Als Danielle gegen Mittag mit zwei bis oben vollgepackten Einkaufstüten vom Supermarkt kam, war Mitch gerade dabei, den Zaun vor dem Haus neu anzustreichen.
„Warte…“ Bereitwillig sprang er hinzu, öffnete die Tür und nahm ihr die Einkäufe ab.
„Du hattest übrigens Besuch, während du weg warst“, verkündete er beiläufig, während er ihr mit den Tüten ins Haus folgte.
Erstaunt drehte sie sich nach ihm um.
„Besuch? Wer sollte mich denn hier besuchen?“
„Keine Ahnung, wer der Typ war und was er wollte. Auf jeden Fall trug er einen super teuren Anzug und benahm sich sehr geheimnisvoll. Ich habe ihm gesagt, er könne gerne hier auf dich warten, aber er meinte, er käme später noch einmal wieder.“
Mit einem ratlosen Kopfschütteln und einem Schmunzeln auf den Lippen begann Danielle, den Inhalt der Einkaufstüten in den Küchenschränken zu verstauen.
„Ich kenne hier in Kalifornien keinen Herrn im superteuren Anzug. Nur einen Typen in Shorts, der ziemlich mit Farbe bekleckert ist.“
Mitch grinste und hob die farbbeschmierten Hände.
„Soll ich dich mal in den Arm nehmen?“
„Untersteh dich“, rief Danielle und schob ihn lachend zur Tür hinaus.
Wenig später, als sie gerade dabei war, das mitgebrachte Obst abzuwaschen, läutete es abermals an der Tür.
Sie wischte sich die nassen Hände am Hosenboden ihrer abgeschnittenen Jeans ab und öffnete. Vor ihr stand ein schlanker, älterer Mann mit graumeliertem Haar. Trotz der beträchtlichen Mittagshitze trug er einen eleganten dunklen Anzug und darunter ein weißes Hemd mit Krawatte. In der Hand hielt er einen teuer aussehenden Aktenkoffer.
„Miss Belling... Danielle Belling?“, erkundigte er sich freundlich.
„Ja, die bin ich“, antwortete sie etwas zögernd, denn sie hatte diesen Mann noch nie vorher gesehen. „Was kann ich für Sie tun, Sir?“
Er reichte ihr die Hand, die sich trotz der hohen Temperaturen, die draußen herrschten, merkwürdig kühl anfühlte.
„Mein Name ist Roger Miles. Ich bin Anwalt und hätte Sie gerne einen Moment unter vier Augen gesprochen.“
„Okay... natürlich.“
Sichtlich überrascht trat sie beiseite und bat ihn mit einer einladenden Handbewegung ins Haus.
Mitch reckte draußen hinter seinem Zaun neugierig den Hals, doch Danielle hob nur mit ratlosem Blick die Schultern, bevor sie die Tür hinter sich schloss.
„Bitte, Mr. Miles, nehmen Sie Platz“, sagte sie höflich und wies auf die Couch im Wohnzimmer. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Gerne“, nickte Roger Miles und setzte sich, während er den Aktenkoffer sorgsam neben seinen Füßen abstellte. „Ein Mineralwasser wäre schön.“
Während Danielle das Gewünschte aus der Küche holte, arbeiteten ihre Gedanken fieberhaft.
`Roger Miles, Anwalt...` Nein, sie konnte sich nicht erinnern, jemals von diesem Mann gehört zu haben. Hier konnte es sich fast nur um eine Verwechslung handeln.
Sie reichte ihm das Glas, während sie ihm gegenüber Platz nahm.
Er trank einen tiefen Schluck und sah sich kurz um.
„Können wir hier ungestört reden?“
„Natürlich“, erwiderte Danielle leicht irritiert. „Außer uns ist momentan niemand im Haus.“
„Das ist gut“, meinte Roger Miles zufrieden. „Sie werden sich sicher fragen, weshalb ich Sie hier aufsuche. Also die Sache ist die: Ihr letzter Flug mit Blue Sky Airlines ging von Tokio nach Los Angeles.“
„Das ist richtig.“
„Sie hatten einen Notfall an Bord. George Freeman.“
Danielle lächelte in Erinnerung daran.
„Mister Freeman, ja natürlich. Kennen Sie ihn? Ich würde gern wissen, wie es ihm inzwischen geht.“
„Oh, es geht ihm den Umständen entsprechend gut, und er wird die Klinik, in der er sich derzeit noch befindet, hoffentlich bald wieder verlassen können.“ Roger Miles räusperte sich und straffte die Schultern. „Ich bin der Anwalt von Mister Freeman, und er hat mich beauftragt, Sie in Sunset City aufzusuchen.“
Ungläubig schaute Danielle ihn an.
„Mich aufzusuchen? Aber warum...“
„Nun, Miss Belling, Sie haben Mister Freeman… wie soll ich sagen… während seines akuten Schwächeanfalls versorgt und ihm beigestanden. Mein Mandant ist der Meinung, dass er Ihnen sein Leben zu verdanken hat. Er ist fest davon überzeugt, dass er ohne Ihre Hilfe L.A. niemals lebend erreicht hätte.“
„Was?“ Danielle schüttelte entschieden den Kopf. „Aber ich habe doch gar nichts Besonderes getan! Das hätte doch jeder andere…“
„Nun“, unterbrach sie der Anwalt mit einem diskreten Räuspern. „Da bin ich mir in Anbetracht der besonderen Umstände nicht so sicher, Miss Belling.“
„Was für besondere Umstände?“, erkundigte sie sich irritiert. „Außer, dass wir uns in einem Flugzeug befanden, und ein Herzanfall glücklicherweise nicht zu den Notfällen gehört, die öfter mal vorkommen, war an diesem Langstreckenflug rein gar nichts außergewöhnlich.“
Roger Miles räusperte sich erneut und nickte dann.
„Wie dem auch sei, Mister Freeman wollte, dass ich Sie aufsuche, um Ihnen seine Grüße und seinen aufrichtigen Dank auszurichten. Und ich soll Ihnen das hier übergeben.“ Damit nahm er den edel aussehenden, schwarzen Lederkoffer und legte ihn vor Danielle auf den Tisch. „Bitte, öffnen Sie ihn.“
Zögernd betätigte sie das Schloss, hob den Deckel und erstarrte. Vor ihr lag ein funkelnagelneuer Laptop mit allem Zubehör.
