Mitch überprüfte noch einmal die Instrumente und erhob sich dann aus seinem Sitz.
„Übernimmst du mal für mich?“, bat er seinen Co-Piloten. „Ich will nur eben eine alte Freundin begrüßen, die heute mit uns fliegt.“
„Alles klar“, nickte Hank. „Gib mir ein Zeichen, wenn ich eine scharfe Kurve fliegen soll, damit sie rechtzeitig in deinen Armen landet.“
„Danke, die Mühe kannst du dir sparen. Das mit Anni und mir ist lange vorbei. Außerdem ist sie stur wie ein Maultier und würde sogar bei einem Salto noch die Schwerkraft überwinden, um anstatt in meinen stattdessen in Matt Sheltons Armen zu landen.“
Mitch betrat zuerst die unmittelbar hinter dem Cockpit befindliche Bordkantine, wo Danielle geschäftig herumhantierte.
„Na, meine Schöne, hast du einen Kaffee für den alten Käpt`n?“
Lächelnd reichte sie ihm das Gewünschte und setzte sich ihm gegenüber.
„Alles klar bei euch vorn?“
„Natürlich. Hank macht gerade ein Nickerchen.“
„Na dann bin ich ja beruhigt.“
Mitch sah sie prüfend an.
„Was ist los, Dani? Traurig, weil es unser letzter Flug ist?“
„Ja, vielleicht ein bisschen“, seufzte sie wehmütig. „Es war eine sehr schöne Zeit. Mit allen Höhen und Tiefen, zu denen du als ehemaliger „Flugschüler“ auch einen wesentlichen Teil mit beigetragen hast.“
„Immerhin war es auf die Art nie langweilig, und es hat mir einen Mordsspaß gemacht, die armen Flugbegleiter regelmäßig in Angst und Schrecken zu versetzen.“
Danielle lachte.
„Ja, das glaube ich dir aufs Wort.“
„Hast du noch einmal über mein Angebot nachgedacht?“, wechselte er das Thema.
„Dich mit den anderen zusammen nach Sunset City zu begleiten?“ Sie sah ihn prüfend an. „Ist das wirklich dein Ernst? Du willst, dass wir alle drei in deinem Haus wohnen und dort Ferien machen? Hast du eine Ahnung, worauf du dich da einlässt?“
„Na ja“, erwiderte er in gespieltem Ernst. „Die Frage müsste wohl eher lauten: Wisst ihr, worauf ihr euch da einlasst?“
Sie zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
„Wie meinst du das?“
„Nun, da wären diverse Arbeiten am Haus zu erledigen.“
„Diverse… Was?“
„Zum Beispiel das Dach ausbessern, die Außenfassade neu streichen, den verwilderten Garten auf Vordermann bringen, und drinnen müsste man noch...“
Danielle lachte und hob abwehrend beide Hände.
„Genug, genug! Hör schon auf! Soweit also zu unseren Ferien zum Nulltarif, du Gauner.“ Sie strich sich ihr Haar zurück. „Okay, ich würde sehr gerne mit nach Sunset City kommen, für eine Weile, bis sich etwas Neues ergibt. Auf keinen Fall möchte ich zurück nach Oklahoma.“
„Kann ich gut verstehen. Dieser Typ hat dich ziemlich verletzt, habe ich recht?“
Sie antwortete nicht, senkte nur den Blick.
„Hey, Kopf hoch, Mädchen, du wirst sehen, bei uns zu Hause ist jeden Tag etwas los! Da vergisst du sehr schnell alle Sorgen, und im Handumdrehen machen wir aus dir ein echtes kalifornisches Girl.“ Er nahm einen Schluck Kaffee und nickte ihr aufmunternd zu. „Wir können sofort von L.A. aus runterfahren“, erklärte er. „Mein alter „Chevy“ wartet schon am Flughafen, da passen wir gut alle hinein.“
Danielle atmete tief durch.
