Du bist Allyster der Sehende.
Du atmest tief durch, bevor du deine Entscheidung fällst. „Wir müssen es wagen.“ Die Reise durch den Sturm ist sicherlich riskant, besonders, wenn du dir die finstern Wolken so ansiehst. Trotzdem bist du dir deiner Sache sicher.
„Das wird unser Untergang“, murmelt Siwa Ekana finster.
„Wir werden es schaffen“, widersprichst du und umfasst den Selenit. Die Vision des Schiffes auf den Wogen steht dir noch klar vor Augen. Doch du hast nicht gesehen, dass jenes Schiff untergeht … An diese Hoffnung klammerst du dich, denn der Stein der Weisheit in deinem Griff bleibt stumm.
Der Tag wird so finster wie die gefürchtete Nacht des Graumeers. Die Wogen werfen euer Schiff umher. Ekana überlässt das Steuer einem Seemann und eilt über sein Schiff, um Anweisungen zu brüllen, die der immer lautere Donner zu ertränken droht. Der Wind peitscht euch Regen entgegen, der bald so dicht ist, dass ihr das Ende des Schiffes nicht mehr sehen könnt. Die grauen Ströme beschränken eure Sicht mehr und mehr.
Ob du wirklich die richtige Entscheidung getroffen hast? Du hast erste Zweifel, als du siehst, wie die Seeleute Eimerketten bilden, um Wasser aus dem Rumpf zu schöpfen. Andere müssen zu fünft oder sechs an den Tauen ziehen, damit die Segel nicht abgerissen werden. Die Windböen drücken euch mal tief in die Wellen, mal scheinen sie euch aus dem Wasser heben zu wollen, jedes Mal schlagen sie wie eine Faust nach euch. Die Wellen türmen sich ringsum zu Bergen auf. Um überhaupt manövrieren zu können, hat Kapitän Ekana Seeleute an den Seiten des Schiffes flankiert, die mit Laternen Lichtsignale geben, um ihm zu erklären, was sie sehen – ob Wellenberge oder -täler, oder gar zerstörerische Klippen. Die geschwenkten Lampen flackern im Wind, nicht selten muss ein Seemann die seine wieder entzünden. Du klammerst dich an die Reling und hältst Aji fest. Von Regen und aufspritzender Gischt seid ihr bis auf die Knochen durchnässt. Jetzt wünscht du dir das Pikun zurück, du könntest es gut gebrauchen.
Angesichts eines solchen Sturms muss man einfach demütig werden. Die Blitze beleuchten den fast waagerecht gewehten Regen und die gewaltigen Wellenberge. Das Tosen um euch her ist ohrenbetäubend, der Tag allerdings so schwarz, dass ihr kaum etwas sehen könnt. Das Herz schlägt dir bis zum Hals, doch deine Angst ist vermengt mit Bewunderung. Vielleicht ist das jene Ehrfurcht, von der die Priester im Sonnentempel sprachen. Wie ironisch, dass du die Götter ausgerechnet in den Jenseitslanden, in diesem finsteren Sturm zu erkennen glaubst!
Neben dir reißt Kapitän Ekana am Ruder. Der Graumeerer steht breitbeinig da und schwankt nicht im Sturm. Erstaunt bemerkst du ein Grinsen auf seinem Gesicht. Wo ist der ängstliche Mann hin, der euch nicht bei Nacht fahren wollte? Vermutlich ist euer Kapitän wahnsinnig geworden …
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Die See ist trügerisch ruhig und glatt wie ein Spiegel, der die prachtvollen Farben der Dämmerung widerspiegelt. Kaum ein Windhauch rührt sich, sodass die Seeleute euch das letzte Stückchen zum Hafen von Krabvest rudern müssen.
Es ist unglaublich, wie rasch das Wetter umgeschlagen ist. Jetzt ist das Graumeer wieder jenes Paradies, in dem ihr alle zur Ruhe kommen könnt. Gestern, bis tief in die Nacht, hat der Sturm euch gebeutelt. Erst heute habt ihr euch kurz vor der Insel Finkey zurechtgefunden. Der mächtige Sturm hätte euch zwar beinahe das Leben gekostet – einige Seeleute wurden auch von Bord gerissen – aber er hat euch im gleichen Zuge auch weit vorangebracht.