„Ja aber...“ Fassungslos sah sie Roger Miles an.
Dieser lächelte wissend.
„Ein Prototyp von FREEMAN ELECTRONICS“, erklärte er und wies dann auf das Fach im Kofferdeckel. „Bitte, lesen Sie den Brief in dem Umschlag, der an der Seite steckt, dann werden Sie verstehen.“
Danielle nahm das Schreiben heraus und begann zu lesen:
„Liebe Danielle, während ich diese Zeilen hier schreibe, geht es mir schon viel besser, und mein Herz beginnt wieder einigermaßen normal zu schlagen. Ich habe Ihnen mein Leben zu verdanken - nein, versuchen Sie es gar nicht erst zu bestreiten, ich weiß, dass es so ist. Jungen Menschen wie Ihnen begegnet man heute nicht mehr allzu oft.
Sie haben mir von Ihrem Traum erzählt, und ich möchte Ihnen dabei helfen, dass Sie ihn sich erfüllen können. Tun Sie es, Danielle, es ist der richtige Weg!
Alles Weitere wird Roger Ihnen erklären. Ich hoffe, Sie finden Ihr Glück in Sunset City. Sie haben es verdient. Mit lieben Grüßen, George Freeman"
Etwas ratlos blickte Danielle auf Roger Miles. Der nickte lächelnd und zog ein großes Kuvert aus der Innentasche seines Jacketts.
„Das hier gehört zum Inhalt des Aktenkoffers.“ sagte er, während er ihr ein Schriftstück daraus reichte. „Bewahren Sie es sorgsam auf, ich habe das Datum absichtlich noch offen gelassen.“
Danielle betrachtete das Blatt in ihrer Hand.
„Eine Einschreibung zum Studium an der Medical University Los Angeles“, stellte sie fest und schüttelte fassungslos den Kopf.
„Direkt- oder Fernstudium, das bleibt Ihnen überlassen, Miss Belling“, erklärte Miles. „Sie dürfen das Gewünschte irgendwann in der nächsten Zeit selbst eintragen, dazu das Datum, und damit können Sie Ihr Medizinstudium beginnen. Die Aufnahmegebühr hat Mister Freeman bereits bezahlt. Und damit Sie es auch finanzieren können, schickt er Ihnen noch dies hier...“ Mit diesen Worten reichte er ihr einen Scheck. Beim Anblick der darauf ausgedruckten Summe wurde Danielle blass.
Sie schluckte und ihre Hände begannen zu zittern.
„Aber das ist...“
Roger Miles lächelte.
„Er muss Sie wirklich ins Herz geschlossen haben, Miss Belling. Sonst ist er nämlich nicht so großzügig, glauben Sie mir! Er hat schon viele schlechte Erfahrungen gemacht.“
„Mister Miles“, stotterte Danielle verwirrt. „Das... kann ich beim besten Willen nicht annehmen, das ist... Unglaublich!“
Das Gesicht des Anwalts wurde ernst.
„Eines sollten Sie wissen: Mister Freeman kann sehr eigensinnig sein, wenn es um seine Angelegenheiten geht. Wenn Sie sein Geschenk nicht annehmen, junge Dame, laufe ich Gefahr, meinen Job zu verlieren. Also sehen Sie das Ganze einfach als Chance, sich den Traum zu erfüllen, von dem Sie ihm im Flugzeug erzählt haben. Studieren Sie Medizin und werden Sie eine gute Ärztin.“
Danielles Augen füllten sich mit Tränen.
„Ich glaube das einfach nicht“, flüsterte sie. „Wie kann ich mich bei Mister Freeman bedanken? Haben Sie eine Telefonnummer, oder besser noch seine Adresse, dann werde ich ihn besuchen, wenn ich in L.A. bin!“
Roger Miles schüttelte den Kopf.
„Das ist momentan nicht möglich, Miss Belling.“ Er sah sich nochmals im Zimmer um, als wolle er sichergehen, dass auch wirklich niemand das Gespräch belauschte. „Ich will Ihnen nichts vormachen, meine Liebe, aber was ich Ihnen jetzt sage, obliegt strengster Diskretion: Mister Freemans Leben ist in höchster Gefahr, und solange das so ist, sind auch alle Personen, die mit ihm zu tun haben, nicht sicher. Er möchte Ihr Leben nicht unnötig gefährden, deshalb versuchen Sie bitte vorerst nicht, mit ihm Kontakt aufzunehmen.“
„Ja aber, wieso... ich meine, wer will...“
„Er ist ein mächtiger Mann. Ihm gehört ein riesiges Unternehmen, nicht nur in Japan. FREEMAN ELECTRONICS zählt seit langem zu den führenden Elektronik-Konzernen in der Branche. Es gibt einige Leute, die alles daransetzen, ihn auszuschalten und sich seine Firma zu eigen zu machen. Er hinterlässt keine Erben und es wird vermutet, dass bereits der Unfall seiner Frau vor einem Jahr kein Zufall war. Genauso wenig wie sein Herzanfall im Flugzeug keiner war.“
Danielle riss entsetzt die Augen auf.
„Was? Wollen Sie damit sagen...“
Der Anwalt nickte mit ernster Miene.
„Jemand hat seine Herztabletten ausgetauscht. Dass er an Flugangst leidet, ist allgemein bekannt. Es wäre nie aufgefallen, wenn er auf diesem Flug an einem simplen Herzanfall gestorben wäre.“
„Meine Güte!“ Geschockt starrte Danielle den Anwalt an. „Das ist unglaublich!“
„Leider doch“, bestätigte Miles. „Für Geld und Macht schrecken gewisse Leute vor nichts zurück. Sie verstehen also, warum es so wichtig ist, dass Sie vorerst niemand mit George Freeman in Verbindung bringt. Falls Sie Fragen haben, oder es irgendein Problem geben sollte, hier ist meine Karte.“ Er übergab ihr eine seiner Visitenkarten und erhob sich. „Mich können Sie gern jederzeit anrufen.“
Mit zitternden Knien stand Danielle auf und reichte Roger Miles die Hand.