„Okay, dann werde ich also die sagenumwobene Stadt mit den schönsten Sonnenuntergängen der Welt kennenlernen.“
„Ja“, nickte er begeistert. „Und glaub mir, sie sind in Wirklichkeit noch viel schöner, als man sich erzählt.“
„Wer kümmert sich eigentlich um dein Haus, wenn du so lange weg bist?“, fragte sie neugierig.
„Zwei meiner besten Freunde, Luke und Randy. Luke arbeitet als Lifeguard bei der Strandwacht, und Randy jobbt in einem Internetcafé. Sie wohnen bei mir zur Miete. Strandhäuser in erster Reihe sind sündhaft teuer. Die Raten für das Haus sind horrend, allein würde ich das nicht schaffen.“
„Dann seid ihr also eine Art… Wohngemeinschaft?“
Er bemerkte ihren leicht skeptischen Blick und lachte.
„Keine Sorge, die beiden sind wirklich klasse Typen, du wirst sie mögen.“
„Und woher kennst du Mister Shelton?“
„Matt? Er hat ebenfalls ein Haus am Strand, nur weiter drüben hinter dem Pier, viel größer und schöner als meins. Er wohnt schon ziemlich lange dort, und er hat sich in den letzten Jahren eisern hochgearbeitet. Grenzt fast an ein Wunder, dass er so ehrlich geblieben ist, wo er doch mit einem Schakal wie Edward Hamilton zusammenarbeitet.“
„Edward Hamilton“, sinnierte Danielle. „Das muss der Geschäftsmann mit dem Laptop sein.“
„Ja, das ist er ganz sicher. Er leitet die größte Immobilienfirma im Süden Kaliforniens, die H & S Enterprise. H & S steht für Hamilton und Shelton. Matt ist sein Geschäftspartner. Er ist okay, aber bei Hamilton ist Vorsicht geboten, er ist ebenso skrupellos und aalglatt wie erfolgreich! Sich mit ihm anzulegen ist äußerst gefährlich.“
`Genauso sieht er auch aus!`, dachte Danielle, laut aber sagte sie: „Keine Angst, das habe ich bestimmt nicht vor.“
„Und wie hast du Matt kennengelernt?“, fragte Mitch seinerseits neugierig.
„Er war hier in der Kantine, als deine Durchsage kam und holte ein Glas Wasser für seine charmante Begleiterin.“
„Charmant? Anni?“, wiederholte Mitch ungläubig, worauf die junge Flugbegleiterin lachend die Augen verdrehte.
„Mh mmh!“
„Ah ja, verstehe! Charmant wie immer." Er beugte sich vertraulich vor. "Aber glaub mir, sie hat auch ganz andere Seiten.“
Danielle sah ihn an und kniff ungläubig die Augen zusammen.
„Willst du damit sagen...“
Er hob abwehrend die Hände.
„Ein Kavalier genießt und schweigt.“
„Unglaublich“, stöhnte sie. „Du und dieses rothaarige Biest? Mitch, ihr passt doch überhaupt nicht zusammen!“
Er grinste bedeutungsvoll.
„Das würde ich so nicht sagen…“ Plötzlich wurde sein Gesicht nachdenklich. „Anni ist eigentlich in Ordnung, sie ist nur leider mit sich selbst unzufrieden.“
„Da hatte ich allerdings einen etwas anderen Eindruck“, widersprach Danielle kopfschüttelnd und Mitch nickte lächelnd.
„Sie ist seit langer Zeit voll und ganz auf einen bestimmten Mann fixiert, und diese unerfüllte Leidenschaft schließt von vorn herein jede andere feste Beziehung aus.“
Danielle erinnerte sich daran, wie Anni Matt vorhin immerzu angesehen hatte und ahnte plötzlich, von welchem Mann eben die Rede war.
`Was geht mich das an`, dachte sie, `In ein paar Stunden sind wir in L.A., und dann fängt ein ganz neues Leben an.`
„Ich habe mitbekommen, wie Matt dich angeschaut hat, vorhin im Cockpit“, sagte Mitch plötzlich, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Er mag dich.“
„Ach ja?“ Sie sah ihn äußerst skeptisch an. „Deswegen ist er sicher auch so schnell wieder verschwunden.“
Er stand auf und reichte ihr die leere Tasse.
