„He, aufwachen! Los, nun mach schon, schwing endlich deinen gottverdammten Hintern aus den Federn!“ Ungeduldig rüttelte Bobby Brendon an der Schulter.
„Was ist denn los?“, knurrte der nur und drehte sich auf die andere Seite.
Bobby trat wütend gegen das Bettgestell, worauf Brendon erschrocken hochfuhr.
Verwirrt starrte er den Eindringling an.
„Was machst du hier? Wie kommst du in mein Hotelzimmer?“, fragte er zerknirscht und fasste sich gleich darauf stöhnend an die Stirn. „Mann, brummt mir der Schädel!“
„Saufen wie die Großen, aber nichts vertragen können“, höhnte Bobby und zog ihm mit einem Ruck die Decke weg. „Die Zimmertür war offen, deshalb bin ich hier. Und ich habe gute Neuigkeiten. Heute Abend ist er dran.“
„Wer?“, fragte Brendon begriffsstutzig.
„Capwell, wer denn sonst, Schwachkopf!“
Brendon stand auf und wankte, sich immer noch den Kopf haltend, zum Bad hinüber.
„Nie wieder trinke ich Tequila“, murmelte er und knallte die Tür hinter sich zu.
Bobby sah sich rasch um. Auf dem Nachttisch entdeckte er Brendons Brieftasche. Mit flinken Fingern öffnete und durchsuchte er sie. Er fand zwei Einhundert- Dollarscheine, von denen er den einen blitzschnell in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Zufrieden grinsend setzte er sich danach in den Sessel, legte die Beine auf dem Tisch und wartete, bis sein neuer Freund aus dem Badezimmer kam.
„Na endlich“, knurrte er. „Geht's wieder?“
„Nicht wirklich“, stöhnte Brendon. „Ich glaube, ich kann heute niemandem eine Lektion erteilen, ohne dabei in die Knie zu gehen. Lass uns das Ganze auf ein anderes Mal verschieben, okay?“
Bobby sprang auf.
„Wer hat denn gesagt, dass wir uns selbst die Finger schmutzig machen müssen, he? Ein paar Kumpels von mir sind ganz heiß darauf, zur Abwechslung mal wieder jemanden ordentlich aufzumischen. Für ein paar Dollar tun die alles.“
Brendon sah ihn skeptisch an.
„Ich weiß nicht...“
„Nun komm schon, rück ein bisschen Bares raus. Wir legen zusammen, und ich erledige den Rest. Er hat dich geschlagen und vor deiner Süßen blamiert, schon vergessen?“
Zögernd nahm Brendon seine Brieftasche und suchte darin herum.
„Ich hätte wetten können...“, murmelte er und schüttelte den Kopf.
„Irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte Bobby scheinheilig.
„Nein, ich bin anscheinend noch nicht richtig fit im Kopf. Wieviel brauchst du?“
„Hundert müssten reichen.“ Bobby zog den gestohlenen Schein aus seiner Hosentasche und wedelte damit vor Brendons Nase herum. „Und von mir die andere Hälfte.“
„Zweihundert Dollar? He Mann, die sollen ihn doch nicht umbringen, sondern nur ein paar Schläge verpassen!“
„Mann, das sind Profis, auf die kannst du dich verlassen. Da kriegst du richtig was geboten für dein Geld“, lachte Bobby böse und schnappte sich den Geldschein. „Kommst du mit?“
„Ich bleibe lieber hier, mir geht’s nicht so gut“, meinte der nur verdrossen und warf sich wieder aufs Bett. „Erzähl mir morgen, wie es gelaufen ist.“
„Okay, ganz wie du willst.“
Mit einem verschlagenen Grinsen verließ Bobby das Hotelzimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
*
Leicht gedimmtes Licht, angenehme Musik im Hintergrund und helle, freundliche Räume mit zahlreichen, geschmackvoll angeordneten Grünpflanzenarrangements empfing die Gäste des YACHT CLUB. Das exquisite Ambiente, die auserlesene Dekoration und das Publikum in diesem Nobelrestaurant schienen absolut perfekt aufeinander abgestimmt. Hier wurde nichts dem Zufall überlassen, alles war ausnahmslos vom Feinsten. Hatte man einmal an den in makellos cremefarbenem Damast eingedeckten Tischen bei Kerzenlicht Platz genommen, fühlte man sich beinahe wie ein König, denn das hervorragend geschulte, freundliche Personal schien seinen Gästen jeden Wunsch förmlich von den Augen abzulesen.
Danielle sah sich staunend um, als sie mit Matt eintrat.
Sofort eilte Gaston, der Chefkellner, auf sie zu und begrüßte beide überaus zuvorkommend, bevor er sie dienstbeflissen zum Firmentisch der H&S ENTERPRISES geleitete.
Edward war bereits anwesend, aber an seiner Seite saß nicht, wie erwartet, Sophia, sondern seine Tochter Caroline.
Sobald er die Neuankömmlinge bemerkte, erhob er sich galant von seinem Platz und hieß beide überaus freundlich willkommen.
„Miss Belling, ich freue mich außerordentlich, Sie wiederzusehen.“
Sie nickte dankend und erwiderte sein Lächeln.
„Nehmen Sie Platz, meine Liebe!“ Charmant rückte er ihr den Stuhl neben Caroline zurecht. „Darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen? - Caroline, das ist Danielle Belling, eine sehr gute Freundin von Matt.“
Die beiden jungen Frauen begrüßten einander, bevor Edward Danielle auch mit den übrigen Gästen bekannt machte.