„Danke“, sagte sie sichtlich überwältigt von dem, was sie in der letzten halben Stunde erfahren hatte. „Grüßen Sie Mister Freeman vorerst bitte vielmals von mir, und sagen Sie ihm, er soll gut auf sich Acht geben. Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann wieder, dann werde ich mich persönlich bei ihm bedanken.“
„Ich werde es ihm bestellen.“ Der Anwalt nickte ihr freundlich zu. „Alles Gute für Ihre Zukunft, Miss Belling.“
Als Mitch, kurz nachdem der Anwalt das Haus verlassen hatte, hereinkam, um zu sehen, ob alles in Ordnung war, lehnte Danielle immer noch an der Wand neben der Tür und starrte stumm vor sich hin.
„Danielle? Du bist ja ganz blass! Was war denn los?“ Besorgt legte er seinen Arm um ihre Schultern und führte sie zum Sofa. „Los, setz dich. Nun erzähl schon, wer war der Mann und was wollte er?“
Sie schüttelte nur fassungslos den Kopf.
„Erinnerst du dich an den Notfall auf unserem letzten Flug von Tokio nach L.A.?“
Mitch nickte.
„Wie könnte ich das vergessen.“
„Mister Freeman, unser Patient, hat seinen Anwalt geschickt, um sich bei mir zu bedanken.“
„Aber das ist doch sehr nobel von ihm.“
„Es ist mehr als nur nobel. Schau in den Koffer und dann kneif mich, damit ich aufwache, falls dies alles ein Traum ist.“
*
Brendon hatte bis mittags geschlafen und danach einen kleinen Stadtbummel unternommen. Im Internet-Café in der Mainstreet bestellte er sich einen kleinen Imbiss und ließ sich an einem der Computer nieder, wo er gelangweilt die Webseite der lokalen Zeitungsredaktion aufrief, die er zuvor bei der Bedienung erfragt hatte. Gleichgültig blätterte er in den Informationen, in der vagen Hoffnung, vielleicht etwas über den Verbleib seiner ehemaligen Verlobte zu lesen, denn bisher hatte er außer dem Namen dieser Stadt keinen weiteren Anhaltspunkt dafür, wo genau sie sich aufhielt. Nach einer Weile gab er genervt auf und schaltete den Rechner aus.
Warum, zum Geier, sollte ausgerechnet über Dani etwas in der Zeitung stehen?
Dani... seine Danielle, seine erste große Liebe...
Verdammt, er liebte sie wirklich! Zu dumm, das sie ihn bei einem seiner kleinen Abenteuer erwischt hatte, und das auch noch am Morgen ihres Hochzeitstages! Aber dass sie deshalb gleich abhauen würde und ihn vor all seinen Freunden und Verwandten direkt vor dem Traualtar derart blamieren musste, das war ja nun wirklich nicht nötig gewesen!
Und ihre Familie behandelte ihn seitdem, als hätte er eine ansteckende Krankheit...
Aus den Nachrichten hatte er schließlich erfahren, dass die Fluggesellschaft, für die Danielle arbeitete, in Konkurs gegangen war. Das hieß, dass sie ihren Job verloren hatte und sich irgendwo eine Bleibe suchen musste.
Vor ein paar Tagen dann war er heimlich zur Farm der Bellings gefahren, um zu sehen, ob sie vielleicht wieder nach Hause zurückgekehrt war. Dort hatte er mehr oder weniger zufällig gehört, wie Robyn ihren Freundinnen stolz erzählte, ihre große Schwester wohne jetzt in einer südkalifornischen Kleinstadt namens Sunset City in einem Zimmer mit traumhaftem Blick auf den Ozean.
Sunset City…
Bereits am darauf folgenden Tag hatte er den ersten Flug nach L.A. gebucht. Nun musste er noch herausbekommen, wo genau Danielle wohnte, dann wäre es ganz sicher nur eine Frage der Zeit, dass sie ihm verzeihen und mit ihm gemeinsam in ihre Heimatstadt nach Crawford in Oklahoma zurückkehren würde.
Er lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Kaffee, während er die anwesenden Gäste kurz musterte. Als er vorhin hier hereinkam, hatte er irgendwie gehofft, seine Bekanntschaft von gestern abends vielleicht an einem der Computer vorzufinden, schließlich war sie ja Studentin. Sie hatte ihn ziemlich beeindruckt, so dass er sie kurzerhand gebeten hatte, sich heute bei Sonnenuntergang mit ihm am Strand vor dem Sunset Medical Center zu treffen, wohin sie ihn wegen der Schnittwunde in seinem Daumen begleitet hatte.
Caroline Hamilton...
Brendon lächelte.
Sie hatte dem Treffen heute Abend nicht ausdrücklich zugestimmt, aber der Blick aus ihren schönen Augen, von denen er noch immer nicht wusste, ob sie nun blau oder grün oder vielleicht braun waren, hatte ihn überzeugt. Sie würde da sein, am Strand bei Sonnenuntergang, daran gab es für ihn gar keinen Zweifel. Bisher konnte er sich immer auf seinen Charme verlassen, denn kaum ein Mädchen hatte ihm je lange widerstehen können.
Und so ein echtes kalifornisches Girl... Seine Freunde zu Hause würden vor Staunen die Augen aufreißen und vor Neid erblassen!
Er winkte der Bedienung, zahlte und verließ das Internetcafé.
Kurzentschlossen schlug er den Weg zum Strand ein. Seine Suche nach Danielle konnte er auch Morgen noch fortsetzen, jetzt, wo er wusste, dass sie sich zurzeit hier in dieser Stadt aufhielt.
Heute warteten erst einmal wesentlich interessantere Dinge auf ihn.
*
Danielle hatte Mitch von dem Gespräch mit George Freemans Anwalt berichtet. Die vertraulichen Informationen behielt sie natürlich für sich, schließlich hatte sie es Roger Miles versprochen
Wie erwartet konnte Mitch kaum fassen, was Danielle ihm mitteilte.
„Wirklich unglaublich… Wer hätte das gedacht“, staunte er und nickte schließlich zustimmend.
