Siwa zur Weiterfahrt zu zwingen. Lies weiter in Kapitel 11.