„Du kennst ihn nicht so wie ich. In solchen Sachen ist er ein Fall für sich, seitdem...“, begann er, unterbrach sich jedoch sofort, als der Vorhang mit Schwung zurückgeschoben wurde und Chelsea im Durchgang erschien.
„Nanu, wen haben wir denn hier? Störe ich euch zwei Turteltäubchen etwa?“
„Ja, wir hatten gerade vor, uns zwischen Servierwagen und Microwellengeschirr ein wenig zu vergnügen“, konterte Mitch mit einem süffisanten Grinsen.
Chelsea verdrehte die Augen.
„Wie romantisch! Was ist denn das für eine Arbeitsmoral, Herr Flugkapitän?“
„Ich bin ja schon weg“, verteidigte er sich und küsste sie im Vorbeigehen scherzhaft auf die Wange.
„Mmh, ich finde ihn absolut sexy“, schwärmte Chelsea, nachdem er außer Hörweite war. „Wenn ich nur wüsste, ob er sich auch etwas aus mir macht?“
Danielle ordnete weiter die Becher und Gläser auf dem Servierwagen und lächelte ihre Kollegin zuversichtlich an.
„Du hast doch bald jede Menge Zeit, um das herauszufinden.“
*
Santana war am hinteren Ende des Ganges gerade damit beschäftigt, die Teller und das Besteck vom Abendessen einzusammeln, als sie in der Nähe der Toiletten einen dumpfen Aufschlag vernahm. Erschrocken drehte sie sich um und sah jemanden am Boden liegen. Sofort eilte sie nach hinten und fand den korpulenten Herrn, der sich vor dem Essen wegen seiner extremen Flugangst von Danielle zwei doppelte Whisky hatte einschenken lassen, reglos vor der Tür zum Waschraum.
Schnell kniete sie nieder und kontrollierte seine Atmung. Sein Gesicht war aschfahl, aber sie konnte beim Ertasten der Halsschlagader einen schwachen Pulsschlag fühlen.
Über das Bordtelefon rief sie ihre Mitarbeiterin in der vorderen Bordkantine.
„Dani, komm schnell, ich habe einen Passagier mit einem akuten Kreislaufzusammenbruch! Bring Dean mit, er muss uns helfen, der Mann hier hat gute zwei Zentner!“
Eine halbe Minute später erschien Danielle, gefolgt von Dean, bei Santana.
Diese hatte bereits vorsorglich den Kabinenvorhang geschlossen, um die anderen Passagiere nicht zu beunruhigen.
Danielle kniete sofort neben dem bewusstlosen Mann nieder, sprach ihn zunächst an und schlug mit der flachen Hand leicht gegen seine Wangen.
„Mister Freeman! Mister Freeman, können Sie mich hören?“
Ihre Bemühungen blieben erfolglos.
„Ist ein Arzt an Bord?“, erkundigte sich Dean bei seiner Chefin. Die schüttelte bedauernd den Kopf.
„Auf der Passagierliste jedenfalls nicht.“
„Ich fühle keinen Puls mehr!“, rief Danielle. „Dean, hilf mir schnell, er bleibt uns weg!“
Mit Hilfe ihres Kollegen drehte sie den Mann vorsichtig auf den Rücken. Sein Gesicht hatte sich bereits bläulich verfärbt. Sofort versuchte sie, durch gezielte Druckmassage sein Herz wieder in Gang zu bringen. Nach einer Weile, die ihnen allen wie eine Ewigkeit erschien, fühlte Santana endlich einen Pulsschlag.
„Ich glaube, wir haben ihn!“, rief sie erleichtert.
Und wirklich, Mister Freeman hustete kurz, und seine Wangen bekamen etwas Farbe. Schließlich schlug er die Augen auf und sah seine Retter erstaunt an.