„Freeman hat Recht, ohne dich wäre die Luft für ihn da oben ziemlich dünn geworden. Du hast schnell und richtig gehandelt. Vor allem hast du ihm die Angst genommen, indem du bei ihm geblieben bist und ihn von seinen Schmerzen abgelenkt hast. Du hast echt professionell gehandelt.“
„Ach Mitch, das war doch nichts Besonderes.“
Er legte ihr seine Hand auf die Schulter und sah sie eindringlich an.
„Freemans Geschenk ist absolut gerechtfertigt. Außerdem kann er sich so etwas bei seinem Vermögen locker leisten. Für dich ist das eine Riesenchance, und die solltest du unbedingt nutzen.“
Sie blickte nachdenklich vor sich hin.
„Ja schon, aber… das geht mir jetzt alles etwas zu schnell. Ich bin gerade dabei, mich hier einzuleben, und dann wäre da noch...“
„Matt“, grinste Mitch. „Ich verstehe. Aber hast du nicht eben gesagt, Freeman will, so dass du selbst entscheidest, wann du dich an der Medizinischen Universität einschreibst?“
Danielle nickte.
„Das ist richtig. Mit dem Formular ist lediglich die Aufnahmegebühr bezahlt. Ich kann also in Ruhe entscheiden, und in ein paar Wochen weiß ich sicher, was genau ich tun werde.“
„An deiner Stelle würde ich zur Bank gehen und den Scheck sowie die Anmeldung für die Uni dort in einem Schließfach deponieren. Man kann nie wissen.“
„Ja, du hast recht“, stimmte Danielle spontan zu. „Würdest du mich begleiten? Ich habe keine Ahnung, wo sich hier in Sunset City eine Bank befindet.“
„Klar komme ich mit“, stimmte Mitch zu und wies auf die Farbflecken auf seinem Shirt. „Wenn du mir vorher noch Zeit zum Duschen gibst?“
„Na mach schon“, lachte Danielle. „Schließlich möchte ich mich als „neureiche Dame von Welt“ nicht mit dir blamieren!“
*
Am Abend machten sich Mitch, Luke, Randy und Danielle auf den Weg ins OCEANS, um Dean und Chelsea bei den notwendigen Renovierungsarbeiten zu helfen.
Nachdem die beiden ihren Mitbewohnern glückstrahlend von ihrer mutigen und sehr spontanen Investition berichtet hatten, waren sich alle sofort einig gewesen, kräftig mit anzupacken, um die Tanzbar schnellstens wieder in Schwung zu bringen.
„Wir haben bereits ein Schild an der Eingangstür des OCEANS angebracht um allen mitzuteilen, dass am kommenden Wochenende eine große Eröffnungsparty steigt“, hatte Chelsea verkündet und vor Freude wie ein Kind in die Hände geklatscht.
„Was, so bald schon? Du liebe Zeit, da müsst ihr euch aber mächtig beeilen“, äußerte Randy seine Bedenken, aber Chelsea war in ihrem Enthusiasmus nicht zu bremsen gewesen.
„Ach, wieso denn, das Mobiliar ist doch komplett vorhanden. Es muss nur ein wenig umgeräumt und dekoriert werden, wir werden die Bestände aufnehmen und vervollständigen, dann einkaufen, saubermachen, einiges neu anstreichen, Werbung machen...“
„Okay, hör schon auf!“, hatte Dean versucht sie zu stoppen. „Sieht so aus, als ob wir doch etwas länger brauchen würden.“
„Kein Problem, wenn wir alle mit anpacken“, zeigte sich Mitch optimistisch und zwinkerte Chelsea aufmunternd zu. „Am besten, wir fangen gleich heute Abend damit an.“
Gesagt, getan.
Nach dem Abendessen machten sie sich voller Tatendrang auf den Weg. Selbst Suki, die in der Spätschicht arbeitete, hatte versprochen, nach Dienstschluss noch vorbeizuschauen.
Bevor sie loszogen, hatte Danielle versucht, Matt anzurufen, um ihm zu sagen, wo sie später zu finden sei, aber er schien nicht zu Hause zu sein. Etwas enttäuscht hinterließ sie ihm eine Nachricht mit dem Hinweis, dass es tolle Neuigkeiten gäbe, und er möge sie auf ihrem Handy zurückrufen, um eventuell später ein Treffen zu vereinbaren.
Als sie gemeinsam mit den anderen auf den Weg zum OCEANS die Strandpromenade entlanglief, entdeckte sie in einiger Entfernung ein Pärchen am Strand. Die beiden wirkten verliebt, wie sie so einträchtig dastanden und sich den Sonnenuntergang anschauten. Die junge Frau hatte langes blondes Haar und der Mann, der den Arm um die Schultern seiner Begleiterin gelegt hatte, sah von weitem aus wie... Brendon!
Danielle blieb einen Augenblick lang stehen und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Das gleißende Licht der untergehenden Sonne blendete sie, und sie schüttelte schließlich den Kopf über sich selbst.
„Ich sehe anscheinend schon Gespenster“, murmelte sie und wandte sich rasch ab, um den anderen zu folgen. Wieso sollte Brendon ausgerechnet hier sein? Er wusste ja nicht einmal, dass sie sich derzeit in Kalifornien aufhielt, und das war auch gut so.
Trotzdem drehte sie sich etwas später noch einmal nach dem Pärchen am Strand um, aber die beiden waren inzwischen verschwunden.
*
Anni hatte den ganzen Nachmittag über den Unterlagen gesessen, die ihr Matt mitgegeben hatte. Sie wollte sich morgen, wenn dieses Team von Maulwürfen, wie sie die Archäologen geringschätzig nannte, eintraf, keine Blöße geben und bestens auf alle anfallenden Fragen vorbereitet sein, um vor allem Matt mit ihrem Wissen zu imponieren. Allerdings siegte sehr bald ihr Desinteresse an dieser Sache über den guten Willen, denn die ungewohnte Anstrengung des Auswendiglernens bescherte ihr quälende Kopfschmerzen. Frustriert warf sie den Hefter in die Ecke und machte sich auf den Weg zur Apotheke, um sich Aspirin zu holen.
Während sie die Tabletten in Empfang nahm und bezahlte, betrat eine junge Frau die Apotheke.
„Hallo Mister Miller“, hörte Anni eine Stimme, die ihr merkwürdig bekannt vorkam.
