Santa Monica
Im ersten Morgengrauen hielt Stefanos Wagen mit quietschenden Bremsen vor Wes Parkers Büro am Stadtrand von Santa Monica. Die beiden Männer sprangen heraus und fanden sich inmitten eines spektakulären Polizeieinsatzes wieder. Überall standen bis an die Zähne bewaffnete Beamte und zwei Notarztwagen des Santa Monica Memorial Hospitals. Obwohl das Schlimmste bereits vorüber zu sein schien, wirkte die ganze Szene durch die grell blitzenden Rundumleuchten auf den zahlreichen Einsatzwagen unheilvoll und verhieß nichts Gutes.
„Tut mir leid, hier können Sie nicht durch!“, hielt einer der Beamten Stefano und Mitch zurück.
„Sunset City Police Department. Detektiv Cortez“, stellte Stefano sich vor und zückte seinen Ausweis.
Der Beamte nickte.
„Und Sie, Sir?“, wandte er sich an Mitch.
„Mein Mitarbeiter“, erwiderte Stefano und zog Mitch schnell mit sich fort, bevor der Beamte noch weitere Fragen stellen konnte.
„Was zum Teufel ist hier los?“, flüsterte Mitch voller böser Vorahnungen. „Wo ist Suki?“
In diesem Moment verließen zwei Sanitäter mit einer Trage das Gebäude. Darauf lag eine Gestalt in einem schwarzen Leichensack.
Mitch stockte der Atem.
„Nein, oh nein!“
Mit ein paar Schritten war er bei den Männern.
„Wer ist das?“, fragte er atemlos, während Stefano hinzutrat und sich erneut auswies.
„Eines der beiden Opfer“, erklärte einer der Sanitäter und gab seinem Kollegen ein Zeichen, die Trage abzustellen. „Wurde von einer Kugel erwischt, war sofort tot.“
Mitch hielt den Atem an und sein Herzschlag schien sekundenlang auszusetzen, als Stefano den Leichensack am Kopfende öffnete und den Blick freigab auf ein blasses, lebloses Gesicht, dass sie beide nur zu gut kannten…
„Bobby Hughes“, rief Stefano erstaunt, während Mitch das Gefühl hatte, seine Beine würden ihm vor Erleichterung den Dienst versagen.
„Wo ist Suki?“, wiederholte er mit zitternder Stimme, wartete jedoch keine Antwort ab, sondern lief wie gehetzt zum Hauseingang hinüber.
Stefano folgte ihm, wurde jedoch von einem älteren Herrn, der die Szene beobachtet hatte, aufgehalten.
„Sie kennen das Opfer?“, fragte der Mann streng. Ricardo nickte. „Allerdings. Und ich wage zu bezweifeln, dass er hier wirklich das Opfer ist.“
Der ältere Mann räusperte sich und zückte eine Polizeimarke.
„Detektiv Miller, LAPD“, stellte er sich vor und maß sein Gegenüber mit einem prüfenden Blick. „Wir wurden in Verbindung mit einem Vorfall in Tokio hierherbeordert. Wissen Sie etwas darüber?“
Auch Ricardo wies sich aus und schüttelte dann bedauernd den Kopf.
„Nein, nicht wirklich. Aber der Tote hier ist mir und meinen Kollegen sehr wohl bekannt.“
„Können Sie mir das bitte etwas näher erklären?"
„Natürlich.“ Ricardo erzählte seinem Amtskollegen, was er bislang wusste.
Mitch war inzwischen ins Haus gestürmt.
„Wo ist der Notarzt?“, rief er, während er sich einen Weg durch die Beamten bahnte, die noch Spuren am Tatort sicherten.
„Dort drin“, erwiderte einer der Männer und versuchte Mitch zurückzuhalten. „Moment mal, da können Sie jetzt nicht rein!“
„Und ob ich das kann!“ Mitch riss sich los, stürzte in das Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen.
Der Notarzt, ein hagerer Mann Mitte Vierzig, kniete mit einem geöffneten Behandlungskoffer auf dem Fußboden neben Suki, die in einer beängstigend großen Blutlache lag. Ihr Gesicht wirkte aschfahl und ihre Augen waren geschlossen. In ihrer Armbeuge steckte eine Kanüle, durch die ihr soeben irgend ein Mittel verabreicht wurde
„Was wollen Sie denn hier?“, herrschte der Arzt Mitch an, als der aufstöhnend neben Suki auf die Knie sank.
„Sie ist... Doktor Suki Yamada, meine... Freundin“, brachte er heraus, ohne den Blick von ihrem blassen Gesicht abzuwenden. „Was ist mit ihr? Warum hat sie so viel Blut verloren, Doc? Ist sie...“
Seine Stimme drohte zu versagen.
Der Arzt schüttelte den Kopf.
„Beruhigen Sie sich, junger Mann“, sagte er, während er dem Sanitäter neben sich die leere Kanüle reichte. „Das ist nicht ihr Blut, sondern das von dem anderen Opfer. Und sie ist auch nicht tot, sondern hat nur einen Streifschuss in Schulterhöhe abbekommen. Sie dürfte allerdings bereits etwas benommen sein von dem Beruhigungsmittel, das ich ihr eben gespritzt habe. Wenn es richtig wirkt, werde ich die Erstversorgung der Wunde vornehmen, damit wir sie problemlos transportieren können.“
In diesem Moment öffnete Suki die Augen und sah sich irritiert um. Dann bemerkte sie Mitch und ein erleichtertes Lächeln zog über ihr Gesicht.
„Du bist da… Jetzt ist alles gut…“, wisperte sie kaum hörbar.
Mitch nickte und griff beruhigend nach ihrer Hand.
„Suki... ja, es ist alles gut. Hughes ist tot und du bist in Sicherheit. Der Doc wird sich um deine Schulter kümmern, dann fahren wir in die Klinik.“
„Scheint, als hätten Sie heute mehr Glück als Verstand gehabt, liebe Kollegin“, meinte der Arzt und deutete auf das zerschmetterte Amulett, dessen Überbleibsel noch an der zarten Kette um ihren Hals hing.