„Manuel und Claudia Cortez von unserem Archäologen-Team, auf dessen Hilfe und Unterstützung wir schon sehnsüchtig gewartet haben“ sagte er mit einem scheinheiligen Lächeln, das nur Matt durchschaute.
`Heuchler!`, dachte er, denn er hatte noch lebhaft die endlosen Diskussionen in Erinnerung, in denen sich sein Geschäftspartner permanent gegen den Einsatz der Spezialisten gesträubt hatte. Doch Matt war Profi genug, um sich in dieser Situation nichts davon anmerken zu lassen. Freundlich lächelnd reichte er allen Anwesenden die Hand, während man sich am Tisch darauf einigte, sich gegenseitig beim Vornamen zu nennen.
„Matt Shelton, so sieht man sich wieder“, begrüßte Manuel seinen ehemaligen Schwager.
„Wer hätte gedacht, dass es dich jemals in diese Stadt zurückziehen würde“, erwiderte Matt und nahm neben Danielle Platz. „Wie lange ist es jetzt her, seit es dich in die weite Welt verschlagen hat?“
Manuel überlegte kurz.
„Ziemlich genau vier Jahre. In dieser Zeit habe ich mein Studium abgeschlossen und meine Frau Claudia kennengelernt.“ Bedeutungsvoll legte er den Arm um seine smarte junge Begleiterin. „Letztes Jahr haben wir in Santa Barbara geheiratet.“
„Und was sagt Ihre Mutter, dass Sie endlich wieder hier sind, noch dazu glücklich verheiratet?“, erkundigte sich Edward interessiert.
„Ich hoffe, sie freut sich für uns“, erwiderte Manuel mit einem kurzen Seitenblick auf Claudia, die dem Gespräch aufmerksam folgte. „Wir werden sie morgen aufsuchen, und bei dieser Gelegenheit möchte ich ihr meine Frau vorstellen.“
„Dann kennen Ihre Schwiegermutter noch gar nicht?“, wandte sich Caroline erstaunt an Manuels Ehefrau.
Claudia Cortez schüttelte den Kopf.
„Nein, bisher hatte ich noch nicht das Vergnügen.“
„Dann sollten Sie sich in acht nehmen, meine Liebe“, schmunzelte Caroline augenzwinkernd. „Ich weiß nicht, ob Manuel Ihnen verraten hat, dass Dolores Cortez eine sehr bekannte Wahrsagerin ist, auf deren Voraussagen viele Leute in dieser Stadt großen Wert legen. Ein Blick in die Kristallkugel und Ihre gesamte Zukunft liegt offen vor Ihnen.“
Alle am Tisch lachten, auch wenn Claudias Lächeln in diesem Moment etwas aufgesetzt wirkte.
Danielle konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die junge Frau der ersten Begegnung mit ihrer Schwiegermutter nicht sehr optimistisch entgegensah, und obwohl sie selbst diese Madame Dolores gar nicht kannte, verspürte sie irgendwie ein wenig Mitleid mit Claudia.
Heimlich betrachtete sie Manuels Gesicht, konnte jedoch nicht viel Ähnlichkeit mit seiner Schwester entdecken. Warum war er wohl vor so langer Zeit von Sunset City weggegangen? Und was noch interessanter war: Warum war er in den vergangenen Jahren anscheinend nicht ein einziges Mal zu Hause gewesen, und hatte seine junge Frau noch nicht einmal seiner Familie vorgestellt? Obwohl das Paar bereits heute Morgen hier angekommen war, schienen die familiären Bindungen Manuel Cortez nicht sonderlich zu interessieren. Was wohl der Grund dafür war? Hatte Marina vielleicht damit zu tun?
Marina Cortez-Shelton… Eigenartig, wohin Danielle auch kam, überall schien Matts Ex-Frau gegenwärtig zu sein, ob persönlich, im Gespräch, oder einfach in ihren Gedanken, und irgendwie fühlte sie sich dabei zunehmend unbehaglich.
Als hätte Matt ihre Gedanken gespürt, griff er unauffällig nach ihrer Hand und beugte sich zu ihr herüber.
„Gefällt es dir hier?“
„Ja“, nickte sie und lächelte. „Ein fantastisches Restaurant.“
In diesem Moment erhob Edward sein Glas in Richtung seiner drei Gäste.
„Liebe Freunde, ich freue mich außerordentlich, dass Sie heute unserer Einladung gefolgt sind. Matt und ich werden alles tun, um Ihnen den Aufenthalt hier in Sunset City, sowie die Arbeit an den Strandhöhlen im Rahmen unseres Bauprojektes so angenehm wie möglich zu gestalten. Lassen Sie uns also gemeinsam anstoßen auf unser Ferienprojekt und eine gute und vor allem erfolgreiche Zusammenarbeit!“
Nach diesem kurzen Trinkspruch winkte er dem Kellner.
„Sie können jetzt das Essen servieren.“
*
Ungeduldig verharrte Mason am Fuße der Treppe, die hinauf zum Pier führte und sah zum wiederholten Male auf seine Uhr.
`Verdammt, wo bleibt sie nur so lange`, dachte er gereizt. Die Sonne stand bereits ziemlich tief und würde bald hinter dem Horizont verschwunden sein...
