Du bist Allyster der Sehende.
„Gehen wir es langsam an“, beschließt du schweren Herzens. Für den anderen Weg wird die Zeit zu knapp. Und vor allem solltet ihr vielleicht nicht zu schnell hinaufsteigen. Ihr befindet euch noch immer tief unter Wasser. Der veränderte Wasserdruck könnte euch gefährlich werden.
Oben bricht die Nacht herein. Während ihr euch aneinander festhaltet, eng zusammengedrängt, um in den Zauber des Ammoniten zu passen, kannst du die Farben des Himmels verschwommen erkennen. Die Wellen verzerren das Bild zwar, doch du sieht die Lilatöne eines prachtvollen Sonnenuntergangs, versetzt mit den schwarzen Streifen vereinzelter Wolken. Ein Anblick, den jemand wie Arthrax sicherlich mit Rum am Strand verbringen würde, neben einem großen Lagerfeuer tanzend und singend. Ohne darauf zu achten, dass man betrunken auch leicht in die Flammen torkeln könnte.
Deshalb kommen vermutlich nun auch die Graumeerer aus dem Ozean zurück. Sie haben den Tag irgendwo in den nun undurchdringlich finsteren Tiefen verbracht. Nachdem, was Kapitän Ekana erwähnt hat, gehen sie dort Arbeiten wie die Bauern an Land nach: Es scheint Tiere geben, um die sie sich kümmern, um sie dann später zu verspeisen, viele haben offenbar auch dicke Bündel an Algen geerntet, die sie jetzt zur Stadt schleppen. Auch Säcke mit Sand oder Stein werden geliefert, sehr wahrscheinlich Baumaterial für ihre Häuser, denn Lücken in den Höhlen dichten sie mit einer Art Lehm aus, der zudem eingefärbt werden kann. Jetzt, in der Dämmerung, werden die Farben grau, doch unter anderen Bedingungen ist die Siedlung sicher eine wunderbare Stadt. Ein Ort, an dem du gerne leben würdest, wäre da nicht das kleine Problemchen mit der Atemluft …
Ihr lasst euch fast reglos aufwärts treiben. Zum Glück zieht es eure Körper nach oben. Alle schwere Kleidung habt ihr vor dem Tauchgang abgelegt, ihr tragt nur Hemd und Hose. Und Arthrax hat natürlich seine Kriegsaxt dabei, doch die kann euch nicht völlig nach unten ziehen.
Ab und zu strampelt Ekana mit den Flossenfüßen, um euch etwas mehr Auftrieb zu verschaffen. Dazu passt er die Lücken im Netz ab. Das überlasst ihr ihm, er kennt sich mit dieser Sicherheitsvorkehrung besser aus.
Je länger ihr stillhaltet, desto deutlicher fühlst du die Kälte. Sie durchdringt deine Glieder, macht sie taub und steif. Deine Finger beginnen zu zittern. Hoffentlich ist das keine Bewegung, die den Alarm auslösen kann!
Die Graumeerer strömen rasch in die Stadt, selbst mit den strengen Kontrollen kommen sie gut durch. Aber immerhin müssen die Wachen nur gucken, ob jemand ein Pikun trägt und vielleicht in die größeren Pakete mit Waren stechen, um sich zu vergewissern, dass ihr euch nicht zwischen Schwämmen, Krabbenscheren oder Fischresten versteckt. Dann sind alle Bewohner in der erleuchteten Stadt, ihr dagegen befindet euch alleine in den kühlen Fluten außerhalb. Du merkst, wie Kapitän Ekana wieder nervös wird. Sicherlich ist er dazu erzogen, bei Einbruch der Dunkelheit irgendeine Sicherheit aufzusuchen. Aber das Licht des Tages schwindet und ihr steckt noch immer mitten im Netz, aus dem ihr nicht so leicht entkommen könnt. Wachen schwimmen an den fast unsichtbaren Fäden entlang. Die Bewaffneten halten sich aber näher am Felsen als ihr. Selbst sie fürchten das offene Meer.
Schließlich atmet Siwa Ekana hörbar auf und tritt mit einem Mal mehr Wasser.
„Wir sind draußen?“, fragst du.
„Ja, meine Freunde“, flüstert Ekana zurück. „Wir haben es geschafft.“
Wenig später durchbrecht ihr die Wasseroberfläche. Erleichtert willst du das Pikun abziehen.