„Wie meinen Sie das?“, fragte Mitch verständnislos.
„Nun... ich nehme an, dieser Anhänger sollte ein Glückssymbol sein.“
Mitch nickte, und der Notarzt lächelte.
„Es kann gar nicht anders sein. Die Kugel aus der Waffe ist allem Anschein nach an dem Anhänger abgeprallt und hat danach ihre Schulter nur noch gestreift. Hätte sie ihn nicht getragen, wäre dieses Geschoss mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlich gewesen.“ Er wandte sich an Suki. „Selbst, wenn es dabei kaputtgegangen ist, sollten Sie es in Ehren halten. Es hat Ihnen vermutlich das Leben gerettet!“
Suki suchte Mitchs Blick und ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie seine Hand ganz fest hielt.
„Danke...“ flüsterte sie leise.
*
Die Nachricht von Wes` und Bobbys gewaltsamem Tod schlug in Sunset City ein wie eine Bombe. Die Sensationsgier der Leute war geweckt.
Es gab zwar kaum jemanden, der Bobby Hughes auch nur eine Träne nachweinte, denn er hatte nie richtige Freunde gehabt. Nur Komplizen, die ihm für eine angemessene Bezahlung auch liebend gern selbst den Hals umgedreht hätten.
Wes Parker hingegen war zumindest als Geschäftsmann geachtet und als langjähriger Partner der H&S ENTERPRISES von den Bürgern respektiert worden, ohne dass die meisten etwas von seinen heimlichen, dunklen Machenschaften geahnt hatten.
Die schrecklichen Geschehnisse im fernen Tokio und die Entführung von Dr. Suki Yamada gaben der Sache jedoch sofort eine entscheidende Wende und ließen die fast makellose Fassade, die Wes für sich und seine Tochter geschaffen hatte, in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus.
Inzwischen war auch seine Sekretärin und derzeitige Geliebte Shirley verhaftet worden.
Das Büro in Santa Monica wurde zur selben Stunde noch von den Behörden abgesperrt und durchsucht.
Anni traf die Nachricht vom Tod ihres Vaters völlig unerwartet und knallhart. Fassungslos hatte sie Stefano angestarrt, als er am Vormittag plötzlich vor ihrer Tür stand und versuchte, ihr das Geschehene so schonend wie möglich beizubringen.
„Nein, du lügst, das ist nicht wahr!“, hatte sie geschrien und verzweifelt begonnen, mit den Fäusten gegen seine Brust zu trommeln, als könnte sie ihn dadurch zum Schweigen bringen und alles ungeschehen machen. Aufschluchzend war sie danach in seinen Armen zusammengebrochen, und Stefano war mehr als erleichtert gewesen, als Wes` Schwester Cloe plötzlich mit zwei großen Reisekoffern in der Tür stand und ihre Nichte tröstend in die Arme schloss.
„Komm schon, Schätzchen, reiß dich zusammen, ich bin ja da“, sagte sie beruhigend und zwang Anni mit sanftem Druck auf die Couch. „Setz dich, ich hole dir einen Drink!“
Stefano beobachtete, wie die selbstbewusste Blondine Orangensaft in ein Glas goss und etwas aus ihrer Tasche holte, was sie dem Getränk beimischte, bevor sie es ihrer schluchzenden Nichte reichte.
„Trink das!“ befahl sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
Erstaunt registrierte er, dass Anni bedingungslos gehorchte. Wes` lebenslustige jüngere Schwester war wohl die Einzige, die einen derartigen Einfluss auf sie ausübte.
Und tatsächlich, was auch immer es war, das Cloe Anni eingeflößt hatte, sie wurde sofort ruhiger und ließ sich sogar von ihrer Tante widerstandslos die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer bringen.
Ein paar Minuten später war Cloe zurück, nahm den großen weißen Hut, der perfekt zu ihrem eleganten. hellen Reisekostüm passte, ab und warf ihn achtlos auf den Sessel.
„Uff, das wäre geschafft, sie wird erst einmal eine Weile schlafen“, meinte sie und goss eisgekühltes Mineralwasser in zwei Gläser, von denen sie Stefano eines reichte.
„Na los, setz dich, Detektiv, nimm mir nicht die Ruhe.“
Sie ließ sich auf die Couch fallen, während sie ihre hochhackigen Pumps von den Füßen kickte und einen tiefen Schluck von dem Mineralwasser nahm. „So, jetzt geht es mir wieder besser“, stöhnte sie aufatmend und strich sich ungeduldig eine Strähne ihres kunstvoll aufgesteckten blondierten Haares aus der Stirn. „Ich habe die ganze Sache zufällig auf der Fahrt vom Flughafen hierher im Autoradio des Taxis gehört und dachte zuerst, jemand erlaubt sich einen üblen Scherz. Aber anscheinend ist es wahr...“
Sie atmete noch einmal tief durch, und ihre lebhaften blaugrünen Augen blitzten, als sie Stefano forschend ansah.
„Komm schon, raus damit: Was hat mein nichtsnutziger Bruder diesmal wieder angestellt? Mal abgesehen davon, dass dies mit Sicherheit sein letzter Cup gewesen sein dürfte!“
*
Matt war in den frühen Morgenstunden direkt von Danielles Krankenbett aus ins Hotel gefahren, um Jill und Robyn die gute Nachricht persönlich zu überbringen und die beiden Frauen in die Klinik zu fahren. Da er Danielle das ungestörte Wiedersehen mit ihrer Familie von Herzen gönnte, nutzte er die Zeit, um sich nach der langen Nacht zu Hause etwas frischzumachen und umzuziehen, bevor er im Büro nach dem Rechten sehen und einiges aufarbeiten wollte.
Kaum hatte er seine Wohnung betreten, als es hinter ihm heftig an der Tür klopfte.
Er öffnete, und Cloe stürmte an ihm vorbei in die Wohnung.
