Du bist Aji.
„Ich denke, die Hauptstraße ist am einfachsten“, sagst du in die Stille. „Ich möchte mich jedenfalls nicht unter Wasser in irgendwelchen Tunneln verirren.“
„Der Junge spricht weise“, sagt Siwa grinsend. „Dann machen wir es so!“
Allyster und Arthrax widersprechen nicht. Also schwimmt ihr auf den großen Haupttunnel zu. Siwa lässt euch zurück, um ein ganzes Stück vor zu schwimmen. Ihr könnt ihn noch gut sehen, aber immerhin wird ihn ein Beobachter nicht sofort mit euch in Verbindung bringen. So kann er die Gegend vor euch absuchen, ohne sich direkt in Gefahr zu bringen – was ihr von dem Kapitän nun wirklich nicht erwarten könnt. Der Schmuggler riskiert genug, indem er euch hilft.
Der Tunnel durch den Berg scheint natürlichen Ursprungs zu sein. Die ‚Hauptstraße‘ macht mehrere Kurven und kreuzt viele kleinere Tunnel, die zu allen Seiten als Löcher aufklaffen. Es wird rasch dunkler, allerdings nicht ganz dunkel. Licht kommt von verschiedenen Laternen in Gestalt runder Glaskugeln, in denen sich Leuchtquallen träge drehen.
Der Boden ist ebenso unbehandelt wie die Wände. Doch die Meermenschen hier laufen ja auch nicht auf der Erde, sondern schwimmen in der Mitte des Tunnels, also gibt es kein Bedürfnis an einer gepflasterten Straße. Auch die Gebäude hier orientieren sich kaum an der Schwerkraft. Fenster und Türen wurden in natürliche Öffnungen gesetzt und befinden sich links, rechts, über und unter der Straße. Viele Türen bestehen aus Wrackteilen, lebenden Algen oder Segelstoff. Ein wirkliches Bedürfnis nach schützenden Türen scheinen die Graumeerer auch nicht zu haben. Das ist dir bereits bei Siwa aufgefallen: Er scheint gar nicht zu frieren, während deine Nägel langsam blau werden. Solange ihr euch bewegt, spürt ihr die Kälte des Meeres zwar nicht allzu deutlich, aber das Wasser ist hier unten durchaus eisig.
Nach einigen Kurven der Straße könnt ihr schließlich euer Ziel ausmachen. Der Palast unter den Wellen besitzt eine Fassade aus weißem Stein, der offenbar weich genug war, um Muscheln hineinzusetzen, die nun als Verzierungen im Quallenlicht funkeln. Sie bilden ähnliche Muster wie Siwas Tattoos, doch erstmals hast du das Gefühl, mehr als bloße Formen darin zu erkennen. Es gibt stilisierte Fische und Wellen, Angelhaken und Schildkröten, vor allem bilden die Muscheln jedoch scheinbar Meeresströmungen ab. Hier, umgeben von einer Art Wind, der aus den Löchern des Felsens rausch und über deine Haut streicht, mal warm, mal kalt, begreifst du diese Linien als Darstellung von etwas Unsichtbarem.
Die Graumeerer empfinden eine tiefe Liebe zum Ozean, das war dir schon vorher klar, doch nun verstehst du, wieso sie diesen gefährlichen Ort trotz der nächtlichen Schatten nie verlassen. Diese Welt unter den Wogen ist für sie eine Art Gott, dessen Nähe sie suchen. Außerhalb des Graumeeres müssen sie sich einsam, verloren, wurzellos fühlen. Hier unten offenbart das Graumeer dagegen seine wahre Pracht.
Algen in verschiedenen Farben sind rings um den Palast gepflanzt worden. Neben den Muscheln gibt es auch Bemalungen. Der Palast selbst ist so asymmetrisch wie der Felsen um ihn herum, allerdings scheint das Gebäude gebaut worden zu sein. Ein weißer Block aus etwas, das wie Lehm funktionieren muss, mit vielen Fensteröffnungen, Vorsprüngen und Balkonen, gebogenen, wellenähnlichen Dächern und natürlich größeren Türöffnungen, durch die man von allen Seiten hinein oder hinaus kann.
