Du bist Allyster der Sehende.
Unter deinen Fingern scheint der Stein zu brennen, doch du kannst ihn nicht loslassen. Eis kriecht durch deine Haut, erfriert dich bis auf die Knochen, dann wird es zu angenehmer Wärme.
Du holst Luft. Hast du geschrien? Deine Umgebung ist leere Schwärze, du befindest dich nicht länger im Palast der Meermenschen, ja, nicht einmal im Graumeer.
Vor dir gibt es nur ein Licht: Eine große Version des Selenits, ein weißer, nahezu durchsichtiger Edelstein in einer Fassung aus Perlmutt, an einem Band aus Seetang. Der Stein strahlt kühles Licht aus, das nach der merkwürdigen Tortur, so kurz sie auch dauerte, angenehm auf deiner Haut prickelt.
Du vernimmst ein leises Wispern, das aus dem Stein zu dringen scheint. Als du deine Aufmerksamkeit auf ihn richtest, kommt er näher, oder du schwebst auf ihn zu. Fast kannst du den Stein berühren, der größer ist als du, jedenfalls hier.
‚Vergiss alles, was du wusstest‘, scheint der Selenit dir zuzuflüstern. ‚Vergiss, was du gelernt hast. Denn nun gibt es eine neue Welt, die du kennenlernen musst.‘
Du streckst die Hand aus. Deine Finger berühren das glatte Glas des Steins vor dir. Schlagartig spürst du den Druck auf den Ohren wieder, das Wasser um dich herum, du hörst Ajis Stimme.
„Was ist mit Euch? Allyster?“
Du öffnest den Mund und willst etwas sagen. Alles, was herausdringt, ist ein gequältes Stöhnen.
„Hat er das häufiger?“, fragt Kapitän Ekana irgendwo hinter dir.
„Nein!“, knurrt Arthrax. „Verdammt, Aji, was für eine Magie ist das?“
„Ich weiß es nicht! Er lässt den Stein nicht los.“
Noch immer siehst du nichts als Schwärze. Doch die Worte deines Schülers lassen dich zusammenzucken.
Der Schöpferstein! Nun spürst du ihn wieder in der Hand. Im selben Moment, als du dich an ihn erinnerst, siehst du plötzlich etwas.
Bilder zucken vor deinen Augen vorbei. Du siehst Luftbläschen aufsteigen, ein Tanz weißer Kugeln, die nach oben eilen, sich vermengen und trennen. Irgendwie wirken sie verzweifelt.
Dann siehst du euch vier wie aus weiter Ferne. Dein eigener Körper kommt dir mager und ungelenkig vor, während er mit Arthrax, Aji und Siwa nach oben aufsteigt. Mit rudernden Armen und Beinen schwimmt ihr in das Licht hellerer Wasserschichten, die Stadt liegt unter euch. Plötzlich krümmt ihr euch, einer nach dem anderen, krampfartig zusammen. Siwa hält erschrocken inne. Blutiger Nebel steigt um die drei Gestalten der Menschen auf.
Zuletzt siehst du ein Schiff auf den Wellen. Die Vision verblasst bereits, aber du kannst sehen, wie winzig klein diese Gestalt ist, eine Nussschale in einem reißenden Strom. Schwarze Wellen toben um euch herum, es ist stockfinster.
Dann schlägst du die Augen auf und siehst in die besorgten Gesichter deiner Freunde. Arthrax und Aji halten deine Arme umklammert und schütteln dich.
„Mir … mir geht es gut“, bringst du mit schwerer Zunge hervor. Unter dem Pikun wirkt die Luft zu dicht, zu heiß. Du senkst den Blick auf den Selenit in deiner Hand: In Perlmutt eingefasst, an einem Algenband, wie in deiner Vision, nur deutlich kleiner. Langsam beruhigt sich dein Atem. „Der Stein hat mich erwählt!“ Du kannst nicht verhindern, dass Erleichterung in deiner Stimme mitschwingt. Gerade du als Magier konntest diese Macht lange nicht nutzen. Du müsstest lügen, würdest du behaupten, dass dir das nichts ausgemacht hat.
Doch die Magie der Schöpfersteine ist verwirrend. Du musstest keine Worte sagen, keine Zauber formulieren. Es hat einfach geklappt, es ist geradezu anfallartig über dich gekommen!
Das ist so anders als die Magie, die du in den Akademien gelernt hast! Es stimmt wirklich, was der Stein dir mitteilen wollte: Du betrittst eine neue Welt der Magie. Vielleicht hat es deshalb so lange gedauert. Die Steine spürten, dass du zu anderer Magie erzogen wurdest, und wagten es nicht, diesen Widerstand zu überwinden. Alle, bis auf den Selenit. Als Stein des Wissens, der Voraussicht, weiß er, wozu diese Mühe am Ende führen wird.
Auch das ist neu für dich. Du glaubst an einen Stein, siehst ihn als lebendes Wesen. Aber diese kurze Berührung in der Vision oder Traumwelt oder was es war, hat dir die Natur des Schöpfersteins offenbart.
Du hast vieles, über das du nachdenken musst. Aber nicht hier und nicht jetzt.
„Wir müssen nach draußen“, sagst du entschieden. „Kapitän Ekana, wie geht es hier raus?“
„Ich … in diesem Teil des Palastes war ich nie!“, stammelt der Graumeerer. „Das hier ist der Innere Palast, wo kaum jemand Zutritt hat. Wenn sie uns finden …“
„Das werden sie nicht“, sagt Arthrax entschlossen und hebt den Ammoniten. „Sag uns nur, woher wir schwimmen müssen.“
Doch Siwa Ekana schüttelt hilflos den Kopf. „Ich … ich weiß es nicht. Tut mir leid.“
Aji schwimmt mit weit aufgerissenen Augen neben dir. „Die Pikuns werden undicht“, erklärt der Junge auf deinen fragenden Blick hin.
Tatsächlich, du spürst es auch. Die Luft unter der Maske wird immer salziger, sie brennt in deinen Augen. Nach den Kämpfen und dem vielen Gehetze sind die Filter stark belastet. Sie halten sowieso nur einige Stunden, und ihr seid zu lange hier unten geblieben.
Deine Gedanken rasen. Wieder siehst du die aufsteigenden Luftblasen aus deiner Vision vor dir. Der Selenit möchte dir irgendetwas sagen. Verzweifelt drängen sich die Luftblasen nach oben, prallen unter eine dunkle Decke, die sie gefangen hält.
Ist das ein Hinweis? Eine Warnung?
„Meister?“, fragt Aji leise.
„So wie ich es sehe, haben wir zwei Optionen“, sagst du langsam. „Wir können im Palast bleiben und einen Ausgang suchen, vielleicht sogar irgendwelchen Wachen folgen und hoffen, dass der Ammonit uns genügend verbirgt. Oder wir kehren um. Schwimmen zurück durch das Labyrinth und dann nach draußen.“
„Im Labyrinth kenne ich mich auch nicht überall aus“, sagt Kapitän Ekana sofort. „Das wäre ein riskanter Umweg.“
Hat er recht? Du betrachtest die Luftblasen, die geisterhaft vor dir tanzen. Ist der Weg durch den Palast wirklich schneller?
Du überlegst und entscheidest dich, …
- … zum Labyrinth zu schwimmen. Lies weiter in Kapitel 31.
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- … durch den Palast zu schwimmen. Lies weiter in Kapitel 32.