„Matt! Wo bist du bloß die ganze Zeit über gewesen? Seit Stunden versuche ich dich zu erreichen! Na ja, ist egal, jetzt bist du ja da…“ Sie atmete tief durch. „Hast du es schon gehört?“
„Setz dich doch, Cloe“, erwiderte er und unterdrückte ein Stöhnen, da er in seiner gegenwärtigen Situation nicht sonderlich angetan von diesem spontanen Überfall seiner temperamentvollen Nachbarin war. „Was soll ich gehört haben? Dass du deine Endlosferien auf Acapulco plötzlich abgebrochen hast? Oder bist du am Ende gar wieder verheiratet?“
Cloe winkte ab.
„Bin ich dämlich? Nein danke, vier Ehekatastrophen waren mehr als genug.“
Sie ließ sich in den Sessel fallen und fixierte ihn mit großen Augen erwartungsvoll.
„Du weißt es anscheinend wirklich noch nicht, Süßer!“
Matt zog die Stirn in Falten und sah sie abwartend an.
„Dann erzähl es mir, Cloe, und zwar schnell, denn ich bin ziemlich in Eile.“
„Also gut.“ Um dem Nachfolgenden die richtige Wirkung zu geben, straffte Cloe die Schultern und unterstrich ihre Worte mit einem bedeutungsvollen Blick.
„Wes ist tot.“
Matt stutzte.
„Was?“
Sie nickte heftig und sprudelte heraus, was sie wusste.
Er hörte fassungslos zu.
„Das gibt es doch gar nicht!“, meinte er erschüttert, als sie ihren Redeschwall beendet hatte. „Wie hat es Anni aufgenommen?“
„Sie ist völlig fertig, die Arme“, jammerte Cloe. „Ich hab ihr erst einmal ein Schlafmittel gegeben und sie ins Traumland geschickt.“
„Bleibst du bei ihr?“
„Aber natürlich, ich werde doch meine Lieblingsnichte in dieser Situation nicht allein lassen!“
Matt nickte erleichtert. Er kannte Cloe, seitdem er hier in die Stadt gezogen war, und er mochte ihre unkonventionelle, direkte Art, ihre Lebensfreude und ihr Talent, aus jeder Situation das Beste zu machen, auch wenn sie manchmal eine Nervensäge war. Das lag wohl in den weiblichen Genen der Familie...
„Gut. Ich muss jetzt ins Büro, und danach will ich noch einmal nach Danielle sehen. Aber heute Abend schaue ich bei euch vorbei, versprochen.“
„Wer ist Danielle?“, fragte Cloe sofort hellhörig.
„Das erkläre ich dir später“, erwiderte Matt und öffnete konsequent die Tür.
„Okay, okay, ich verschwinde schon, habe verstanden“, rief sie und sprang auf. Kurz vor ihm blieb sie stehen und tätschelte gutmütig seine Wange. „Ich kann mir meinen Teil schon denken, schöner Mann! Ich sehe dieses gewisse Leuchten in deinen Augen, wenn du von der geheimnisvollen Dame sprichst. Das ist gut... sehr gut!“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Aber es wäre wirklich nett, wenn du Anni ein wenig beruhigen könntest. Du kennst sie ja, deine Meinung bedeutet ihr immer sehr viel.“
An der Tür drehte sie sich noch einmal um, und Matt glaubte ein verdächtiges Glitzern in ihren Augen zu entdecken.
„Auch, wenn mein Bruder ein paar wirklich üble Dinge in seinem Leben zu verantworten hatte, Anni hat er immer geliebt. Und wir ihn auch.“
„Das weiß ich, Cloe“, nickte er und lächelte. „Ich werde tun, was ich kann. Du weißt doch, ich bin immer für euch da.“
Cloe schniefte gerührt.
„Ja, mein Großer. Deshalb bin ich ja auch zuerst zu dir gekommen!“
*
„Hat die Verteidigung noch weitere Zeugen aufzurufen?“
Die Stimme des Richters klang ungeduldig, fast schon provozierend in Andrew Hamiltons Ohren. Randy Walkers Strafverteidiger saß auch heute wieder scheinbar selbstsicher an der Seite seines jungen Mandanten und spürte, wie alle Blicke im Gerichtssaal erwartungsvoll auf ihm ruhten.
Verdammt, irgendwie lief hier nichts, wie es hätte laufen sollen!
Randy verließ sich auf ihn, und er selbst war sich seiner Sache so sicher gewesen, vermutlich sogar etwas zu sicher, dass dieser Prozess eine Kleinigkeit für einen Mann mit seinen Fähigkeiten sein würde. Aber James T. Baker wollte Blut sehen, sein Hass auf die Hamiltons machte ihn brillant und gefährlich. Er war in jeder Hinsicht perfekt darauf vorbereitet, seinen Kontrahenten in die Schranken zu verweisen und ihm vor aller Augen zu blamieren. Dazu Richter Callaghan, dem es Freude und heimliche Genugtuung zugleich sein würde, eine längst fällige, offene Rechnung zwischen ihnen zu begleichen.
Andrew hatte während des bereits drei Tage währenden Prozesses Caroline, Mitch, Kim und sogar Becky Meyers als Zeugen aufgerufen, um Randys Loyalität als Freund und unbescholtener Bürger zu unterstreichen, und seine letzte Hoffnung war nun doch Brendon Finley gewesen. Doch der war merkwürdigerweise seit Prozeßbeginn wie vom Erdboden verschwunden. Selbst Caroline hatte keine Ahnung, wo er sich derzeit aufhielt.
Andrew knirschte wütend mit den Zähnen. Der Junge konnte sich auf einiges gefasst machen, wenn er irgendwann wieder auftauchen sollte!
„Herr Verteidiger, ich erwarte eine Antwort“, rief Richter Callaghan nachdrücklich, und Andrew konnte James T. Baker im Geiste grinsen sehen.
Er erhob sich und straffte die Schultern.
„Nein, Euer Ehren!“
„Dann ordne ich eine Pause von zwei Stunden an, und danach wünsche ich die Abschlussplädoyers der Herren zu hören.“ Er nickte den beiden Angesprochenen zu. „Herr Staatsanwalt, Herr Verteidiger, geht das in Ordnung?“
„Ja Euer Ehren“, antworteten beide gleichzeitig.