Himmel und Meer zeigten sich währenddessen in den schönsten Farben. Überall am Strand blieben die Menschen stehen, um diesem einmaligen Spektakel zuzusehen, dass sich zwar jeden Abend wiederholte, aber dennoch nie dasselbe zu sein schien.
Doch Mason hatte dafür keinen Blick. Immer wieder schaute er sich suchend um, aber die, auf die er so ungeduldig wartete, tauchte nicht auf.
`Vielleicht hat sie mich missverstanden und wartet bereits oben auf dem Pier auf mich`, dachte er schließlich und eilte mit langen Schritten die Stufen hinauf.
Auf dem Pier waren um diese Zeit Scharen von Urlaubern unterwegs, um den Sonnenuntergang zu erleben, auf sich wirken zu lassen oder das Naturspektakel bestmöglich in Foto und Video festzuhalten. Aber auch hier, zwischen diesen unzähligen, fremden Menschen konnte er Danielle nirgends entdecken.
Mit einem unwilligen Blick zur Uhr ließ er sich schließlich auf einer der Bänke nieder.
Während er dort saß und wartete, gab er ein ungewöhnlich attraktives Erscheinungsbild ab: schlank und sportlich, in seiner schwarzen Designerjeans und dem gleichfarbigen Hemd, dessen Ärmel er lässig aufgekrempelt hatte. Einige Strähnen seines modisch geschnittenen schwarzglänzenden Haares fielen ihm in die Stirn und lenkten den Blick unweigerlich auf seine dunklen Augen, die unauffällig die Passanten auf dem Pier beobachteten.
Nicht wenige der vorübergehenden Touristinnen bedachten ihn mit interessierten Blicken, sich insgeheim wünschend, er möge sie vielleicht bemerken, doch es schien, als würde Mason seine Umwelt gar nicht wahrnehmen.
Warum kam sie nicht zum verabredeten Treffpunkt? Ahnte sie vielleicht irgendwas? Hatte er sie verunsichert?
Von einer Frau versetzt zu werden, war er nicht gewohnt. Und so grübelte er, was der Grund für ihr Ausbleiben sein könnte.
Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden und Danielle immer noch nicht aufgetaucht war, stand er schließlich auf und ging hinüber zum Geländer. Missmutig starrte er hinunter auf die Wellen, die unablässig gegen die dicken Holzstreben unter der Brücke schlugen.
`Tja alter Junge, das war wohl nichts!`, dachte er und warf die langstielige rote Rose, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, frustriert ins Wasser.
Dann schlenderte er zurück zum Strand, kletterte hinauf in die Dünen und setzte sich dort in den Sand. Von hier aus konnte er den Treppenaufgang, sowie einen großen Teil des Piers und den davor befindlichen Strand überblicken, ohne selbst sofort entdeckt zu werden. Sollte sie doch noch auftauchen, würde er sie sofort sehen.
Er riss einen Grashalm ab und begann gedankenversunken darauf herum zu kauen.
„Du entkommst mir nicht, Dani, ich kriege dich schon noch“, knurrte er und grinste voller böser Zuversicht, während die Dämmerung unaufhaltsam über die Küstenregion hereinbrach.
*
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie er ist, wenn er getrunken hat! Er ist so unglaublich bösartig und gemein...“, schluchzte Kim. Randy hielt sie im Arm und strich beruhigend über ihr blondes Haar. Seit einer halben Stunde saßen sie beide dicht aneinander gekuschelt in Kims kleinem Zimmer. Nach und nach hatte sie ihm alles erzählt, was heute Mittag vorgefallen war. Sie barg ihren Kopf an seiner Brust, während sie mit einer Hand ein Kühlpad auf ihr blau angelaufenes geschwollenes Auge drückte.
„Eines verstehe ich nicht“, meinte Randy nach einer Weile. „Wieso will er dich unbedingt wieder nach Hause holen, anstatt froh zu sein, wenn ein Esser weniger der Familie zur Last fällt und deine Eltern sowieso jeden Cent für ihre Trinkerei ausgeben! So, wie sie dich behandelt haben, könnte es Ihnen im Grunde doch egal sein, was aus dir wird!“
Kim löste sich aus Randys Armen und sah ihn mit großen Augen an.
„Es gibt einen Grund dafür.“
„Und welchen?“, fragte Randy gespannt, doch Kim schüttelte den Kopf.
„Ich kann nicht darüber reden.“
Randy nahm sacht ihr blasses, schmales Gesicht zwischen seine Hände und zwang sie, ihn anzusehen.
„Bitte Kim, vertrau mir! Nur so kann ich dir helfen. Erzähl mir, was passiert ist!“
Kim starrte auf die gegenüberliegende Zimmerwand und schien mit ihren Gedanken meilenweit weg zu sein. Dann, nach einer ganzen Weile, begann sie leise zu erzählen:
„Die Prügel, das Chaos zu Hause, und die endlosen Zankereien zwischen meiner Mutter und meinem Stiefvater hätte ich ja vielleicht noch bis zu meiner Volljährigkeit ertragen können. Doch irgendwann starb Mom`s Schwester. Die beiden haben sich zwar nie besonders gut verstanden, aber aus irgendeinem Grund vererbte sie meiner Mutter alles, was sie besaß - ein Bordell. Mein Stiefvater war hell begeistert und witterte sofort die Chance, das große Geld zu verdienen. Leider verstand er rein gar nichts vom Geschäft, und binnen weniger Wochen hatte er fast alles in den Sand gesetzt. Die Mädchen weigerten sich, weiter für ihn zu arbeiten und liefen ihm davon. Und so kam er auf die Idee, dass ich... Na ja, du weißt schon, ich sollte... für die Familie anschaffen gehen. Und genau das ist der Grund, weshalb ich überhaupt weggelaufen bin und warum er mich unbedingt zurückholen will.“
Randy sprang auf.