„Leute“, sagt Arthrax. „Wir mögen ja unsichtbar sein, aber die Wachen sind auch nicht völlig blöde!“
Du siehst dich um und begreifst: Die Wächter können die Wellen sehen, die um euch herum schäumend brechen. Wie das von unten für sie aussehen muss, kannst du dir nicht vorstellen. Ob eure unsichtbaren Körper Löcher in die Wellendecke reißen?
Ihr taucht wieder ab und schwimmt, so schnell ihr könnt, auf den Strand zu. Speere durchschneiden unter euch das Wasser. Die Wachen kommen auf die Stelle zu, wo sie euch gesichtet haben. Der Abstand sorgt dafür, dass sie euch von der Stadt aus nicht treffen konnten.
Nun halten sie nach einer kurzen Weile inne. Sie wissen, dass ihr euch bewegt. Einige werfen ihre Waffen auf gut Glück, und nicht wenige kommen euch dabei gefährlich nah. Sie wissen, dass ihr zum Land wollt. Solange ihr unsichtbar seid, können sie euch allerdings nicht gut verfolgen und schließlich schwimmen sie nervös zurück, wie Fische, die den Schutz der Koralle suchen, weil der Hai kommt.
Diesmal ist die Nacht auf eurer Seite.
Ihr schwimmt über die Stadt, wo das Meer flach und sandig wird, und erreicht schließlich die Bucht, von der aus ihr aufgebrochen seid. Artrhax zerrt sich das Pikun vom Kopf und saugt die Luft gierig ein, ehe er auf den Knien in den Sand fällt. Der Krieger zittert am ganzen Leib, nicht vor Kälte, sondern vor Anstrengung. Er hat zu viel Magie gewirkt. Ein Wunder, dass er noch steht!
Der Himmel ist bereits dunkel, die Sonne nicht mehr als ein Fingernagel über den Wellen. Im Norden, also über dem Meer, tanzen merkwürdige Lichter über den Wellen. Du vernimmst fernen Gesang, der keinen sichtbaren Ursprung hat, irgendwo dort draußen.
Fröstelnd wendest du dich ab und siehst, die Siwa Ekana ein vermutlich religiöses Zeichen vor der Brust schlägt, vielleicht etwas, das das Böse abwehren soll.
Dass du ihm nicht glauben wolltest, tut dir leid. Selbst wenn es sich bei den nächtlichen Schrecken nur um Wesen wie die Riesenmuräne handeln sollte, ist das genug Gefahr, um alle Sicherheitsmaßnahmen zu rechtfertigen. Nach dem, was du mit dem Selenit erlebt hast, ahnst du aber auch, dass Magie ganz anders ist, als du dachtest.
„Du hattest recht, Aji“, murmelst du leise zu deinem Schüler. „Das ist nicht wie die Magie an den Schulen.“
„Ich hab es dir gesagt!“, erwidert der Junge wütend. „Grammatik und Vokabeln braucht man da nicht. Das war alles sinnlos!“
„Nicht sinnlos, nur …“ Du weißt nicht, was es war. Wenn du ehrlich zu dir bist, hast du den Jungen mit den Lernaufgaben ganz schön geschunden. Und das ohne jeden Grund, wie ihr jetzt wisst. Um den Ametrin zu benutzen, braucht er keine Zauberformeln.
Kein Wunder also, dass er sauer ist. Er wirft dir noch einen finsteren Blick zu und marschiert zurück zur Stadt.
Du löst dein Pikun und gestattest dem Jungen seine Wut.
Die Atemmasken nimmt Siwa Ekana wieder an sich. „Das Gasthaus sollte keine überflüssigen Fragen stellen“, erklärt er euch. „Trotzdem, seid vorsichtig. Morgen früh warte ich hier auf euch.“
Du nickst. Natürlich, jetzt sind die Graumeerer sehr viel wachsamer. Ihr habt immerhin ihren Schöpferstein gestohlen. Das wird nicht ohne Folgen bleiben.
Das Gasthaus, zu dem Ekana euch geraten hat, wird jedoch auch von Schmugglern frequentiert. Der Wirt kümmert sich wenig um seine Gäste, er würde euch niemals an die Wachen verraten. Trotzdem findet ihr nur wenig Schlaf und brecht am nächsten Morgen auf, sobald sich das erste Grau der Dämmerung zeigt.