Die Herrschaften des Hohen Gerichts erhoben sich und verließen den Saal.
„Und was bedeutet das?“ fragte Randy unsicher.
Andrew presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen.
„Das bedeutet, dass ich in spätestens zwei Stunden zur absoluten Bestform auflaufen werde, mein Junge!“
*
Nach einer gründlichen Untersuchung durfte Suki zusammen mit Mitch die Klinik von Santa Monica wieder verlassen. Fürsorglich brachte er sie nach Hause und bestand darauf, dass sie sich sogleich auf das Sofa im Wohnzimmer legte, während er hinaufeilte, um Decken und Kissen zu holen, damit sie es auch wirklich bequem hatte. Unter normalen Umständen hätte Suki heftig gegen so viel Fürsorge protestiert, aber das Wissen um Jins gewaltsamen Tod setzte ihr mehr zu, als sie sich selbst eingestehen wollte. Sie hatte mit ihm nicht nur ihren Ex-Verlobten, sondern vielmehr einen langjährigen, vertrauten Freund verloren, und auch, wenn sich ihre Wege in den letzten Monaten getrennt hatten, so war er doch ein Teil ihrer Kindheit und ihrer Jugend, und das würde er auch immer bleiben. Sie schluckte tapfer die Tränen hinunter, die ihr die Kehle zuschnürten und lächelte Mitch an, dankbar dafür, dass er sich so um sie sorgte.
„Hast du Schmerzen?“, fragte er und wies auf den Verband, den ihre Bluse nur teilweise verdeckte.
Sie schüttelte den Kopf.
„Kaum der Rede wert.“
„Soll ich dir etwas zu trinken holen?“
„Nein.“
„Hast du Hunger?“
Wieder schüttelte sie den Kopf.
Ratlos stand er da. Er fühlte sich befangen und wusste nicht, was er tun sollte.
„Ich... Ich werde uns einen Tee kochen, einverstanden?“
Er war schon fast an der Küchentür, als sie leise seinen Namen rief.
Erwartungsvoll drehte er sich um.
Suki sah ihn mit ihren schönen, dunklen Mandelaugen traurig an.
„Du könntest doch etwas für mich tun, bitte.“
Bereitwillig trat er näher.
„Natürlich, klar doch, was immer du willst.“
„Setz dich zu mir und nimm mich einfach in den Arm.“
*
Verzweifelt umklammerte Randy Kims Hand, als sie gemeinsam mit Andrew Hamilton im Nebenzimmer des Gerichtssaales auf die Fortführung der Verhandlung warteten.
„Sie werden mich verurteilen, da bin ich inzwischen sicher“, flüsterte er resigniert, als Andrew kurz nach draußen gegangen war, um zu telefonieren.
Kim blickte ihn erschrocken an.
„Nein Randy, das darfst du nicht sagen!“
„Komm schon, sieh den Tatsachen ins Auge“, meinte er niedergeschlagen. „Alles spricht gegen mich, und Hamilton kommt auch nicht weiter. Da kann er so gut sein, wie er will, er hat keine konkreten Beweise für meine Unschuld. Dieser Baker wird ihn fertigmachen.“ Er seufzte und schüttelte mutlos den Kopf. „Ich weiß nicht, aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, als wenn der Richter kaum erwarten kann, den Schuldspruch zu verkünden.“
*
„Es sieht nicht gut aus für Randy“, schätzte Becky die Lage ein, als sie mit Chelsea den Gerichtssaal verließ. „Und wir können absolut nichts tun, um ihm zu helfen.“
„Das ist so ungerecht“, knurrte Chelsea frustriert. „Ich bin stinksauer darüber, wie dieser Staatsanwalt auf ihn und auch auf die Zeugen losgegangen ist!“
„Er und die Hamiltons sind sich nicht grün“, erklärte Becky. „Ich habe vorhin gehört, wie sich zwei Herren auf dem Flur darüber unterhielten.“
„Das fehlt gerade noch, dass Randy eine persönliche Fehde zwischen den hohen Herrn ausbaden muss“, schnaufte Chelsea entrüstet und sah auf die Uhr. „Noch anderthalb Stunden bis zu den Abschluss-Plädoyers. Ich habe Matt versprochen, ihn über alle Neuigkeiten zu informieren. Sicher ist er in der Klinik. Also werde ich die verbleibende Pause nutzen und bei der Gelegenheit gleich bei ihm und Danielle vorbeischauen.“
Becky nickte zustimmend.
„Tu das. Jetzt wo Danielle wieder munter ist, wird sie sich freuen, ihre Freunde zu sehen.“
*
Überglücklich saß Jill am Bett ihrer Tochter, und auch Robyn war froh und erleichtert darüber, dass ihre Schwester wieder aufgewacht war. Danielle in einem todesähnlichen Schlaf so still und reglos hier vorzufinden, hatte sie zutiefst erschüttert.
Dr. Mendes war bereits mehrmals bei seiner Patientin gewesen, um sich persönlich nach deren Befinden zu erkundigen, und eine Physiotherapeutin hatte mit der jungen Frau erste Übungen zur Muskelkräftigung durchgeführt. Dr. Mendes zeigte sich sehr zufrieden und meinte, Danielle könne ab dem nächsten Tag schon teilweise versuchen das Bett verlassen.
Als Matt später vom Büro aus vorbeikam, fand er sie im Beisein ihrer Mutter und ihrer Schwester in ihrem Bett sitzend vor. Sie lächelte ihm entgegen, ihre Wangen hatten inzwischen wieder etwas Farbe bekommen, und nur die triste Krankenzimmeratmosphäre erinnerte ihn vage an die bangen, endlosen Tage und Nächte des Wartens und Hoffens, die er hier bei ihr verbracht hatte. Glücklich schloss er sie in die Arme.