„Dieses Schwein!“, schrie er. „Wenn ich ihn finde, bringe ich ihn um!“
Wutentbrannt stürzte er zur Tür.
Kim lief ihm nach. Zitternd griff sie nach seiner Hand.
„Was hast du vor? Bitte bleib hier!“
Er umfasste ihre Schultern und sah ihr in die Augen.
„Du bist hier sicher, Kim. Und ich verspreche dir, du brauchst nie wieder Angst vor deinem Stiefvater zu haben. Ich werde mit ihm reden und dafür sorgen, dass er die Stadt verlässt... für immer!“ Damit drehte er sich um und stürmte hinaus.
„Randy, wo willst du hin?“, rief ihm Kim entsetzt hinterher. „Mit meinem Stiefvater kann man nicht vernünftig reden! Bitte, bleib hier!“
Doch er hörte sie schon nicht mehr.
*
Roger Thorne hatte in einer kleinen verräucherten Hafenkneipe seinen Ärger über Kim und den unerwarteten Auftritt ihrer mütterlichen Freundin mit reichlich billigem Fusel hinuntergespült.
„Ich werde jetzt hingehen und das missratene Balg dort herausholen. Dieses Miststück von einer Wirtin wird mich nicht daran hindern“, knurrte er wütend, während er das letzte Glas in einem Zug leerte. Er schob dem Barkeeper einen zerknitterten Schein über die Theke und wankte hinaus.
Draußen sah er sich unsicher um.
Es war inzwischen schon fast dunkel und sein vom Alkohol benebeltes Gehirn ließ kaum noch eine Orientierung zu.
„Am Strand entlang ist gut...“, lallte er vor sich hin. „Dieses Haus, dieser verdammte Café-Shop, der war nicht weit davon entfernt... Also los!“
Er tappte unterhalb der Dünen am Wasser entlang, in Richtung Pier. Langsam wurde sein Kopf etwas klarer.
„Die komische Brücke da... hicks... Da muss ich durch, dahinter muss es sein.... Na warte, Kimmy... hicks... Morgen bist du wieder da, wo du hingehörst, du dämliches verkommenes Gör! Und dann… hicks… dann zeigt dir der alte Roger, wo künftig der Weg für dich langführt…“
Als er unter dem Pier mit den dicken Holzpfeilern entlangging, hatte er sich an die frische, klare Luft gewöhnt und sein Gang verriet kaum noch, dass er fast so viel Alkohol wie Blut in den Adern hatte. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, während seine Augen unablässig geradeaus stierten, angetrieben und beseelt von dem einen Gedanken, seine Stieftochter gewaltsam nach Hause zu holen.
Er merkte nicht, dass sich hinter ihm plötzlich in der hereinbrechenden Dunkelheit zwei Gestalten aus dem Schatten der Brückenpfeiler lösten und zielstrebig auf ihn zukamen. Fast lautlos und wie aus dem Nichts tauchten sie links und rechts neben ihm auf.
Erschrocken sah er hoch.
Starke Arme ergriffen ihn und zogen ihn blitzschnell aus dem fahlen Lichtschein der Strandlaternen in die Dunkelheit.
„He, was zum Henker...“, begann er zu protestieren, als ihn auch schon der erste Schlag traf, unerwartet und hammerhart. Mit einem Röcheln sackte er in die Knie, doch schon der nächste gnadenlose Schlag hob ihn wieder hoch. Er taumelte rückwärts und während er nach hinten fiel, hatte er plötzlich das Gefühl, irgendetwas Gewaltiges hieb mit übermächtiger Wucht auf seinen Hinterkopf und schien diesen zu zersprengen.
Bruchteile von Sekunden später herrschte ewige Nacht um ihn herum...
*
Danielle hatte nach dem Essen den Waschraum aufgesucht, um sich etwas frisch zu machen, als die Tür aufging und Caroline hereinkam. Mit einem Lächeln nahm sie auf einem der mit edlem Samt überzogenen Hocker vor der großzügig verspiegelten Wand Platz, zog einen Kamm aus ihrer eleganten Clutch und begann ihr langes blondes Haar zu ordnen.
„Ein schöner Abend, finden Sie nicht auch?“, fragte sie und warf Danielle einen prüfenden Blick zu.
Diese nickte.
„Ja, Ihr Vater ist ein guter Gastgeber.“
„Das stimmt“, seufzte Caroline. „Trotzdem hätte ich den Abend lieber mit meinem neuen Freund verbracht, als hier herumzusitzen und mir Geschäftsgespräche anzuhören.“
„Begleiten Sie Ihren Vater öfter zu solchen Anlässen?“, erkundigte sich Danielle beiläufig.
Caroline schüttelte den Kopf.
„Nein, glücklicherweise nicht. Aber heute musste ich meine Mom vertreten. Sie ist... verhindert.“ Sie ließ den Kamm sinken und sah Danielle interessiert an. „Sie sind sehr hübsch“, sagte sie geradeheraus. „Darf ich Sie etwas fragen?“
„Natürlich, nur zu.“
„Wo haben Sie und Matt sich kennengelernt?“
„Achttausend Meilen über dem Meer, auf einem Flug von Tokio nach Los Angeles.“
Caroline sah überrascht aus.