Es gibt kein festes Tor mit Wachen, sondern hundert Eingänge und im Inneren sicherlich tausend Gänge.
Siwa schwimmt neben einem hohen, mit roten Linien umrahmten Fenster und vergewissert sich, dass ihr ihn sehen könnt, bevor er hineinschwimmt.
Ihr beschleunigt noch einmal. Langsam hast du den Dreh raus, wie du dich unter Wasser bewegen musst. Du hast dir Siwas Strampeln abgeguckt. Arthrax ist auch nicht schlecht, der Krieger kann sogar Allyster noch mit einer Hand hinter sich herziehen.
Sobald ihr durch das Fenster geschwommen seid, zieht Siwa euch in einen runden Nebenraum mit nur einem Eingang, in dem er auf euch gewartet hat.
„Wir müssen weiter nach unten. Die Schatzkammer ist in der Mitte“, erklärt der Graumeerer euch.
„Kennst du den Weg?“, fragt Allyster dumpf durch das Pikun.
Siwa nickt. „Was ich nicht weiß, ist, wie wir an den Wachen vorbei wollen.“
„Es gibt also doch Wachen?“
Siwa nickt. „Selbstverständlich. Wir sind gerade in den Außengärten, der allen Bewohnern offensteht. Die Schatzkammer im Inneren ist aber strenger bewacht.“
„Natürlich.“ Arthrax seufzt. „Können wir sie ablenken?“
„Wieso besprechen wir so was immer erst mitten im Palast?“, knurrt Allyster. Dein Mentor hasst diese Spontanität mit einer Intensität, die beinahe gruselig ist. Aber gut, in diesem Fall hätte Siwa euch wirklich früher bescheid sagen könnte.
„Ich dachte, das wäre euch klar!“, protestiert er. „Also gut, ihr habt keinen Plan … Ablenkungen könnten funktionieren, wenn wir die Glockenhalle erreichen. Das … könnte ich machen.“ Dieses Zugeständnis kostet ihn sichtlich Mut. „Wenn sie die Glocke hören, obwohl keine Messe ist, werden einige Wachen nachsehen kommen. Ich kann vermutlich einfach nach oben fliehen. Wir würden uns dann am Strand treffen.“
„Einige Wachen“, wiederholt Allyster. „Nicht alle?“
„Sie werden nicht ohne Weiteres alle Wachen abziehen. Der Palast hat auch genug Winkel, dass ihr durchhuschen könntet, wenn nicht alle Wachen da sind. Ansonsten müsstet ihr genauso vorgehen, einige Wachen töten und dann unauffällig in die Schatzkammer eindringen.“
„Das könnten wir tun, ohne Aufmerksamkeit zu erregen“, überlegt Allyster laut. „Vorausgesetzt natürlich, die Wachen sehen uns nicht kommen und schreien nicht.“
„Die Glocke würde natürlich mehr Bewohner anziehen“, stimmt Siwa zu. „Vielleicht ist der unkomplizierte Weg wirklich besser.“
„Aber wir würden töten“, sagst du leise.
„Dafür werden wir ja bezahlt“, meint Arthrax. „Also?“
„Ich möchte mir die Schatzkammer zunächst ansehen“, sagt Allyster. „Dann entscheiden wir.“
Siwa nickt. „Folgt mir.“
An der Decke des runden Raumes hat sich bereits eine Luftblase gesammelt, die aus den Filtern eurer Masken aufgestiegen ist. Während Siwa euch vorausschwimmt, beobachtest du die kleinen Bläschen, die sich an der Tunneldecke wie eine Spur Brotkrumen ansammeln.