Jill nahm sich zutiefst gerührt der roten Rosen an, die er für Danielle mitgebracht hatte und freute sich sichtlich für ihre Tochter, während Robyns Blicke immer wieder aufs Neue erwartungsvoll zur Tür wanderten. Leider hatte sie den Mann ihrer geheimen Sehnsüchte nicht mehr zu Gesicht bekommen, seitdem dieser sie und ihre Mutter gestern von Crawford nach Sunset City geflogen und bis zur Klinik begleitet hatte. Nun hoffte sie insgeheim, er würde irgendwann hier auftauchen, um ihrer älteren Schwester einen Krankenbesuch abzustatten. Gespannt blickte sie auf, als sich kurze Zeit später tatsächlich ein Besucher ankündigte.
Enttäuscht musste sie jedoch feststellen, dass es nicht Mitch war, der hereinkam, sondern eine junge Frau, die Danielle sogleich stürmisch umarmte.
„Mum, Robyn, das ist Chelsea, meine Mitbewohnerin. Wir beide kennen uns schon eine ganze Weile, ich habe mit ihr zusammen für „BLUE SKY“ gearbeitet“, stellte Danielle ihrer Familie die Freundin vor.
Chelsea begrüßte Matt und die beiden Frauen und wandte sich dann wieder an Danielle.
„Ich muss schon sagen, du hast uns einen ordentlichen Schrecken eingejagt, Süße!“
Während sich die vier Frauen miteinander unterhielten, trat Matt ans Fenster und dachte angestrengt darüber nach, was wohl passieren würde, wenn Chelsea Danielle eröffnete, dass sie geradewegs aus Randys Gerichtsverhandlung gekommen war. Immerhin hatte Dr. Mendes seiner Patientin ausdrücklich jede Aufregung untersagt!
Immer wieder sah er prüfend zu Chelsea hinüber, doch sie plauderte ungezwungen mit Danielle, Jill und Robyn und nahm seine Blicke überhaupt nicht wahr. Es kam ihm wie eine Erlösung vor, als sie nach einer Weile plötzlich aufsprang und sich verabschiedete.
„Du willst schon wieder los? Wieso hast du es so eilig?“, fragte Danielle neugierig.
„Randys Gerichtsverhandlung geht gleich weiter“, platzte Chelsea heraus, bevor Matt es verhindern konnte.
Danielle wurde augenblicklich kreidebleich.
„Oh mein Gott!“, brachte sie erschrocken heraus. „Randy!“
Mit zwei Schritten war Matt bei ihr und fasste beunruhigt nach ihrer Hand.
„Mach dir keine Gedanken, Liebling, sein Anwalt Andrew Hamilton hat alles unter Kontrolle.“
Sie griff sich an die Stirn, als müsse sie sich erst einen Augenblick besinnen.
„Randy... Ich hatte ihn völlig vergessen! Wie geht es ihm? Die Verhandlung hat also bereits angefangen? Ist alles in Ordnung?“
Matt wechselte einen kurzen, aber vielsagenden Blick mit Chelsea, nachdem einen Moment lang ein peinliches Schweigen entstanden war.
Sie verstand.
„Ähm, ja, klar. Der Anwalt ist wirklich gut, die Sache ist eine Kleinigkeit für ihn“, meinte sie gespielt fröhlich.
Doch Danielle war nicht dumm. Sie hatte sofort bemerkt, dass etwas nicht stimmte.
„Was soll das?“, fragte sie ärgerlich. „Warum belügst du mich! Irgendetwas ist doch faul. Also...“ Sie sah abwartend von einem zum anderen. „Was ist los?“
Betreten sah Chelsea zu Boden.
„Entschuldige Danielle, wir wollten dich nicht aufregen. Andrew Hamilton wird nachher sein Abschlussplädoyer halten und...“
„...und danach kommt Randy frei“, ergänzte Matt hastig. „Du musst los, Chelsea, sonst verpasst du den Ausgang der Verhandlung.“
Sie nickte hastig, umarmte Danielle noch einmal, winkte Jill und Robyn, die das Gespräch schweigend verfolgt hatten, kurz zu, und verließ fast fluchtartig das Krankenzimmer.
Danielles Blick wanderte zurück zu Matt. Der hob mit unschuldigem Blick die Schultern.
„Du hast doch gehört, alles okay. Kein Grund zur Aufregung.“
„Nichts ist okay“, rief Danielle erbost. „Du wirst mir jetzt bitte sofort erzählen, was hier los ist, oder ich rege mich wirklich auf!“
*
Claudia erwachte von den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages und stellte erstaunt fest, dass das Bett neben ihr bereits leer war. Ein Blick zur Uhr zeigte ihr jedoch, dass sie keineswegs verschlafen hatte. Aber weshalb war Manuel heimlich aufgestanden, ohne sie zu wecken?
Sie erinnerte sich an die Geschehnisse in der letzten Nacht und hoffte, dass Stefano und Mitch Suki inzwischen gefunden hatten und alles gut ausgegangen war. Sie hatte noch lange wachgelegen, nachdem die beiden weit nach Mitternacht das Haus verlassen hatten. Erst im Morgengrauen war sie in einen kurzen unruhigen Schlaf gefallen.
Sie stand auf und überwand sich zu einer kalten Dusche, um alle ihre Lebensgeister zu wecken. Während sie sich abtrocknete, dachte sie wieder über Manuel nach. Wahrscheinlich war er bereits hinuntergegangen, um mit seiner Mutter im trauten Familienkreis zu frühstücken.
Trauter Familienkreis...
Claudia schluckte.
An dem gespannten Verhältnis zwischen ihr und Madame Dolores hatte sich bislang nichts geändert. Obwohl sie wirklich in jeder erdenklichen Weise versucht hatte, ihrer Schwiegermutter entgegenzukommen, blieb diese verschlossen wie eine Auster und gab sich ihr gegenüber kühl und äußerst distanziert.
Claudia verspürte wenig Lust, den Morgen in der mürrischen Gesellschaft der Wahrsagerin zu verbringen und beschloss, vor dem Frühstück noch ein wenig zu joggen.
Als sie in die Küche hinunterkam, hantierte Dolores bereits am Herd herum, doch sie war allein.