Auch wenn sie das für schier unmöglich hielt, war das nicht...
„Misses Cortez-Shelton!“, erwiderte der ältere Herr hinter dem Verkaufstresen freundlich und bestätigte damit Annis Verdacht. „Es freut mich außerordentlich, Sie nach so langer Zeit einmal wieder zu sehen. Wie geht es Ihnen?“
„Danke, es geht mir gut“, erwiderte Marina.
Anni, bereits im Gehen begriffen, legte keinerlei Wert darauf, der Frau, die ihr zutiefst verhasst war, weil sie ihr den Angebeteten damals förmlich vor der Nase weggeschnappt hatte, zu begegnen. Sie wandte sich eilig dem etwas seitlich stehenden Regal mit den Schönheitslotion-Angeboten zu und studierte scheinbar interessiert die weiter unten befindlichen Cremes, so dass sie fast gänzlich aus Marinas Blickfeld verschwand.
`Was will denn die wieder hier in Sunset City?`, fragte sie sich in einem Anflug von Panik. `Ich hatte gehofft, die wären wir ein für alle Mal los!`
Marina schien Annis Anwesenheit tatsächlich nicht bemerkt zu haben, denn sie drehte nicht einmal den Kopf, sondern begann, sogleich ihre Wünsche zu äußern.
„Ich möchte dieses Rezept einlösen“, hörte Anni in ihrem Versteck deutlich ihre Stimme.
„Natürlich, sehr gern. Da hätten wir zunächst die Vitamine...“, stellte Mister Miller fachmännisch fest und suchte flink das Gewünschte heraus.
„Ich war in letzter Zeit ziemlichem Stress ausgesetzt“, sah sich Marina genötigt zu erklären. „Dr. Mendes meinte, ich solle mir unbedingt etwas Ruhe gönnen und mit Vitaminen meine Abwehrkräfte stärken.“
`Stress? Dass ich nicht lache!`, dachte Anni feindselig. `Der Einzige, dem du Stress bereitet hast, war Matt, du Hexe! Du hast ihm gnadenlos das Herz gebrochen und bist mit seinem Bruder auf und davon! Der Teufel soll dich holen, Miststück!`
Der Apotheker legte Marina das Präparat vor und blickte erneut auf das Rezept.
„Das hier ist aber ein äußerst starkes Beruhigungsmittel, Misses Cortez-Shelton. Hat Dr. Mendes mit ihnen über die richtige Anwendung gesprochen?“
„Ja, natürlich.“ nickte sie hastig. „In letzter Zeit kann ich kaum noch schlafen, ich brauche ein starkes Mittel, das schnell wirkt und ein paar Stunden anhält... Aber es soll mir auch hinterher nicht das Gefühl geben, ich sei mit dem Kopf gegen eine Wand gelaufen, ich möchte nur einfach hin und wieder eine Nacht richtig durchschlafen.“
Mister Miller verzog bedenklich das Gesicht.
„Normalerweise beginnt man bei solchen Störungen zunächst mit leichteren Mitteln. Dr. Mendes hat keine Dosierung auf dem Rezept vermerkt. Vielleicht sollte ich in der Klinik anrufen und sicherheitshalber noch einmal mit ihm Rücksprache halten?“
„Nein! Nein… das ist wirklich nicht nötig!“, beeilte sie sich zu sagen. „Eine Kapsel… Nur eine soll ich nehmen, nicht mehr, vor dem Schlafengehen. Und in ein paar Tagen werde ich mich ohnehin wieder bei ihm vorstellen.“
„Na gut.“ Der Apotheker öffnete den Medikamentenschrank mit den verschreibungspflichtigen Mitteln und reichte ihr das entsprechende Präparat.
Marina bezahlte und nickte ihm freundlich zu.
„Haben Sie vielen Dank, Mister Miller.“
„Oh, nichts zu danken, Misses Shelton. Einen schönen Tag noch, und grüßen Sie Ihre Mutter recht herzlich von mir.“ Der ältere Herr begleitete sie zum Ausgang und hielt ihr dienstbeflissen die Tür auf. „Und denken Sie bitte unbedingt daran, wirklich immer nur eine Kapsel. Eine Überdosierung kann leicht zu zeitweisem Gedächtnisverlust führen.“
„Ich werde darauf achten, Mister Miller.“ erwiderte Marina, während sie die Apotheke mit einem zufriedenen Lächeln verließ.
`Vitamine, verschreibungspflichtige Beruhigungsmittel... `, überlegte Anni angestrengt, während sie immer noch vor dem Regal mit der Schönheitslotion hockte. `Ich weiß nicht, irgendwie verträgt sich das nicht so recht miteinander... Na ja, egal, hoffentlich nimmt sie die doppelte Dosis des Beruhigungsmittels und schläft bis...`
„Kann ich Ihnen behilflich sein, Miss?“, fragte der Apotheker, der unbemerkt hinzugetreten war, und betrachtete sie etwas misstrauisch. „Wenn ich Sie darauf hinweisen darf, das hier sind die Schönheits-Lotion für Teenager und junge Mädchen. Ich glaube, Sie sollten doch lieber ein Präparat für die etwas reifere Frau auswählen.“
„Unverschämtheit!“, fauchte Anni empört, sprang auf und verließ grußlos die Apotheke.
*
Außer Atem vom schnellen Laufen kam Marina wenige Minuten später in ihrer neuen Wohnung an. Sie warf die Tür hinter sich zu und lehnte sich schweratmend dagegen. Hastig öffnete sie ihre Handtasche und zog die Packung mit dem Beruhigungsmittel heraus.
Mit einem Mal umspielte ein diabolisches Lächeln ihre dezent geschminkten Lippen.
Es war fast schon zu leicht gewesen...
„Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine kleine Verfehlung, Dr. Mendes! Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann einmal gezwungen sein würde, ein Rezept meines Arztes zu fälschen“, sagte sie zu sich selbst, während sie die Packung nachdenklich von allen Seiten betrachtete. „Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, mein Lieber, denn ich garantiere Ihnen, alles ist ausschließlich zu einem guten Zweck geschehen!“
*
Zum wiederholten Mal sah Matt beunruhigt zur Uhr. Er war eben erst aus dem Büro nach Hause gekommen. Das Treffen mit Marina stand kurz bevor und er war spät dran. Daher beschloss er den Wagen zu nehmen, um nach dem Pflichtbesuch bei seiner Exfrau auf jeden Fall noch bei Danielle vorbeischauen zu können.