„Verdammt, wo bin ich?“, ächzte er und versuchte sich aufzurichten.
Danielle legte sanft ihre Hand auf seine Brust.
„Bitte bleiben Sie liegen, Mister Freeman“, sagte sie freundlich, aber bestimmt. „Sie hatten einen Kreislaufzusammenbruch und waren bewusstlos. Haben Sie Probleme mit dem Herzen?“
Er nickte.
„Ja, die Pumpe…“, ächzte er, und man merkte, dass ihm das Sprechen schwer fiel. „Mein Arzt meint ständig, ich hätte zu viel Stress und sei zu fett… Aber das Leben macht keinen Spaß… wenn man auf alles verzichten soll… keinen Kaffee, keinen Alkohol...“ Wieder presste er seine Hand auf die linke Brustseite. „Himmel, tut das weh!“
Danielle stöhnte unmerklich auf.
`Kein Alkohol`, wiederholte sie in Gedanken höchst beunruhigt, `Dabei hat er vorhin zwei doppelte Whisky gekippt!` Trotz ihrer Besorgnis zwang sie sich zu einem Lächeln. „Nehmen Sie irgendwelche Medikamente ein?“
Er nickte mit zusammengebissenen Zähnen.
„Starke Herztabletten… in Verbindung mit Sintrom, einem … Mittel zur Blutverdünnung.“
„Wann haben Sie die das letzte Mal eingenommen?“
„Kurz vor dem Flug.“
„Haben Sie die Medikamente dabei?“
„In meiner Jackentasche… über dem Sitz.“
„Okay. Wir haben gleich nebenan einen Notfallraum, dort werden wir Sie erst einmal hinbringen.“ Sie schaute kurz auf. „Santana, holst du bitte die Medikamente?“
Gemeinsam mit Dean half sie George Freeman vorsichtig auf die Beine. Sie stützten den schwerfälligen Mann so gut es ging und brachten ihn in den nur wenige Schritte von den Waschräumen entfernten Notfallraum, in dem sich eine Liege befand.
Ächzend ließ der Mann sich nieder und griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Brust.
Dean zog eine Decke aus einem der Fächer über der Liege und deckte den Patienten fürsorglich zu, während ihm Danielle mit einem Tuch über die Stirn tupfte, auf der kalter Schweiß stand. Freemans Atem ging rasselnd, und er zitterte wie Espenlaub.
„Mitch soll über Funk durchgeben, dass sich in L.A. ein Notfallteam am Flughafen bereithält, sobald wir eintreffen.“, ordnete Danielle leise an, so dass der Patient sie nicht hören konnte. „Ich bin nicht sicher, aber alles deutet darauf hin, dass Mister Freeman einen akuten Herzanfall hat.“
Sie drehte sich um und sprach den schweratmenden Mann beruhigend an.
„Sie sollten erst einmal liegen bleiben, Sir. Versuchen Sie ein wenig zu schlafen, das wird Ihnen ganz sicher guttun.“
Sie nahm ihren Mitarbeiter diskret zur Seite.
„Tabletten und der Alkohol, eine fatale Mischung.“
Dean verzog skeptisch das Gesicht.
„Aber gleich so schlimm?“
Danielle nickte.
„Er hat mir vorhin erzählt, dass er unter extremer Flugangst leidet. Dadurch ist sein Blutdruck mit Sicherheit ohnehin schon erhöht. Der Alkohol trocknet ihn aus und setzt die Wirkung des Blutgerinnungsmittels herab. Als Folge davon können sich Blutgerinnsel bilden, die dann angeschwemmt werden und wichtige Gefäße verstopfen.“
Der Flugbegleiter sah sie bewundernd an.