„Saßen Sie neben ihm?“
„Ich war Flugbegleiterin bei Blue Sky Airlines“, erklärte Danielle. „Es war unser letzter Flug, bevor die Gesellschaft in den Konkurs ging.“
„Dann war es also Liebe auf den ersten Blick?“, rief Caroline fasziniert. „Wie romantisch! Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass Matt, nach allem, was passiert ist, doch noch so ein Romantiker ist.“
„Wieso?“, fragte Danielle erstaunt.
„Na ja.“ Caroline spielte etwas nervös mit dem Kamm in ihrer Hand. „Er und Marina, seine Ex- Frau, sie waren so verliebt ineinander, ein richtiges Traumpaar. Ich selbst war damals fast noch ein Kind, als die beiden heirateten, und ich habe Marina immer heimlich beneidet und insgeheim gehofft, dass ich auch irgendwann einmal einen Mann finde, der mich so bedingungslos liebt. Aber als sie ihn dann verlassen hat, da war Matt plötzlich total verändert. Daddy sagte immer, Marina hätte ihm das Herz gebrochen, und er würde nie mehr eine Frau so lieben wie sie…“ Erschrocken hielt sie inne und sah Danielle schuldbewusst an. „Entschuldigen Sie bitte, ich hätte das nicht sagen sollen! Das war dumm von mir.“
Obwohl Danielle diese unbedachten Worte getroffen hatten, ließ sie sich nichts anmerken, denn sie spürte, dass Caroline ihr damit nicht absichtlich hatte wehtun wollen.
„Kein Problem. Matt hat mir von Marina erzählt. Und ich habe sie auch kürzlich schon kennengelernt.“
„Marina? Sie ist zurück in Sunset City?“ Caroline blieb glatt der Mund offen stehen.
Danielle lachte.
„Ja, sieht ganz so aus, als wäre die Familie Cortez nun wieder vollzählig hier in der Stadt“ Sie stand auf und griff nach ihrer winzigen Handtasche. „Ich glaube, wir sollten zurückgehen.“
Caroline nickte und erhob sich ebenfalls. Beim Hinausgehen griff sie spontan nach Danielles Arm.
„Danielle... Sie und Matt, Sie beide passen wirklich gut zusammen. Und wie er Sie immerzu ansieht... Wissen Sie, mein Dad irrt sich zwar selten, aber in dem Fall hatte er unrecht. Ich bin sicher, Matt ist wahnsinnig verliebt in Sie!“
*
Wutentbrannt verließ Randy den Café-Shop und lief am Strand entlang nach Hause. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Konnten Eltern ihren Kindern wirklich so etwas antun? Arme Kim, kein Wunder, dass sie weggelaufen war!
Mit dem Wunsch, Roger Thorne zu finden und den widerlichen Kerl irgendwie zur Rechenschaft zu ziehen, war er vor einer halben Stunde total überstürzt aufgebrochen, aber mittlerweile schien ihm dieser Gedanke ziemlich absurd. Er wusste ja noch nicht einmal, wie Kims Stiefvater überhaupt aussah, ganz zu schweigen davon, wo dieser sich momentan aufhielt.
Er blieb stehen und überlegte, ob er stattdessen zurückgehen und Kim vielleicht irgendwohin bringen sollte, wo Roger Thorne sie nicht finden konnte.
Aber wohin? Wieder zu Mitch? Dort war kein Platz, und außerdem würde Thorne sie dort genauso schnell finden wie anderswo.
„Verdammt...“ Er stand da und wusste nicht, was er tun sollte.
Verzweifelt fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar und ging langsam weiter. Er musste dringend mit jemandem reden. Vielleicht hatten ja Mitch oder Luke eine Idee, wie man Kim helfen könnte.
Plötzlich fiel ihm Matt ein, sein Freund und Beschützer, der ihm damals geholfen hatte, als er, genau wie Kim, mit siebzehn Jahren nach Sunset City kam, allein, ohne einen Cent in der Tasche und auf der Flucht vor den Leuten, die ihn um jeden Preis zurück in das Waisenhaus bringen wollten, in dem er fast seine gesamte, trostlose Kindheit verbracht hatte.
Matt Shelton hatte ihn bei sich aufgenommen und ihm einen Job im Internetcafé besorgt. Er hatte sich sogar für ihn verbürgt, als ihn das Jugendamt schließlich doch ausfindig gemacht hatte. Durch Matt lernte er Mitch kennen, der ihm später ein Zimmer in seinem Haus anbot.
Randy lächelte versonnen.
Er hatte niemandem vertraut, als er herkam, doch er hatte wider Erwarten Menschen gefunden, die ihm halfen, und die heute seine besten Freunde waren. Er hatte etwas aus sich gemacht, nicht zuletzt, um diese Freunde nicht zu enttäuschen und sich selbst zu beweisen, dass er sein Leben in den Griff bekam.
Kim würde das auch schaffen, und er würde ihr dabei helfen. Sie verdiente diese Chance, genau wie er vor fünf Jahren.
Oh ja, er würde Matt aufsuchen und ihn um Rat fragen.