So war es keine große Frage mehr, ob ihr weiterfahrt oder in Finkey anlegt. Alle, sogar die Graumeerer, wollten nach diesem Sturm nach Hause. Einige hast du murmeln gehört, dass sie tot und im Jenseits sein müssen, da niemand einen Sturm im Graumeer überlebt.
Aberglaube – in diesem Fall jedenfalls. Der Sturm war vielleicht nicht natürlichen Ursprungs, doch er besaß nicht genug Verstand, um euch zu versenken! Es war zwar ein Kampf ohne gleichen für euch, aber ihr habt überlebt. Darauf kommt es an!
Deine Gefährten sind schweigsam. Die Seeleute trauern um ihre Gefährten. Aji ist noch immer wütend auf dich, weil du ihn monatelang mit der Grammatik der Magie gequält hast. Damit hat er wohl auch recht … er hat immer wieder betont, dass er genauestens weiß, wie die Schöpfersteine funktionieren. Du wolltest ihm nicht glauben.
Arthrax dagegen sorgt sich um Brenna. Ihr Leben steht auf der Kippe. Nun müsst ihr herausfinden, wie ihr ihr helfen könnt. Ansonsten wird er euch nie verzeihen.
Nachdenklich siehst du auf den Selenit in deiner Hand. Seitdem Karja euch erklärt hat, wie besonders die Steine sind, wolltest du ebenfalls einen besitzen. Aber dieser hat euch nicht nur Glück gebracht. Du hast einen düsteren Preis bezahlt.
Doch darum wirst du dich kümmern! Ihr habt Brenna vielleicht durch eure Entscheidungen in Gefahr gebracht, doch es war der einzige Weg. Nun werdet ihr dafür sorgen, dass diese Zukunft schlichtweg nicht eintrifft!
An der Küste könnt ihr in Ruderboote umsteigen. Krabvest ist das gleiche verschlafene Örtchen wie vor wenigen Tagen. Ihr mustert die Bewohner hier, insbesondere die Graumeerer, doch die Botschaft vom Diebstahl hat sich offenbar noch nicht verbreitet. Als ihr euch auf dem Weg zum gleichen Gasthaus wie zuvor macht, bleibt Siwa Ekana stehen.
„Hier trennen sich unsere Wege, meine Freunde.“
Ihr kehrt um. „Vielen Dank“, sagst du und meinst es aus vollen Herzen so. Ohne Ekanas Hilfe hättet ihr den Selenit niemals stehlen können. Du fasst unter deine Robe und ziehst eine Flasche heraus, welche du entkorkst. Interessiert hebt Ekana eine Braue, als du ein zusammengerolltes Pergament herausschüttelst.
„Diese Karte führt dich zum Rest des Geldes“, erklärst du ihm. „Es ist an diesem Strand, nicht allzu weit entfernt. Ich hatte das Gefühl, dass du es vielleicht nicht direkt haben willst.“
„Heiße Waren.“ Der Schmuggler grinst. „In der Tat, damit sollte man umsichtig sein. Ich werde mich aber immerhin vergewissern, dass es dort ist.“ Er scheint euch jedoch nicht ernsthaft zu misstrauen. Nach allem, was ihr zusammen durchgestanden habt, wäre das auch schwierig.
„Ich hoffe, die Graumeerer wissen nicht von deiner Beteiligung“, sagt Arthrax.
Siwa Ekana schüttelt den Kopf. „Das können sie unmöglich wissen. Wer soll mich erkannt haben? Ich bin nur ein kleiner Kapitän. Macht euch keine Sorgen um mich, meine Freunde. Wie ich hörte, stehen euch noch weitere Abenteuer bevor.“
„Möglicherweise.“ Zwar werdet ihr erst einmal zur Taverne zurückkehren, doch vier Schöpfersteine befinden sich noch im Besitz der Jenseitsvölker. Es ist nur allzu wahrscheinlich, dass ihr nach euren Erfolgen auch jenen nachgesandt werdet.
Vorausgesetzt, es bleibt bei den Erfolgen. Falls Brennas Gruppe mit ihren Schöpfersteinen geschnappt wird, würde sich die Macht erneut stark verschieben. Und so eine finstere Miene, wie Arthrax zieht, kannst du nicht vergessen, dass es schlecht um sie steht.
Ihr nehmt trotzdem herzlich von Kapitän Ekana Abschied und begebt euch dann zum Gasthaus, wo auch eure Pferde und das Maultier noch warten.
Herzlichen Glückwunsch!
Dies ist das Canon-Ende von Allysters Part.
Lies weiter in Kapitel 39.