„Du bist ja richtig professionell“, staunte er. „Hast du am Ende einen anderen Erste-Hilfe-Kurs besucht als der Rest von uns?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich habe in einem Krankenhaus in Crawford Oklahoma gearbeitet, während ich auf einen Studienplatz als Medizinstudentin wartete. Als ich endlich eine Einschreibung bekommen sollte, wurde mein Vater krank, und ich musste auf der Farm aushelfen. Nachdem dann die Ernte rein war, war der Platz weg, und ich habe kurzentschlossen die Ausbildung bei BLUE SKY gemacht.“
Dean nickte anerkennend.
„Mit dreiundzwanzig schon ein bewegtes Arbeitsleben. Aber an deiner Stelle würde ich den Traum vom Medizinstudium noch verwirklichen, jetzt, wo du sowieso ohne Job bist.“
Sie hob die Schultern und lächelte.
„Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch will“, gestand sie, während sie Mister Freemans Medikamente von Santana entgegennahm und eingehend betrachtete.
„Wir sollten den Notarzt so schnell wie möglich über Funk fragen, ob wir Freeman zur Sicherheit zusätzlich „Sintrom“ geben dürfen, um sein Blut noch etwas zu verdünnen. Auf gar keinen Fall dürfen wir ihm zusätzlich noch andere Medikamente verabreichen, die würden wahrscheinlich das Gegenteil bewirken.“
Sie wies auf den vor sich hin dösenden Patienten.
„Einer von uns sollte bei ihm bleiben, um sicher zu gehen, dass sein Herz nicht noch einmal versagt“, wandte sie sich an die Chef-Stewardess.
Die nickte zustimmend.
„Ich bleibe vorerst hier. Geh du mit Dean nach vorn zu Mitch. Nur für den Fall, dass der Notarzt am Flughafen über Funk noch Fragen an dich hat.“
„Gut. Bitte überprüfe in regelmäßigen Abständen seinen Puls und leg ihm ein kaltes Tuch auf die Stirn. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.“
Gemeinsam mit Dean verließ sie die Kabine und eilte nach vorn.
Als sie an der dritten Reihe vorbeikam, erklang Annis inzwischen wohlvertraute Stimme.
„Stewardess, hallo!“
Danielle blieb kurz stehen.
„Ja bitte?“
„Ich habe vor mindestens einer halben Stunde bei Ihrer Kollegin etwas zu trinken bestellt!“, fauchte Anni. „Ich will den Drink jetzt und nicht erst in L.A.!“
Im ersten Moment wollte Danielle diese unmögliche Person einfach ignorieren und wortlos weitergehen, überlegte es sich dann jedoch in letzter Sekunde anders, drehte sich um und sah der Rothaarigen ins Gesicht.
„Entschuldigung, Ma`m!“, meinte sie mit einem zu Eis gefrorenen Lächeln. „Die Bar ist geschlossen, und wenn Ihnen das nicht passt, können Sie ja aussteigen.“
Zum ersten Mal auf diesem Flug war Anni sprachlos. Mit offenem Mund starrte sie Danielle hinterher, die eiligen Schrittes weiterging und hinter der Tür zum Cockpit verschwand.
„Hast du das eben gehört?“ wandte sie sich fassungslos an Matt, doch der konnte sich nicht länger beherrschen und lachte lauthals los.
Edward grinste ebenfalls breit.
„Hut ab“, meinte er anerkennend. „Die junge Dame gefällt mir.“
Anni sprang wütend auf und zog ihr Kleid zurecht.
„Dass ihr beide eine so bodenlose Frechheit auch noch lustig findet, ist mir unverständlich! Na, dem Früchtchen werde ich zeigen, wer der Boss ist!“
Sie war fast schon auf dem Gang, als Matt sie am Handgelenk packte.
„Du gehst nirgendwo hin“, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. „Und du wirst sie in Ruhe lassen, haben wir uns verstanden?“
Sie versuchte sich diskret loszuwinden, aber sein Griff war eisern.
„Was fällt dir ein!“, zischte sie wütend. „Du tust mir weh!“
„Dann setz dich wieder hin und halt endlich den Mund“, gab er zurück.
Anni kannte Matt und wusste, wann das Maß voll war.