Den Türgriff bereits in der Hand, atmete er noch einmal tief durch.
Marinas Einladung zum Abendessen sah er mit gemischten Gefühlen entgegen, denn er war nicht sicher, was sie sich von diesem Abend erhoffte oder versprach. Vielleicht meinte sie es ja tatsächlich ehrlich und wollte lediglich etwas wieder gutmachen.
Seine Gedanken wanderten kurzzeitig zurück in die Vergangenheit.
Sie hatten so schöne Zeiten miteinander verbracht und waren sich beide unendlich nah gewesen, eine wunderbare, tiefe Liebe, die eigentlich für ein ganzes Leben halten sollte...
Nun, es war alles anders gekommen. Marina hatte sich plötzlich gegen ihn entschieden. Und auch, wenn sie ihre Entscheidung inzwischen aus tiefstem Herzen zu bereuen schien, gab es für ihn doch kein Zurück. Tief in seinem Herzen hatte er das immer gewusst, schon von dem Tag an, als sie ihn verließ, auch wenn er ihr sehr lange Zeit nachgetrauert hatte.
Aber er hatte seine festen Prinzipien. Niemals würde er mit einer Frau zusammen sein wollen, die eine Beziehung mit seinem Bruder gehabt hatte, niemals! Das hatte er sich vor langer Zeit geschworen. Er würde nicht zulassen, dass Mason sich noch einmal in irgendeiner Weise in sein Leben drängte, nie mehr!
Mason..., sein Zwillingsbruder, sein Ebenbild, aber leider nur rein äußerlich...
Matt konnte sich bis heute nicht erklären, warum Masons ganzer Lebensinhalt darin zu bestehen schien, ihm immer genau das wegnehmen zu wollen, was ihm das Liebste und Wertvollste war. Bereits als Kind hatte es ihm unbändige Freude bereitet, ihm Dinge zu zerstören, an denen sein Herz hing. Später dann auf dem College nutzte er seine Ähnlichkeit mit Matt, um ihm die Freundinnen auszuspannen und ihm auf diese zweifelhafte Weise seine Überlegenheit zu demonstrieren.
In Erinnerung daran lächelte er bitter.
Eineiige Zwillinge, so hieß es immer, hätten unendlich viel gemeinsam und wären wie durch ein unsichtbares Band auf ewig miteinander verbunden. Woher kam also dieser unbändige Hass Masons?
Seit er sich hier in Sunset City niedergelassen hatte, war es still um seinen Zwilling geworden, und er hatte gehofft, Mason wäre endlich zur Vernunft gekommen und würde ihn fortan in Ruhe lassen, um sich irgendwo mit dem beträchtlichen Vermögen, das sie beide von ihrem Vater am Tag ihrer Volljährigkeit ausgezahlt bekommen hatten, sein eigenes Leben aufzubauen.
Aber dann war er plötzlich hier aufgetaucht und hatte es irgendwie geschafft, ihm seine geliebte Frau zu nehmen.
Unwillkürlich ballte Matt die Fäuste.
Das würde kein zweites Mal passieren! Für ihn existierte sein Bruder nicht mehr, und wenn er doch noch einmal wider Erwarten in sein Leben treten und versuchen sollte, ihm in irgendeiner Weise zu schaden, würde er ihn mit allen Mitteln bekämpfen, notfalls bis zum Äußersten!
Er riss sich gewaltsam aus seinen düsteren Gedanken, nahm seinen Autoschlüssel vom Bord und zog die Tür hinter sich zu.
Das Läuten des Handys, das er unbeachtet auf dem Tisch hatte liegenlassen, hörte er nicht mehr.
*
Marina öffnete ihm lächelnd die Tür, kaum dass er angeklopft hatte. Mit leuchtenden Augen nahm sie die Blumen in Empfang, die er ihr entgegenhielt.
„Weiße Rosen“, schwärmte sie gerührt. „Meine Lieblingsblumen. Das weißt du also noch…“
Etwas irritiert sah er sie an.
„Hör mal, es ist kein halbes Jahrhundert her, seit wir miteinander verheiratet waren, und manche Dinge vergisst man eben nicht.“
Sie nickte hastig.
„Ja, das ist wahr. Schön, dass du da bist, Matt. Bitte, komm herein.“ Sie wies mit einer einladenden Handbewegung auf die Tür zum Wohnzimmer, während sie mühsam die Spannung zu verbergen versuchte, die von ihr Besitz ergriffen hatte, kaum, dass sie ihrem Ex-Mann gegenüberstand. „Erwarte nicht zu viel von der Wohnung, sie ist klein, aber ich finde sie sehr gemütlich.“
Matt trat näher und sah sich kurz um.
Das Zimmer war wirklich nicht sehr groß, aber das riesige Fenster ließ viel Licht herein und bot einen herrlichen Blick aufs Meer, über dem sich der Himmel inzwischen in den schönsten Farben des Sonnenunterganges zeigte.
Die Möbel und der weiche Teppichboden waren sehr hell gehalten, die gemütliche, smaragdfarbene Sitzgarnitur wirkte einladend freundlich und harmonierte perfekt mit den anderen Farben im Zimmer. Links vor dem Fenster befanden sich ein ovaler Tisch und zwei dazu passende Polsterstühle mit hohen Lehnen. Auf dem Tisch standen Kerzen, Gläser und das Geschirr für ein gemütliches Abendessen zu zweit.
Marina arrangierte währenddessen die Blumen in einer Vase auf dem Couchtisch. Sie trug ein cremefarbenes Kleid, hochgeschlossen und mit einem breiten Gürtel, der ihre schmale Taille vorteilhaft betonte. Ihr honigfarbenes Haar fiel weich über ihre Schultern. Sie sah ausgesprochen hübsch aus. Äußerlich wirkte sie ruhig und ausgeglichen, doch Matt kannte sie genau und vermeinte ihre Nervosität in jeder einzelnen ihrer Bewegungen zu spüren.