Kurz vor dem Pier, als er gerade in Richtung Strandpromenade abbiegen wollte, sah er Bruchteile von Sekunden lang zwei Gestalten unter der Brücke, die dunklen Schatten gleich zwischen den Holzpfeilern in der Dämmerung verschwanden.
`Sicher Landstreicher, die nach einer Schlafgelegenheit suchen`, dachte er arglos und wollte schon weitergehen, als er etwas hinter der Treppe am Fuße der Brücke liegen sah.
Neugierig trat er näher heran – und erstarrte.
Da lag ein Mann, reglos und merkwürdig zusammengekrümmt, und Randy blickte im fahlen Schein des Mondlichts in zwei leere, gebrochene Augen...
*
Los Angeles
Kelly hatte Sophia am Abend in eines der exquisiten Nobelrestaurants geführt, in denen sie regelmäßig verkehrte. Während sich beide durch die teure Speisekarte schlemmten, ohne wie gewöhnlich auf Figur und Kalorien zu achten, schwelgten sie in alten Zeiten, scherzten und lachten ausgelassen.
„Ganz gleich, welcher Art deine Probleme sind, heute lassen wir sie zu Hause und lösen sie morgen“, hatte Kelly vorgeschlagen. Sophia war nur zu gern auf dieses Angebot eingegangen. Einen Abend lang wollte sie so tun, als sei ihre Welt in bester Ordnung.
Die beiden Frauen waren soeben bei der Auswahl ihres Desserts angelangt, als ein elegant gekleideter, gut aussehender Mann an ihrem Tisch vorüberging. Er stutzte einen Moment und blieb dann stehen.
„Kelly! Wie schön, Sie zu sehen, meine Liebe“, sagte er betont liebenswürdig und bedachte die Designerin mit einem höflichen Lächeln. „Darf ich die Gelegenheit nutzen und Ihnen zu Ihrer gelungenen Modenschau vom vergangenen Wochenende gratulieren?“
Kelly zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
„Sie... gratulieren mir? Was sagt man dazu!“
„Nun, es schadet ja nichts, wenn man der Konkurrenz gelegentlich seine Anerkennung ausspricht, damit sie nicht ganz die Mut verliert“, erwiderte er mit einem charmanten, aber gleichzeitig süffisanten Grinsen.
„Wie überaus freundlich“, knurrte Kelly.
Der Mann lachte, wobei sich kleine Fältchen in seinen Augenwinkeln bildeten, die ihn noch attraktiver erscheinen ließen, genauso wie sein schon leicht ergrautes Haar und die braunen Augen, die Sophia interessiert musterten. Sie schätzte ihn auf etwas über Fünfzig. In seinem dunklen, maßgeschneiderten Anzug machte er eine tadellose Figur.
„Aber dennoch, meine Liebe...“, fuhr er mit einem Augenzwinkern fort, „Ich werde das Gefühl nicht los, verschiedene der Modelle schon irgendwo einmal gesehen zu haben.“
„Das hätten Sie wohl gerne“, polterte Kelly los. „Oh nein, Ron...Kommen Sie mir bloß nicht so!“
Völlig unbeeindruckt schenkte ihr der mit „Ron“ Angesprochene ein verbindliches Lächeln.
„Nun, wie dem auch sei“, meinte er und seine Augen suchten erneut Sophias Blick. „Wollen Sie mir nicht Ihre charmante Begleiterin vorstellen?“
Wenig begeistert kam Kelly seiner Bitte nach.
„Sophia Hamilton, eine sehr gute Freundin von mir... Ronald Austin, der Chefdesigner und Besitzer von AUSTIN CREATIONS, einer eher unbedeutenden Modefirma, die seit Jahren vergeblich versucht, neben MORANO FASHIONS auf dem internationalen Modemarkt bestehen zu können“, erklärte sie mit honigsüßer Stimme und grinste Ron kampflustig an.
Der tat so, als hätte er diese letzte boshafte Bemerkung gar nicht gehört, sondern reichte Sophia die Hand.
„Es freut mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs. Hamilton“, sagte er galant. „Ich wusste bisher gar nicht, dass Kelly so außergewöhnlich reizende, gutaussehende Freundinnen hat.“
Während Kelly ob dieses erneuten Seitenhiebes nur verächtlich schnaufte, errötete Sophia leicht.
„Freut mich ebenfalls“, säuselte sie fast schüchtern. „Bitte nennen Sie mich Sophia.“
„Gerne, aber nur, wenn Sie Ron zu mir sagen.“
Kelly verdrehte genervt die Augen.
`Nein, Sophia, nicht den hier, bloß nicht den`, dachte sie beunruhigt und trat der Freundin kräftig auf den Fuß.
„Au!“
„Etwas nicht in Ordnung?“, fragte Ron und ließ endlich ihre Hand los.
Sophia schenkte ihm ein verkrampftes Lächeln und bedachte Kelly mit einem wütenden Blick.
„Nein, alles bestens, ich habe mir nur eben den Knöchel am Tischbein gestoßen.“
„Kommen Sie auch aus L.A.?“, fragte Ron interessiert.
„Nein, ich lebe in Sunset City.“ antwortete sie und überlegte, ob sie es wagen sollte, ihn einzuladen, sich zu ihnen zu setzen. Sicherheitshalber verlagerte sie ihre Beine aus Kellys Reichweite, aber ihre Freundin zog es anscheinend vor, zunächst verbal weiterzukämpfen.