„Ich will mich nur frischmachen gehen, verdammt!“
„Denk daran, was ich dir gesagt habe“, warnte er und ließ sie los.
Sie rieb beleidigt ihr Handgelenk.
Der Mann aus der Nebenreihe starrte sie schon wieder wie hypnotisiert an.
„Was gibt’s denn da zu glotzen?“, herrschte sie ihn an, worauf er erschrocken den Kopf einzog, während sie wütend in Richtung des Waschraumes davonrauschte.
Matt sah ihr nachdenklich hinterher.
„Sie ist heute wirklich in Höchstform“, bemerkte Edward kopfschüttelnd. „Vielleicht solltest du endlich mal mit ihr ins Bett gehen, damit sie umgänglicher wird.“
„Wieso?“, fragte Matt mit Unschuldsmiene. „Ich mag sie so wild. Du etwa nicht?“
*
Matt wartete während des weiteren Fluges vergeblich auf eine Gelegenheit, Danielle noch einmal anzusprechen. Er ärgerte sich, dass er vorhin während dieses Sonnenunterganges das Cockpit verlassen hatte. Warum konnte er nicht einmal seinen Gefühlen nachgeben? Es hatte doch alles gestimmt! Und dass sie ihn auch sympathisch fand, hatte er ebenfalls deutlich gespürt.
Was musste sie jetzt von ihm denken?
Leider hatte er keine Chance, sie danach zu fragen, ihre blonde Kollegin Chelsea hatte die Bedienung der Passagiere übernommen.
Ein- oder zweimal lief Danielle noch an ihm vorbei nach hinten, aber sie schien es jedes Mal eilig zu haben. Er vermutete, dass es einem der Passagiere nicht gut ging, denn ihr Gesicht war ernst, und sie hatte beim letzten Mal eine Sanitätstasche dabei. Danach kam sie nicht wieder nach vorn.
Sein Versuch, im hinteren Teil der Maschine nach ihr zu sehen, scheiterte an Flugbegleiter Dean, der sich ihm freundlich aber bestimmt in den Weg stellte.
„Es tut mir leid, Sir, wir haben einen Notfall an Bord, bitte benutzen Sie die Waschräume im vorderen Teil oder unten in der Ökonomy-Class.“
Matt wollte kein unnötiges Aufsehen erregen und kehrte unverrichteter Dinge zu seinem Platz zurück. Danielle tauchte nicht wieder auf. Selbst während der Landung blieb ihr Platz in der ersten Reihe leer.
Nach der Ankunft in Los Angeles beschloss Matt, im Flugzeug auf eine letzte Gelegenheit zu warten, um sich wenigstens von ihr zu verabschieden.
*
Danielle verbrachte den Rest des Fluges an der Seite von George Freeman. Der Notarzt am Flughafen hatte ihr über Funk aufgrund der von ihr genau beschriebenen Symptome, die der Patient aufwies, klare Verhaltensregeln erteilt, die sie nun möglichst exakt einzuhalten versuchte.
Freeman atmete schwer und klagte über starke Schmerzen im Brustraum. Er hatte Angst, und diesmal war es nicht nur einfache Flugangst, die ihn peinigte. Danielle hielt seine Hand und kühlte ihm die schweißnasse Stirn.
Um sich und vor allem ihn abzulenken, fragte sie ihn dies und das, und er begann, ihr aus seinem Leben zu erzählen. Von seiner verstorbenen Frau war die Rede, die seine zweite große Liebe gewesen war, nachdem die erste scheinbar ohne Grund Hals über Kopf aus seinem Leben verschwunden war. Er sprach über seine leider kinderlose, aber trotzdem sehr glücklichen Ehe, und von der Firma FREEMAN ELECTRONICS, die er einst aus eigener Kraft aufgebaut hatte, und die inzwischen zu den erfolgreichsten dieser Branche zählte.