Er betrachtete sie einen Augenblick lang und fühlte erneut, dass die alte Vertrautheit zwischen ihnen ein für alle Mal verschwunden war.
Früher hätte er bei ihrem Anblick keinen Augenblick gezögert, sie in seine Arme zu nehmen und auf alles andere zu verzichten, die Zeit zu vergessen...
Aber heute und hier verspürte er nur den Wunsch, diesen Abend schnellstmöglich hinter sich zu bringen.
Marina lächelte traurig, als hätte sie seine Gedanken erraten.
„Ich hoffe, du hast etwas Hunger mitgebracht“, sagte sie hastig, um die Spannung zu überbrücken, die unsichtbar im Raum lag und die sie beide fühlten. „Ich werde das Essen hereinholen.“
„Soll ich dir helfen?“, fragte er, doch sie schüttelte den Kopf.
„Nein danke, genieß du nur inzwischen den phantastischen Sonnenuntergang. Den hast du doch immer so gemocht.“
Wortlos trat er ans Fenster und sah hinaus.
Seine Gedanken wanderten zu Danielle.
Wie gerne würde er jetzt mit ihr am Strand entlanggehen, Hand in Hand, im Schein der untergehenden Sonne, den lauen Abendwind im Haar...
`Ich hätte sie anrufen und ihr von der Einladung erzählen sollen`, überlegte er und spürte plötzlich Gewissensbisse. Allerdings war er nicht ganz sicher, ob sie dieses Treffen mit seiner Exfrau auch wirklich richtig interpretiert hätte.
„Matt?“
Marina stand hinter ihm und hielt zwei gefüllte Champagnergläser in der Hand, von denen sie ihm eines reichte.
„Trinken wir auf die Zukunft, auf deine und auf meine. Möge sie jedem von uns das Beste bringen!“
*
„Pause, Leute“, rief Dean und hob hinter der Bar ein paar Flaschen in die Höhe. „Höchste Zeit für eine kleine Stärkung! Es gibt Tequila Sunset alkoholfrei!“
Sofort nahmen alle in fröhlicher Runde um die Bar herum Platz und hoben ihre Gläser.
„Auf das OCEANS und seine neuen Besitzer!“
„Möge das Haus immer voll sein!“
„Und die Kasse auch!“
„Nanu, ich dachte, hier wird hart gearbeitet?“, erklang plötzlich von der Treppe zum Eingang her eine fremde Stimme.
Alle Köpfe flogen erstaunt herum.
Eine schlanke, junge Frau mit schwarzglänzender Lockenmähne und dem typisch bronzefarbenen Teint einer Afroamerikanerin stand auf der Treppe und lächelte ihnen freundlich zu. Sie trug Jeans und einen hellen Blazer, und über ihrer Schulter hing eine teuer aussehende Kamera. Ihre dunklen Augen blickten amüsiert in die Runde, während sie mit einem Schreibblock im Arm zögernd nähertrat.
Luke sprang von seinem Barhocker und umarmte sie herzlich.
„Darf ich vorstellen, Alena Jenkins, Redakteurin beim SUN NEWS. Alena, das sind meine Freunde aus Mitchs Wohngemeinschaft. Und hier sind Chelsea und Dean, die neuen Besitzer des OCEANS.“
Lächelnd reichte die junge Reporterin allen die Hand.
„Ich dachte, etwas Werbung für den Neubeginn wäre bestimmt nicht verkehrt“, erklärte Luke und grinste.
„Es ist schön, wenn man Freunde hat, die einem helfen.“ Alena nahm Platz und sah sich interessiert um. „Falls Ihr nichts dagegen habt, werde ich mir ein paar Notizen machen und, sobald die Pause vorbei ist, noch ein paar Fotos schießen. Voraussichtlich kommt der Artikel schon morgen in die neuste Ausgabe des SUN NEWS.“
So saßen sie eine ganze Weile beisammen, schwatzten wild durcheinander und überlegten gemeinsam, wie sie den Raum noch vorteilhafter gestalten könnten, während sich die junge Reporterin eifrig Notizen machte.
„Habt ihr euch inzwischen schon entschieden, wie ihr die Wand hinter dem Musiktresen gestalten wollt?“, fragte Randy.
„Ich möchte einen Sonnenuntergang über dem Ozean“, verkündete Chelsea begeistert.
„Einen… was?“ Dean rümpfte abfällig die Nase. „Das hier ist eine Tanzbar und kein Kitsch-Kabinett!“
„Hast du`nen Knall?“, fuhr ihn Chelsea wenig damenhaft an. „Was hat denn ein Sonnenuntergang mit Kitsch zu tun? Erstens befinden wir uns in einer Stadt Namens Sunset City, zum anderen nennt sich der Laden OCEANS. Vielleicht solltest du diese Tatsachen bei der Gestaltung beachten und mal ein wenig Kreativität zeigen.“ Bevor jemand von den Anwesenden etwas einzuwenden vermochte, schüttelte sie energisch den Kopf. „Und wir werden die Bar auf gar keinen Fall umbenennen, das kommt gar nicht in Frage.“
„Nun halt aber gefälligst mal die Luft an, Partner“, protestierte Dean halb belustigt, halb erstaunt. „Deine Vorschläge in allen Ehren, aber darüber müssen wir beide uns dringend unterhalten.“
Bevor Chelsea widersprechen konnte, mischte sich Alena ein.
„Also ich kenne da eine sehr talentierte Hobbymalerin. Sie hält sich seit kurzem wieder in der Stadt auf und könnte euch die Wand genau nach euren Vorstellungen gestalten. Wenn ihr einverstanden seid, rufe ich sie an und vereinbare einen Termin mit ihr.“
Chelsea vergaß ihren Groll und klatschte begeistert in die Hände.
„Oh ja, Alena, das wäre toll.“ Sie bedachte Dean mit einem gespielt drohenden Blick. „Was sagst du, Partner?“
„Meinetwegen“, knurrte er beifällig. „Du gibst ja sowieso nicht eher Ruhe.“
Einige Zeit später erschien auch Suki, die inzwischen ihren Dienst in der Klinik beendet hatte.
„Habt ihr mir auch noch etwas Arbeit übrig gelassen?“, erkundigte sie sich angesichts des geschäftigen Treibens, das im OCEANS herrschte, belustigt.