„Ja, dort lebt sie schon viele Jahre mit ihrer Familie, ihrem Mann und ihren beiden reizenden Kindern“, gab sie in bestem Plauderton, untermalt mit einem verschlagenen Grinsen, scheinbar bereitwillig Auskunft.
Ron schien das allerdings nicht im Mindesten zu beeindrucken.
„Sunset City“, überlegte er laut. „Ich habe gehört, dort soll in Kürze eine supermoderne Ferienanlage gebaut werden, eines der größten Projekte hier in der Umgebung.“
„Ja richtig gehört“, kam Kelly Sophia eiligst zuvor. „Und der Bauherr ist Sophias Ehemann höchstpersönlich.“
„Interessant“, bemerkte Ron trocken, wobei er Sophia nicht aus den Augen ließ. „Ihr Mann ist wirklich zu beneiden. Ein solch gigantisches Projekt zu verwirklichen, davon können viele Geschäftsleute nur träumen. Und dazu eine so bezaubernde Ehefrau. Ein wahrer Glückspilz.“ Er machte eine Pause und sah sie prüfend an. „Ich hoffe, bei der vielen Arbeit bleibt ihm noch genügend Zeit für Sie?“
„Glauben Sie mir, das wollen Sie gar nicht wissen, Ron“, warf Kelly schnell ein und reichte ihm mit eindeutiger Geste die Hand. „Wir wollen Sie auch nicht länger aufhalten, mein Lieber. Ich bin sicher, Sie werden schon dringend erwartet. Also dann... Es war nett, mit Ihnen zu plaudern. Einen schönen Tag noch!“
Ron wirkte zwar überhaupt nicht so, als sei er momentan in Eile, denn seine Augen ruhten nach wie vor unverwandt auf Sophia, deren Wangen unter seinem aufmerksamen Blick ziemlich Farbe bekommen hatten, was sie noch attraktiver erscheinen ließ. Dennoch wollte er sich vor Kelly keine Blöße geben und verabschiedete sich höflich von den beiden Damen.
„Darf ich Sie vielleicht zu unserer Modenschau morgen...“, wagte er einen letzten Versuch, Sophia wiederzusehen, aber Kelly fiel ihm erneut sofort ins Wort:
„Also wirklich, Ronald! Meine Freundin hat einen exzellenten Geschmack, was Mode betrifft! Wollen Sie sie beleidigen?“
„Kelly!“, mahnte Sophia, der die Bemerkung sichtlich unangenehm war. Diese hob jedoch mit unschuldigem Augenaufschlag die Schultern.
„Ja glaubst du denn allen Ernstes, ich lasse dich auf die Modenschau der Konkurrenz gehen, meine Liebe?“
Ron quittierte ihre letzte Bemerkung mit einem etwas säuerlichen Lächeln, nickte den Damen noch einmal charmant zu und verschwand.
Sophia sah ihm nachdenklich nach.
„Ein äußerst interessanter Mann“, sagte sie, mehr zu sich selbst.
Kelly stimmte mit verklärtem Blick zu.
„Oh ja, das ist er in der Tat.“
Erstaunt sah Sophia die Freundin an.
„Ich habe gedacht, du magst ihn nicht!“
„Offiziell ist das richtig“, bestätigte diese und nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Weinglas. „Aber insgeheim...“ Sie spitzte genießerisch die Lippen und verdrehte theatralisch die Augen. „Insgeheim träume ich von einer absolut heißen Affäre mit Ron Austin, seitdem ich ihn kenne.“
Sophia hob vielsagend ihre linke Augenbraue, eine typische Geste, mit der sie für gewöhnlich ihr Erstaunen auszudrücken pflegte.
„Na ja“, meinte Kelly mit einem amüsierten Zwinkern. „Träumen ist schließlich nicht verboten. Aber wer den alten Drachen kennt, der allmächtig über ihn wacht und herrscht...“
„Wer?“, fragte Sophia irritiert.
Kelly lachte.
„Königin Estelle, seine Frau, die Mutter seiner erwachsenen Kinder. Sie hat ihn und das Familienunternehmen trotz aller Diskrepanzen nach wie vor fest im Griff.“ Sie beugte sich zu Sophia hinüber und raunte indiskret: „Übrigens hat er noch eine halbwüchsige Göre, aber die entstammt einer Affäre mit seiner ehemaligen Sekretärin.“
Sophia schluckte und winkte entschieden ab.
„Genug, das will ich alles gar nicht wissen. Ich bin hergekommen, um mit dir über meine eigenen Probleme zu reden. Von denen anderer Leute will ich im Augenblick nichts hören.“ Mit einem Seitenblick in die Richtung, in die Ron Austin vor ein paar Minuten verschwunden war, fügte sie halblaut hinzu: „Vorerst zumindest.“
*
Mitch war auf dem Weg zur Klinik, um Suki von ihrer Spätschicht abzuholen. Er freute sich darauf, sie wiederzusehen und mit ihr gemeinsam am Strand entlang zum Haus zurück zu bummeln. Er würde ihre Hand halten, den Arm um sie legen und ihr vielleicht endlich all die Dinge sagen, die ihm schon seit ihrer ersten Begegnung auf der Seele brannten... Er hatte sich in sie verliebt, und er spürte, dass sie genauso fühlte. Er musste nur Geduld haben und warten, bis sie endlich bereit war, das auch zuzugeben.
