Prolog: Die See der Schatten
Das Graumeer ist ein ausgesprochen wildes und finsteres Land, erfasst vom aufziehenden Sturm des Krieges. Schon an der kalynorischen Grenze spürt man die finsteren, misstrauischen Blicke, die nach Verrätern suchen. In Nordstein, der nördlichsten Stadt Kalynors, haben die Menschen graue Kleidung und graue Gesichter, in die sich die Sorgenfurchen wie Schützengräben gezogen haben. Sie sind keine Krieger. Nein, sie sind ein Volk von Fischern, das die Ruhe und gutes Essen schätzt. Aber dieses Leben haben sie verloren. Nun müssen sie, aufgerieben zwischen zwei Fronten, um jeden Tag fürchten.
Der Wind, der über bleiche Dünengräser streicht, trägt den Geruch des großen Meeres mit sich, salzig, kalt und voller Fäulnis. Wo die Linie der großen Wachtürme endet und das Graumeer beginnt, versandet Kalynors Reich in einem Flüstern, ohne Mauer, ohne klare Trennlinie. Der Sand erreicht ein Wasser, das azurblau und türkisgrün ist, wenn die Sonne scheint. Eine endlose Weite, deren Ende noch kein Kartograph je erblickte, der Kuss von Himmel und Wasser, und dazwischen Wolken und Segel wie verlorene Vögel.
Unter den Wogen des Meeres herrscht ein anderes Volk. Wesen, die dem Land vor langer Zeit abgeschworen haben. Kreaturen der Tiefe, ebenso wunderschön wie ihr Meer, doch ebenso unergründlich und gefährlich. Das Glitzern der Sonne verbleibt auf den Wellen, unter denen sich rasch Finsternis ausbreitet. Dicht unter der Wasseroberfläche lauern bereits Klippen wie die Zähne einer unersättlichen Bestie. Wer sich von der grünblauen Pracht blenden lässt, findet rasch ein eisiges Grab in Schatten, die die Sonne nie erreicht.
Die Tiefe ist nur eine der Gefahren dieses Ortes. Was auf den ersten Blick wie ein verlockendes Paradies erscheinen mag, ist eine Hölle hinter dem dünnen Schleier eines Trugbildes. An Orten, die das Licht nicht erreicht, lauern unbegreifliche Wesen in schleimigen Winkeln. Wenn die Nacht herauszieht, erzittert die See wie unter einem mächtigen Herzschlag und das Röhren unbekannter Wesen durchzieht den unruhigen Schlaf jener Narren, die sich mit ihrem Schiff zu weit hinaus wagten. Wenn die Albträume sie nicht noch ein letztes Mal wecken, so ist es ihr letzter Schlaf, jedoch so fern von ruhigem Einschlafen, wie man nur sein kann.
Doch wen all diese Monster nicht schrecken, dem mag ein noch schlimmeres Schicksal winken. Es beginnt fast unmerklich, wenn sich die Wolken am Himmel verdunkeln, sich zusammenziehen. Wenn der Kapitän den Kopf hebt und die Augen mit der Hand abschirmt, in Erwartung der ersten Tropfen, so ist es zu spät. Dann entfaltet der Dämon des Graumeers seine Schwingen, der Atem des Todes: Stürme in diesem Land sind eine Naturgewalt, die die Wogen berghoch aufpeitscht, Hagel und Blitze entsendet und keine Gnade für die winzigen Geschicke der Lebenden zeigt. Einmal begonnen, bricht der Sturm rasend schnell aus und umfasst alle Welt, bis nichts mehr geblieben ist, wie es war.
Von der Tiefe kann man seinen Blick abwenden und Monster lassen sich bekämpfen. Doch ein solcher Sturm bedeutet das Ende. Dass sich trotzdem Schiffe auf das Graumeer wagen, liegt daran, dass der ‚Dämon des Graumeers‘ die meiste Zeit schläft. Er ruht, so täuschend friedlich wie das Meer, doch es braucht nicht viel, damit er sich auf die andere Seite wälzt und alles Leben im Umkreis auslöscht.
Schleiche, Wanderer, wie auf Zehenspitzen durch das Graumeer, um die Bestie nicht zu wecken. Oder es gnaden dir die Götter!