Danielle hörte ihm geduldig zu und hoffte inständig, er möge durchhalten, denn sie merkte, dass ihm das Reden immer schwerer fiel und er zunehmend schwächer wurde. Er brauchte dringend Medikamente, denn die Schmerzen in seiner Brust nahmen offensichtlich zu. Zwar hatte er seine Herztabletten angeblich vorschriftsmäßig eingenommen, aber sie schienen eigenartigerweise nach wie vor keinerlei Wirkung zu zeigen. Danielle vermutete, dass der Alkohol, den er zu Beginn des Fluges getrunken hatte, daran schuld war.
„Versuchen Sie möglichst still zu liegen und sprechen Sie nicht so viel, Mister Freeman“, sagte sie leise, aber bestimmt.
„Bitte nennen Sie mich George“, bat er. „Und erzählen Sie mir ein wenig von sich.“
„Okay“, willigte sie lächelnd ein. „Ich befürchte jedoch, mein Leben ist nicht halb so interessant wie das Ihre.“ Um ihn von seinen Schmerzen abzulenken, berichtete sie ihm von ihrer Heimatstadt Crawford im Nordwesten von Oklahoma, wo sie geboren und aufgewachsen war, von ihrer Familie, der High-School, die sie besucht hatte und von ihrem Studienwunsch, der sich leider nicht erfüllt hatte.
Freeman hielt die Augen geschlossen, aber er nickte ab und zu bestätigend, so dass sie merkte, dass er ihr genau zuhörte.
„Bestimmt gibt es auch einen Mann in Ihrem Leben?“, mutmaßte er schließlich mit einem schwachen Lächeln.
„Nicht mehr“, gestand sie kopfschüttelnd. „Es gab jemanden, aber das ist vorbei.“
„Eine hübsche junge Frau wie Sie sollte nicht allein sein“, meinte er und presste Sekunden später die Hände auf seinen Brustkorb. „Zur Hölle nochmal, tut das weh!“
Kurz vor der Landung wurden seine Schmerzen unerträglich.
„Ich glaube, meine Zeit ist um“, ächzte er mühsam.
Danielle schüttelte energisch den Kopf.
„Sie werden es schaffen, George. Wir beide werden das jetzt zusammen durchstehen! In ein paar Minuten haben wir wieder festen Boden unter den Füßen und dann wartet schon ein Rettungsteam auf Sie und wird Ihnen helfen. Dann sind Sie in den besten Händen!“
Er drückte ihre Hand und brachte ein verkrampftes Lächeln zustande.
„Das bin ich doch schon, Miss...“
„Belling, Danielle Belling.“
“Danielle…”, wiederholte er. „Wenn ich es schaffe, dann habe ich das allein Ihnen zu verdanken. Ohne Sie hätte ich diesen Flug nicht überstanden. Sie haben mir das Leben gerettet.“
Sie tupfte ihm abermals die Stirn ab.
„Dann geben Sie jetzt nicht auf und kämpfen Sie darum“, ermutigte sie ihn eindringlich. „Lassen Sie nicht zu, dass alles umsonst war! Wir haben es gleich geschafft.“
„Ja“ Er schloss erschöpft die Augen.
Das Flugzeug setzte zur Landung an. Danielle spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Es war Santana.
„Möchtest du nach vorn gehen? Soll ich dich ablösen?“, fragte sie leise und sah ihre junge Mitarbeiterin besorgt an, doch die schüttelte entschieden den Kopf.
„Ich bleibe hier, bis wir gelandet sind und der Arzt an Bord kommt.“
„Okay.“ Die Chefstewardess lächelte ihr aufmunternd zu und verschwand.
Sanft und sicher setzte Mitch Capwell die Boeing auf der Landebahn auf.
Über die Bordlautsprecher verabschiedete er sich von den Passagieren und bat sie, noch einen Moment auf ihren Plätzen zu bleiben, um den Gang für den Notarzt freizuhalten.
Dieser eilte dann auch, sobald die Maschine ihre endgültige Parkposition erreicht hatte, sofort mit seinem Rettungsteam an Bord und verschwand eilig im oberen Teil der Maschine.