Von Manuel keine Spur.
„Guten Morgen“, sagte Claudia so freundlich wie möglich.
Madame Dolores sah kurz von der Arbeit auf. Ihr Blick erinnerte Claudia an den eines Raubvogels, der auf Beutezug war, bereit, sich den kleinsten Fehler seiner Opfer gnadenlos zu Nutze zu machen. Bei dem Gedanken bekam sie eine Gänsehaut.
„Willst du Kaffee?“, fragte Dolores knapp.
„Nein danke“, erwiderte Claudia. „Ich bin auf der Suche nach Manuel. Du weißt nicht zufällig, wo ich ihn finden kann?“
„Es ist mir ein Rätsel, welche Umstände deinen Ehemann zu so früher Stunde aus dem Bett treiben...“, meinte Dolores giftig. „Aber er sagte, er wolle einen Morgenlauf machen.“
„Wunderbar“, antwortete Claudia gespielt fröhlich, obwohl die gehässige Bemerkung sie ärgerte. „Genau das habe ich auch vor. Bis später!“
Schnell verließ sie das Haus.
Madame Dolores sah ihr finster nach.
„Miseria“, schimpfte sie leise vor sich hin. „Diese Frau ist nicht stark genug für meinen Sohn! Ich fürchte, er wird schon sehr bald wieder seine eigenen Wege gehen.“
*
Jill und Robyn blickten erstaunt von einem zum anderen.
„Kann uns bitte jemand erklären, worum es hier geht?“, erkundigte sich Jill schließlich neugierig.
„Ein guter Freund von uns ist in einen Mordprozess verwickelt“, erklärte Danielle. „Aber er ist natürlich unschuldig“, fügte sie schnell hinzu, als sie den entsetzten Blick ihrer Mutter sah. „Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, das ist alles.“
„Und nun muss sein Anwalt die Geschworenen und den Richter irgendwie davon überzeugen, dass sein Mandant die Tat nicht begangen hat, was nicht so einfach ist, ohne gängige Beweise“, ergänzte Matt, der beschlossen hatte, die Sache nicht länger zu bagatellisieren. „Momentan sieht es nicht besonders gut aus.“
Danielle sah ihn nachdenklich an.
„Ich dachte mir bereits, dass etwas nicht stimmt. Chelsea konnte noch nie besonders gut lügen.“
„Tut mir leid, aber es wäre mir einfach lieber gewesen, wenn sie die Sache vorerst gar nicht erwähnt hätte. Ich wollte nicht, dass du dich aufregst“, entschuldigte sich Matt sogleich, und sie nickte verständnisvoll.
„Ich werde mich nicht aufregen, versprochen. Ich muss nur die Gedanken in meinem Kopf sortieren, denn irgendwie fällt mir erst nach und nach alles wieder ein.“
Matt nahm ihre Hand.
„Kein Wunder, nach dem, was du durchgemacht hast“, sagte er mitfühlend. Jill nickte zustimmend.
„Dieser Mason hat dir übel mitgespielt, Kind“, meinte sie und maß Matt mit einem kurzen, prüfenden Blick. „Kaum zu glauben, dass er Ihr Zwillingsbruder ist.“
„Er war sein Zwillingsbruder, Mum“, verbesserte Danielle. „Er ist tot.“
Matt suchte Danielles Blick.
„Ja, er kann kein Unheil mehr anrichten. Zumindest nicht mehr als das, was er schon angerichtet hat.“
Während er Jill und Robyn kurz schilderte, wie es zu der Mordanklage gegen Randy gekommen war, saß Danielle in ihrem Krankenbett und hing ihren Gedanken nach.
Seitdem von Mason die Rede gewesen war, wurde sie plötzlich das seltsame Gefühl nicht los, als habe dieser in irgendeiner Form mit dem Mordprozess zu tun.
Aber inwiefern?
„Nicht zu glauben“, hörte sie ihre Mutter irgendwann sagen. „Dann hast du ja eine Zeitlang nie gewusst, wer von den beiden dir gerade gegenüberstand, Matt oder sein Bruder...“
Sie lauschte den Worten und schien plötzlich zu erstarren.
„Mum, Robyn, könnte ich bitte einen Augenblick allein mit Matt sprechen?“
„Natürlich, mein Kind“, erwiderte Jill mit verständnisvollem Lächeln und erhob sich sofort. „Komm Robyn, lassen wir die beiden für eine Weile allein und fahren erst einmal ins Hotel zurück. Wir schauen dann später noch einmal vorbei.“
Danielles jüngere Schwester folgte ihrer Mutter grinsend.
„Bis dann, Schwesterchen! Übernimm dich nicht, hörst du?“
„Robyn“, warnte Jill empört und schob ihre Jüngste energisch zur Tür hinaus.
Danielle wartete geduldig, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.
Mit ernster Miene bedeutete sie Matt, sich zu ihr aufs Bett zu setzen.
„Ich glaube, ich bekomme allmählich alles wieder auf die Reihe. Ich muss dir etwas Wichtiges erzählen! Erinnerst du dich, dass sich Mason an dem Abend, als Kims Vater ermordet wurde, am Pier mit mir treffen wollte?“
Matt nickte und hörte ihr gespannt zu.
„Er gab sich für dich aus und lud mich zu einem romantischen Spaziergang am Strand ein“, fuhr Danielle fort. „Nur bist du ihm an dem Abend zuvorgekommen, und er hat die ganze Zeit umsonst am Pier gewartet. Er saß in den Dünen, und von dort aus hat er alles gesehen, was wirklich mit Kims Vater geschehen ist. Später, als ich wusste, wer er war, versuchte er mich damit zu erpressen. Seine Aussage darüber, was wirklich an jenem Abend unter dem Pier geschehen ist, wollte er nur dann machen, wenn ich mit ihm zusammen Sunset City verlassen würde.“
Matt ballte die Fäuste.