Inzwischen war es bereits ziemlich spät und Mitch beeilte sich, um Suki nicht zu verpassen. Als er hinunter zum Pier kam, war es bereits dunkel. Das fahle Mondlicht warf gespenstische Schatten auf den Strand, und das spärliche Licht der Laternen, das von der Strandpromenade herüberschien, ließ die dicken Holzpfeiler der Seebrücke irgendwie bedrohlich erscheinen.
Mitch war beinahe schon an ihnen vorüber, als sich am Fuße der Treppe etwas bewegte.
Erschrocken drehte er sich um und sah jemanden dort hocken.
„Wer ist da?“, fragte er, blieb stehen und trat dann vorsichtig näher.
Der Unbekannte erhob sich und trat aus dem Schatten.
„Randy?“, fragte Mitch irritiert. „Was tust du denn hier?“
„Mitch“ Randys Stimme zitterte und klang irgendwie fremd. „Gut, dass du da bist, es ist etwas Furchtbares passiert...“
Erst jetzt bemerkte Mitch die reglose, zusammengekrümmte Gestalt, die dort am Fuße des dicken Holzpfeilers lag.
„Was zum Teufel...“ Er wollte sich hinunterbeugen, um zu sehen, was dem dort Liegenden fehlte, doch Randy hielt ihn zurück.
„Vergiss es, Mitch“, murmelte er heiser. „Dem kannst du nicht mehr helfen.“
*
Bobby hatte es sich gerade mit der dritten Dose Bier in seinem schmuddeligen Fernsehsessel gemütlich gemacht und wartete auf den Anruf von Wes` Handlangern Ramon und Scotti. Mit Genugtuung dachte er daran, wie die beiden Schläger dem ahnungslosen Mitch Capwell unten am Pier seine wohlverdiente Lektion erteilen würden. Hoffentlich hatte der Kerl einen guten Zahnarzt.
Er verzog schmerzlich das Gesicht, als er daran dachte, wie brutal die beiden „Muskelpakete“ ihn damals hier in seiner Wohnung in Wes` Beisein zusammengeschlagen hatten. Oh ja, wo die hinlangten, tat es garantiert noch lange weh. Und für das nötige Kleingeld würden diese Männer noch ganz andere Dinge tun...
In diesem Augenblick klopfte jemand laut an die Tür.
Missmutig über die Störung erhob sich Bobby, schlurfte gemächlich zum Eingang und öffnete.
Vor ihm standen genau die beiden, über die er eben nachgedacht hatte: Ramon und Scotti.
Sie wirkten etwas gehetzt und traten unaufgefordert ein, während sie ihn unsanft beiseite stießen.
„He, was soll denn das? Ich hoffe, ihr habt euren Auftrag erledigt, Jungs“, knurrte Bobby wenig erfreut.
„Halts Maul und mach die Tür zu“, bellte Scotti, ließ sich in Bobbys Sessel fallen und setzte die geöffnete Bierdose gierig an die Lippen, während Ramon zum Fenster hinüberging und neugierig durch die Gardine nach draußen spähte.
Beunruhigt sah Bobby von einem zum anderen, gab der Tür einen Tritt, so dass sie krachend ins Schloss fiel und kam zögernd näher.
„Was ist los?“, fragte er scheinbar locker, um seine plötzliche innere Anspannung zu überspielen. „Genießt Capwell bereits sein Rendezvous mit der Ärztin... im Gipsbett?“
„Na ja, nicht ganz.“ Ramon beobachtete immer noch die Straße, während er das sagte. „Es hat einen... kleinen Zwischenfall gegeben.“
„Was soll das heißen?“ Beunruhigt horchte Bobby auf. „Nun sagt schon, was ist los? Hat er euch etwa erkannt?“
Die beiden Schläger sahen einander vielsagend an.
„Keine Ahnung, ob er uns erkannt hat. Ist nicht von Bedeutung“, knurrte Scotti und rülpste von dem Bier.
Bobby platzte der Kragen.
„Hey, ihr Blindgänger, wenn ihr das vermasselt habt, könnt ihr was erleben! Dann will ich meine Kohle zurück!“
„Ach ja?“, höhnte Ramon boshaft, ohne seinen Beobachtungsposten am Fenster zu verlassen. „Nun hör sich einer die halbe Portion an!“
„Das kannst du getrost vergessen, Kumpel“, meinte Scotti ungerührt. „Wenn es hart auf hart kommt, musst du noch was draufzahlen, damit wir deinen Namen da raushalten. Der Typ war nämlich längst nicht so sportlich, wie du gesagt hast. Bei dem hätte die Hälfte gereicht. Ist gleich beim ersten Schlag umgefallen wie ‘n Kartoffelsack und mit dem Kopf irgendwo gegen geknallt...“
Bobby winkte ab.
„Ist doch egal, Hauptsache, er erkennt euch später nicht wieder und zeigt euch am Ende noch an!“
„Nee, Mann“, grunzte Ramon und drehte sich mit zusammengekniffenen Augen zu ihm um. „Mitch Capwell zeigt garantiert niemanden mehr an.“
„Was soll das heißen?“, fragte Bobby, doch dann begriff er schlagartig die Bedeutung des eben Gehörten. „Verdammt, wollt ihr damit sagen...“ Seine Stimme erstarb zu einem entsetzten Flüstern.
Die finsteren Blicke der beiden Männer bestätigten seine schlimmsten Befürchtungen, Sekunden bevor Scotti sie aussprach:
„Mitch Capwell ist tot.”