„Na los, gehen wir!“, drängte Anni und sprang ungeduldig auf. „Ich kann es kaum erwarten, aus dieser unwirtlichen Blechbüchse herauszukommen!“
Matt ließ sie und Edward auf den Gang hinaustreten, während er sich wieder setzte.
„Ich komme gleich nach“, erklärte er knapp. „Wartet in der Halle auf mich.“
Seine Begleiterin war darüber gar nicht begeistert.
„Komm schon, Matt, ich bin müde und habe Kopfschmerzen, ich will endlich nach Hause!“, jammerte sie.
„Du hättest im Flieger schlafen können, anstatt uns auf die Nerven zu gehen, und das Kopfweh kommt sicher von dem vielen Champagner! Also verschone uns mit deinem Gemecker!“, erwiderte Edward sichtlich genervt und schob sie trotz ihres Protestes einfach weiter, während er seinem jüngeren Geschäftspartner aufmunternd zunickte.
Als endlich alle Passagiere die Maschine verlassen hatten, erhob sich Matt und ging nach hinten. Dort stand Santana, die konsequent den Vorhang zum Notfallraum hinter sich schloss.
„Könnte ich wohl Miss Belling einen Moment sprechen?“, erkundigte er sich höflich.
Santana schüttelte bedauernd den Kopf.
„Tut mir leid, aber wir haben einen Notfall an Bord und Miss Belling wird dringend gebraucht.“
„Es fehlt ihr doch nichts?“, fragte er beunruhigt.
Die Chefstewardess lächelte.
„Nein, Sir, aber sie hat den Patienten bisher medizinisch versorgt und der Arzt hat einige Fragen diesbezüglich an sie. Es ist durchaus möglich, dass sie im Rettungswagen mit in die Klinik fahren muss. Soll ich ihr etwas ausrichten?“
Matt kämpfte sekundenlang mühsam gegen die unaufhaltsam in seinem Inneren aufsteigende Enttäuschung an.
„Sagen Sie ihr bitte...“ Er suchte fieberhaft nach den richtigen Worten, doch plötzlich schien es ihm völlig absurd, dieser fremden Flugbegleiterin erklären zu müssen, was ihn bewegte, und welche seltsam starken Gefühle er für Danielle, die er vor ein paar Stunden noch nicht einmal gekannt hatte, seit ihrem ersten Blickkontakt empfand.
„Nein, vielen Dank.“
Er drehte sich abrupt um und ging eilig zum Ausgang.
Als er das Flugzeug verlassen wollte, trat Mitch hinter Hank aus dem Cockpit.
„Alles okay?“, erkundigte er sich, während sein Kollege nach hinten ging.
Matt nickte.
„Ich wollte mich eben von Miss Belling verabschieden, aber sie hat leider zu tun.“
Der Pilot nickte.
„Unser Notfallpatient kann von Glück sagen, dass sie an Bord war“, erklärte er bedeutungsvoll. „Ich glaube, der Mann hätte diesen Flug nicht überlebt, wenn sie nicht gewesen wäre.“ Er sah Matts erstauntes Gesicht und lächelte bedeutungsvoll. „Glaub mir, unsere Dani ist etwas Besonderes. Willst du hier auf sie warten?“
„Nein, ich muss los“, erwiderte Matt etwas zu hastig. „Wir sehen uns, Mitch.“
„Matt?“
Mitch legte seinem Freund vertraulich die Hand auf die Schulter. „Wenn es dir ernst ist, und du sie wiedersehen willst, dann melde dich bei mir. Ich weiß, wo sie zu finden ist.“
Matt sah ihn nachdenklich an.
„Vielleicht werde ich das tun“, erwiderte er nach kurzem Zögern und klopfte ihm auf die Schulter. „Danke, mein Freund.“
Schnellen Schrittes verließ er das Flugzeug, hartnäckig der Versuchung widerstehend, sich noch einmal suchend umzudrehen.
Wer konnte schon sagen, was die Zukunft bringen würde?