„Dieser verdammte Mistkerl!“, brachte er wütend hervor. „Warum hast du mir nichts davon erzählt, Danielle?“
„Er drohte mir, wenn ich es dir erzählen würde, dann hätte Randy es zu büßen, denn dann würde er niemals aussagen. Er wusste inzwischen, dass er der einzige Zeuge war, der Randys Unschuld beweisen konnte.“
Matt legte kopfschüttelnd seine Hand auf Danielles Arm.
„Ich hoffe, ich kann irgendwann wieder gutmachen, was dieser Bastard dir angetan hat.“
„Du kannst doch nichts dafür, Matt“, erwiderte Danielle und griff nach seiner Hand „Dich trifft keine Schuld an dem, was passiert ist.“
Er küsste sie liebevoll auf die Stirn und sah sie an.
„Du solltest also mit ihm weggehen. Und was war dann?“
„Du bist mit mir zu deiner Hütte gefahren, und ich dachte, ich könnte mir bis zum Prozess in Ruhe überlegen, wie ich es schaffe, mit Mason fertigzuwerden, ohne Randy dabei zu schaden.“
„Doch dann hat Mason irgendwie erfahren, wo wir uns aufhalten und hat meine Abwesenheit genutzt, um dich aus der Hütte zu entführen“, spann Matt den Faden weiter. „Und nun ist er tot, der einzige Mensch, der Randys Unschuld hätte beweisen können! Verdammt...“ Er sprang auf und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. „Andrew hat keine Beweise. Der Staatsanwalt ist ein persönlicher Feind von ihm, und der Richter hat eine alte Rechnung mit ihm offen. Er kann die Sache drehen, wie er will, er wird es nicht schaffen, Randy freizubekommen!“
Danielle starrte vor sich hin.
Ihre Gedanken wanderten zurück zu jenem Tag, als sie in einem fremden Zimmer aufgewacht war, in das Mason sie gebracht hatte. Langsam wurde das Bild in ihrem Kopf immer klarer. Da war ein Brief gewesen, von Mason geschrieben. Sie sah sich durch das Zimmer taumeln, halb benommen von dem Mittel, das er ihr verabreicht hatte. Sie war auf der Suche nach irgendetwas gewesen… Schließlich hatte sie einen Zettel in einer der Schubladen gefunden, eine Bauanleitung... Sie hatte den Zettel mit dem Inhalt des Briefumschlages vertauscht...
Natürlich! Das war es!
*
Als Claudia nach einem kurzen schnellen Lauf die Strandpromenade erreichte, atmete sie erleichtert auf. Sie sog gierig die würzige frische Seeluft ein. Es schien ihr jedes Mal wie eine Erlösung, wenn sie die Tür des Cortez-Hauses hinter sich schloss. Manchmal glaubte sie in Anwesenheit von Manuels Mutter keine Luft zu bekommen. Sie konnte sich noch immer nicht erklären, warum Dolores sie derart ablehnend behandelte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es vielleicht einen Zusammenhang gab zwischen dem Hass ihrer Schwiegermutter und jenen Geschehnissen, die Manuel damals vor Jahren aus dem Haus getrieben hatten. Aber mit ihm selbst konnte sie nicht darüber reden, er blockte jedes Mal sofort ab, wenn sie auf das Thema zu sprechen kam.
Überhaupt verhielt er sich in der letzten Zeit irgendwie merkwürdig und wurde mit jedem Tag stiller und verschlossener. Es schien fast so, als habe er seit der Ankunft hier in Sunset City allmählich seine Fröhlichkeit verloren, sein Lachen, seine Offenheit, sein ganzes heiteres Wesen, Eigenschaften, die sie so sehr an ihm schätzte und für die sie ihn liebte. Manchmal erschien er ihr fast wie ein Fremder, und das machte ihr Angst.
Es wurde Zeit, dass sie den Job hier zu Ende führten und nach Hause zurückkehrten.
Während Claudia weiter mit leichten Schritten den Strand entlanglief, stellte sie zu ihrem Erstaunen fest, dass ihr der Gedanke, wieder von hier wegzugehen, trotz allem ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend verursachte. Die Arbeit bereitete ihr Freude und sie hatte während ihres Aufenthaltes bereits einige nette Leute kennengelernt. Sunset City war so anders als die unpersönliche Millionenstadt San Francisco. Das Kleinstadtleben gefiel ihr. Sie konnte sich durchaus vorstellen, mit Manuel hier zu leben. Natürlich nicht im Haus seiner Mutter, das auf gar keinen Fall! Aber mit dem Gedanken an ein eigenes, kleines Häuschen am Meer hätte sie sich mittlerweile anfreunden können.
Und dann war da auch noch... Stefano!
Ein wohliger Schauer durchfuhr sie, wenn sie an letzte Nacht dachte und daran, wie er sie angesehen hatte, als sie so plötzlich vor seinem Bett stand...
„Was soll denn das, Claudia“, schalt sie sich verärgert. „Er ist dein Schwager!“
Sie war fast am Ende der Strandpromenade angekommen, als sie Manuel endlich erblickte. Sie winkte ihm zu, doch er schien sie nicht zu bemerken. Langsam ging sie näher und folgte mit den Augen neugierig seinem Blick, der starr in eine bestimmte Richtung zu gehen schien, aber sie konnte dort außer einer unscheinbaren kleinen Kirche hinter den letzten Häusern nichts Außergewöhnliches entdecken, was seine Aufmerksamkeit hätte derart fesseln können.
Bevor sie ihn jedoch rufen konnte, lief Manuel los, erst langsam und zögernd, dann immer schneller.
Schweratmend blieb Claudia einen Moment lang stehen und beobachtete erstaunt, wie er tatsächlich auf die Kirche zuging. Irritiert sah sie ihm nach, bevor sie ihm schließlich folgte.
Was wollte ihr Mann in einem solchen Gebäude? Bisher hatte er alles, was auch nur im Entferntesten mit religiösen Dingen zu tun hatte, strikt abgelehnt. Nicht einmal kirchlich geheiratet hatten sie, obwohl Claudia das gerne getan hätte. Aber Manuel war nicht zu bewegen gewesen, eine Kirche auch nur zu betreten.
Und nun?