Hoffentlich werden sie niemanden auf eure Spur lenken …
Ihr schwimmt nicht lange, bis ihr am Rand einer großen, hohen Höhle herauskommt. In deren Mitte hängt eine Art riesiger Kokon aus Kostbarkeiten, zusammengehalten von verschiedenen Fischnetzen. Es gibt Taschen an und im Netz, sodass der Kokon an eine tropfenförmige Wucherung erinnert. Und er ist riesig, sodass die Wachen an diesem winzig wirken. Mehrere große, verästelte Korallen, die sich wurzelartig in die Höhle strecken, können euch Deckung bieten. Doch die Wachen schwimmen bei den Eingängen zum Netz, wo man in diesen Koloss eindringen kann, durch Tunnel, deren Wände aus einem dichten Puzzle aus Gold bestehen.
„Selbst mit dem Ammoniten kommen wir da nicht durch“, murmelt Arthrax. „Sie würden uns spüren.“
„Aber wir könnten uns anschleichen“, sagt Allyster. „Dann sind es nur zwei oder drei Wachen, die wir töten müssten. Oder wir brauchen eine große Lücke, wo Wachen fehlen, sodass uns die restlichen nicht wahrnehmen.“
Er klingt nicht überzeugt von dem zweiten Plan. Deine Gefährten sind offenbar dafür, sich anzuschleichen und die Wachen zu töten, doch du bist dir da nicht so sicher. Du möchtest unnötiges Blutvergießen vermeiden.
„Was ist dort unten?“, fragt Arthrax und nickt zum unteren Teil der Höhle. Dort gibt es keinen Boden, den ihr sehen könntet. Stattdessen ist dort ein tiefer Abyss aus Schwärze, eine Aushöhlung, die nach allem, was ihr sehen könnt, unendlich sein könnte.
„Wenn jemand die Schatzkammer abschneidet“, erklärt Siwa euch, „fällst das Netz mit allem darin in die Tiefe, und Eindringlinge wären mit den Schätzen gefangen. Sie würden so tief fallen, dass der Druck sie töten würde.“
„Angenehme Vorstellung.“
„Das werden sie sicherlich nicht tun“, sagt Siwa hastig. „Das Graumeer würde auch all seine Schätze verlieren, denn wie sollte man die aus der Tiefe bergen? Nein, solange sie nicht wissen, wer ihr seid, werden sie nicht zu dieser Möglichkeit greifen. Und wahrscheinlich auch nicht einmal, wenn sie es wissen. Diese Möglichkeit ist ein letzter Ausweg, der den Untergang unserer Welt bedeuten könnte.“
Siwas Worte beruhigen dich nur bedingt. Die Vorstellung, in eine solche Todesfalle zu schwimmen, gefällt dir nicht. Aber hoffentlich seid ihr nicht eine solch große Bedrohung, dass das Graumeer deswegen all seinen Reichtum opfern würde. Ohne die Schatzkammer können die Graumeerer sich nicht mehr regieren und würden sicherlich rasch unter die Herrschaft eines anderen Jenseitslandes fallen. Oder die einfache Bevölkerung würde aufbegehren, denn es sind ihre Steuern, die da zum großen Teil vor euch hängen!
Nein, dieses Opfer würde wohl kein Land erbringen. Aber trotzdem bist du nun noch nervöser.
Arthrax zückt bereits seine Axt und tastet nach dem Schöpferstein, der euch unsichtbar machen wird.
Du beißt dir auf die Unterlippe. Deine Haut ist unter der Maske inzwischen heiß und feucht, die Augengläser beschlagen langsam. Ein weiterer Hinweis darauf, dass ihr bald an die Oberfläche zurückkehren müsst.
Aber vielleicht solltet ihr noch etwas Zeit investieren, um das Richtige zu tun? Du weißt nicht, wieso Allyster und Arthrax den Plan mit der Glocke so leicht verworfen haben. Ablenkung wäre doch eine elegante Lösung und immerhin wird niemand wissen, dass ausgerechnet ihr dafür verantwortlich seid. Jedenfalls nicht, bevor ihr mit dem Selenit über alle Berge seid …
Oder übersiehst du etwas?
Du …
- … beharrst auf der Ablenkung. Lies weiter in Kapitel 20.
[https://belletristica.com/de/chapters/339399/edit]
- … schweigst. Lies weiter in Kapitel 21.