Noch hängen dichte Nebel über dem Graumeer, das heute so finster wirkt, dass sein Name gar zu freundlich für dieses raue Land klingen mag. Dichte Wolken treiben über den Wellen, senken sich bis fast auf das Meer herab und lassen einzelne, dicke Tränen fallen. Nach den gestrigen Anstrengungen seid ihr alle zerschlagen und wund, was eure Laune auch nicht bessert. Der Wind, der aus dem Süden kommt, schlägt euch die Haare ins Gesicht.
Ekana kommt ein wenig nach euch an und sieht immer wieder misstrauisch zu den Wellen, auf denen noch die merkwürdigen Effekte der Nacht aufblitzen. „Ich weiß nicht, ob wir wirklich fahren können“, eröffnet er euch. „Der Wind steht gegen uns.“
„Wir müssen …“, setzt du an.
Kapitän Ekana hebt eine Hand. „Ich weiß, ich weiß. Ihr habt es eilig.“
„Wir müssen meine Schwester retten“, knurrt Arthrax. „Allyster, wir müssen sie warnen. Wenn sie wirklich in Gefahr ist …“
Du betrachtest den Selenit, den du wieder in der Hand trägst. „Wir werden ihr schreiben und ihr sagen, was sie vermeiden soll. Gib mir nur etwas Zeit. Ich muss mich an diese Kraft gewöhnen. Keine Sorge, Arthrax, sie stirbt nicht mehr in jeder Version der Zukunft.“
Das ist übertrieben – doch du hast gestern während der langen Nacht tatsächlich zwei, drei Szenen gesehen, in denen Brenna auch jetzt überlebt. Nun geht es darum, die Möglichkeiten durchzuspielen, um zu erfahren, was du tun musst, um ihr Leben zu retten. Das wirst du tun, sobald ihr an Land seid – genug Zeit solltet ihr dann noch haben, vor allem merkst du aber, dass die Visionen an deinem Verstand zerren. Du darfst es nicht übertreiben. Auch die Macht des Selenits beansprucht deine Kräfte.
„Wir werden losfahren“, fährt Ekana fort. „Aber es kann sein, dass wir unterwegs ankern müssen. Ich hoffe nur, dass sich kein Sturm zusammenbraut.“
„Das wäre ja ordentliches Pech“, murmelst du und verdrängst den letzten Teil deiner Vision, das kleine Schiff auf den Wellen. Ihr könnt nicht hier bleiben. Oder die Wachen werden euch finden.
Also setzt ihr in einem kleinen Boot zum Schiff über. Die Mannschaft trifft nach und nach ein, die Seeleute setzen die Segel und manövrieren das Schiff fort von der Insel. Als ihr zurückblickt, bist du sicher, dass du Wachen am Strand sehen siehst, die euch hinterhersehen. Sie wissen oder vermuten jedenfalls, dass ihr an Bord dieses Schiffes aufbrecht. Bald setzen einige Segler ab und folgen euch, worauf Siwa Ekana seiner Mannschaft das höchste Tempo befiehlt und noch einmal sicherstellt, dass seine Flagge nicht am Mast flattert.
„Noch wissen sie nicht, wer ich bin“, erklärt er dir grinsend. „Man muss auch an die Zukunft denken. Als Schmuggler komme ich durch, als Landesverräter wäre das etwas anderes.“
Du lächelst und klopfst ihm auf die Schulter. „Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast viel für uns riskiert.“
„Vielleicht bin ich damit noch nicht fertig.“ Düster sieht Ekana zum Himmel. Dort ziehen sich die Wolken zusammen. Es ist dunkel, die Sonne kommt nicht gegen die finsteren Berge am Himmel an. „Spürt ihr, wie der Wind auffrischt? Ich wünschte, es wäre anders, aber es scheint ein Sturm aufzuziehen.“
Sein Tonfall lässt dich nicht daran zweifeln, dass das euer Ende wäre. „Was sollen wir Eurer Meinung nach tun?“
„Umkehren können wir nicht“, überlegt Ekana. „Wir können eine kleinere Insel ansteuern. Hier gibt es einige kleine, schroffe Eilande. Sie bieten keinen Schutz vor der Nacht, aber wenn wir dort ankern, können wir vielleicht den Sturm aussitzen. Sonst können wir nur weiterfahren … und beten.“
Du umfasst unauffällig den Selenit und lauscht nach der Stimme des Steins, doch diesmal bleibt er stumm. Vielleicht braucht selbst ein Schöpferstein mal eine Pause.
Du wendest dich an Siwa Ekana und befiehlst ihm, …
- … an einer Insel zu ankern. Lies weiter in Kapitel 37.
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- … weiterzufahren. Lies weiter in Kapitel 38.