Sie beobachtete, wie er die schwere Eichentür öffnete und eintrat.
Claudia zögerte. Eine eigenartige Unruhe überkam sie und ließ sie trotz der schon angenehmen Temperaturen frösteln. Dieses ungute Gefühl trieb sie vorwärts.
Schließlich stand sie vor der Kirchentür und trat leise ein.
Drinnen war es angenehm kühl. Allmählich gewöhnten sich Claudias Augen an die Dunkelheit in der Sakristei. Sie sah sich um. Die Kirche war mit derben Holzbänken ausgestattet, und selbst der Altar wies außer zahlreichen Kerzen nur wenig Prunk auf. Lediglich ein großes vergoldetes Jesuskreuz zierte die Wand hinter der Kanzel.
Ein Duft von Weihrauch lag in der Luft, und die hohen Fenster aus buntem Glas, durch die sich die Strahlen der Morgensonne brachen, tauchten den Raum in ein geheimnisvolles, aber gleichzeitig irgendwie beruhigendes Licht.
Claudia war die einzige Besucherin zu dieser relativ frühen Stunde.
Aber nein... Manuel musste ja auch hier irgendwo sein!
Sie ging langsam den Gang zwischen den Holzbänken entlang nach vorn zum Altar, als sie ihn endlich sah. Er zündete eine Kerze an und sprach etwas. Als sie näherkam, hörte sie, dass es ein Gebet war, welches er fließend in lateinischer Sprache aufsagte. Er war so vertieft in sein Gebet, dass er sie nicht bemerkte. Erst in dem Augenblick, als sie behutsam ihre Hand auf seinen Arm legte, fuhr er erschrocken zusammen und sah sie an. Erstaunt bemerkte Claudia diesen merkwürdigen Ausdruck in seinen Augen. Er sah absolut zufrieden aus, und ein glückseliges Lächeln umspielte seine Lippen.
„Was tust du hier?“, fragte Claudia leise.
„Hier war einst mein wahres Zuhause“, erwiderte er, und sein Blick wanderte an ihr vorbei in die Vergangenheit. „Ich verbrachte jeden Tag hier und war fest davon überzeugt, dass dies meine Berufung sei.“
„Was für eine Berufung, Manuel?“ Verständnislos zog Claudia die Augenbrauen zusammen.
„Der Kirche zu dienen und Priester zu werden, genau wie mein Vater“, erklärte er leise.
„Priester?“, rief Claudia entsetzt, dämpfte jedoch schnell ihre Stimme, die in dem großen Gewölbe widerhallte. „Ja aber... ich dachte immer, du hältst nichts von kirchlichen Dingen.“
„Doch, sehr viel sogar. Sie haben lange Zeit mein Leben bestimmt.“ Er senkte den Kopf und ein bitterer Zug umspielte seine Lippen. „Bis zu dem Tag, als...“
„Als was?“, fragte Claudia atemlos.
Er hob den Blick und sah sie an. Es war, als ob er aus einem Traum erwachen würde.
„Lassen wir die Vergangenheit ruhen, Claudia“, sagte er leise. „Komm, wir gehen zurück.“
„Warte“, rief sie und hielt ihn am Arm fest, als er sich zum Gehen wandte. „Ich möchte, dass du mir endlich erzählst, was damals passiert ist.“
„Nicht jetzt“, erwiderte er mit belegter Stimme.
„Wann dann, Manuel?“ Claudia sah ihren Mann mit großen Augen an. „Ich weiß überhaupt nichts von deiner Vergangenheit! Wenn ich dich danach frage, blockst du ab. Du hast dich verändert, seit wir hier sind! Bitte...“ Sie ergriff seine Schultern und zwang ihn, sie anzusehen. „Rede mit mir!“
„Vielleicht später“, sagte er und schob sie abrupt von sich. „Wir müssen zur Baustelle, es ist schon spät.“
Damit ging er zum Ausgang. Claudia sah ihm verständnislos hinterher, bevor sie ihm schließlich zögernd folgte.
Draußen, im hellen Licht der Morgensonne, blieb er stehen und legte versöhnlich seinen Arm um ihre Schultern. „Irgendwann werde ich dir alles erzählen, wenn ich bereit dazu bin. Vertrau mir!“
*
„Der Brief, das war… Masons Aussage!“
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Danielle Matt an.
„Was meinst du?“, fragte er verständnislos.
„Wie ich dir vorhin bereits erzählte, hat Mason an jenem Abend von den Dünen aus beobachtet, was unter dem Pier geschah. Er hat alles genau aufgeschrieben, gewissermaßen eine schriftliche Zeugenaussage, die Randys Unschuld in vollem Umfang beweist und bestätigt. Als ich mich dann nach der Entführung in seiner Gewalt befand, sagte er, er würde mit mir zusammen nach Europa verschwinden, so, wie er das damals mit Marina getan hatte. Er versprach mir, dass er den Brief an die zuständigen Behörden abschicken würde, sobald wir am Flughafen eingecheckt hätten und ich mich während unserer Abreise entsprechend kooperativ verhalten hätte.“ Danielle atmete tief durch. „Matt, ich habe den Inhalt des Briefes heimlich ausgetauscht und das Original versteckt. Unter der Matratze, in dem Zimmer, in dem ihr mich gefunden habt!“
Matt brauchte eine Sekunde, um das eben Gehörte zu verarbeiten.
„Bist du sicher? Danielle, wenn das wahr wäre...“
Sie fasste nach seiner Hand.
„Glaub mir, ich habe das nicht geträumt. Es ist wahr. Ich erinnere mich wieder genau.“
Er nahm ihr Gesicht vorsichtig zwischen seine Hände und küsste sie dann stürmisch auf den Mund.
„Das könnte der entscheidende Beweis sein, den wir so dringend brauchen!“
Sie lächelte etwas erschöpft und schob ihn sanft von sich.
„Worauf wartest du, Matt? Nun geh schon, du musst dich beeilen! Hol den Brief und lege ihn dem Richter vor, bevor sie Randy zu Unrecht verurteilen!“