„Du könntest unten im Weinkeller die Bestände aufnehmen“, schlug Randy vor. „Dann weiß Dean, was er morgen alles einkaufen muss.“
„Gibt es da unten Spinnen?“, fragte sie skeptisch.
Randy grinste.
„Keine Ahnung, es ist zu dunkel, um das zu beurteilen.“
Suki nagte nervös an ihrer Unterlippe.
„Ja also, ich weiß nicht…“
„Das war doch nur ein Scherz!“, lachte er schelmisch und reichte ihr Stift und Notizblock, während ihre dunklen Mandelaugen heimlich den Raum nach Mitch absuchten. Zu ihrer heimlichen Enttäuschung konnte ihn nirgends entdecken. Mit einem verhaltenen Seufzen machte sie sich schließlich auf den Weg und stieg die Treppe hinter der Bar hinunter in den Weinkeller.
Unten brannte Licht und Suki spähte neugierig durch die spaltbreit geöffnete, schwere Eichentür. Zu ihrem Erstaunen erblickte sie Mitch, der bereits eifrig am Zählen war und die Bestände sorgsam in eine Liste einschrieb.
Nachdenklich verharrte sie einen Augenblick.
War es Absicht von Randy gewesen, sie zu Mitch in den Keller zu schicken? Oder hatte er in seiner Hektik einfach nur vergessen, dass bereits jemand von ihnen hier unten beschäftigt war?
Mitch hatte sie noch nicht bemerkt und sie beobachtete fasziniert, wie konzentriert er bei der Sache war. Wieder einmal stellte sie fest, was für ein attraktiver Mann er war. Aber sein gutes Aussehen allein war es nicht, was ihr so an ihm gefiel und ihn derart interessant erscheinen ließ. Es war einfach seine lockere, offene und zugleich ehrliche Art, die sie jedes Mal aufs Neue aus ihrem inneren Gleichgewicht brachte.
Einen Augenblick lang dachte sie an Jin, ihren stets rational denkenden, ehemaligen Verlobten, den Wunsch-Schwiegersohn ihrer Eltern, der mit seiner endlosen Vernunft alles im Voraus plante und dessen langweilige Prinzipien sie bereits vor der Ehe regelrecht ermüdet hatten.
Mitch dagegen war so herrlich spontan und chaotisch, er verstand es, sie immer wieder aufs Neue zu überraschen, forderte sie heraus und brachte sie dazu, in gewissen Situationen ihr Leben, ja sogar ihren Glauben zu hinterfragen. Er umwarb sie auf eine charmant draufgängerische Art, die ihr bislang fremd gewesen war, und die ihr Herz in seiner Nähe jedes Mal sofort höherschlagen ließ.
So wie jetzt…
Trotzdem verunsicherte sie ihre ungewohnt heftige Reaktion auf diesen Mann, den sie immerhin erst so kurze Zeit kannte.
Was war nur los mit ihr? Hatte sie sich etwa verliebt?
Sie fühlte sich innerlich noch nicht stark genug, um sich einer Herausforderung dieser Art zu stellen. Liebe war momentan in ihrem Leben nicht eingeplant. Irgendwann vielleicht, aber nicht hier und nicht jetzt…
Eilig wollte sie sich zurückziehen, doch bevor sie auch nur einen Schritt hatte tun können, hob Mitch den Kopf und drehte sich zu ihr um, als hätte er ihre Anwesenheit gespürt.
„Shugar!“ Er strahlte sie mit seinem jungenhaften Charme entwaffnend an. „Hey, wie schön, dass du da bist. Kannst mir gleich ein wenig helfen, wenn du magst. Komm, schreib das mal auf...“ Als sei ihre Anwesenheit die natürlichste Sache der Welt, trat er wieder ans Weinregal und fuhr mit seiner Arbeit fort, so dass Suki keine andere Wahl blieb, als seiner Aufforderung nachzukommen. Sorgfältig begann sie Namen und Anzahl der Flaschen, die er ihr nannte, zu notieren. Dabei achtete sie jedoch peinlich genau darauf, dass sie ihm nicht zu nahekam, falls er sich plötzlich zu ihr herumdrehen würde. Und so kam es, dass sie eine hinter ihr stehende Kiste mit Unmengen von Akten und Rechnungen darin übersah und dagegen stieß, worauf sie das Gleichgewicht verlor, die Kiste umriss und mit einem erschrockenen Aufschrei mitten in einem Stapel herumfliegender Papiere landete.
Sofort war Mitch zur Stelle, und ehe sie sich versah, nahm er sie einfach in die Arme, als wäre sie leicht wie eine Feder, und half ihr wieder hoch.
„Hast du dir wehgetan?“, fragte er besorgt, ohne sie loszulassen.
Sie konnte nur stumm den Kopf schütteln und vermochte ihren Blick nicht von seinem Gesicht zu lösen, denn sie waren einander plötzlich viel zu nah.
In ihren dunklen Mandelaugen lag ein geheimnisvoller Glanz, entstanden irgendwo zwischen dem intuitiven Wunsch nach Flucht und der heimlichen Sehnsucht nach seiner Nähe.
„Mitch… ich weiß nicht… ich…“ Ihre Stimme zitterte und versagte schließlich ganz, als sie sah, wie er lächelte.
„Oh nein, dieses Mal wird uns niemand in die Quere kommen“, flüsterte er und gab, ohne seine Haltung zu verändern, der Tür hinter sich einen kurzen Tritt, so dass sie geräuschvoll ins Schloss fiel. Langsam und genüsslich senkte er seine Lippen auf ihren Mund und löschte mit einem leidenschaftlichen Kuss schlagartig alle Zweifel und Widersprüche in ihr aus, während er sie inmitten einer Welle heißer Lust eng an sich heranzog. Sie durchlebte einen Augenblick der Schwerelosigkeit, schlang ihre Arme haltsuchend um seinen Nacken und krallte sich mit zitternden Fingern im Kragen seines Shirts fest. Ihre Lippen öffneten sich für ihn und sie erwiderte mit leisem Aufstöhnen die Zärtlichkeit, die er ihr schenkte.
Seine Arme hielten sie sicher und während seine Hände leicht über ihren Rücken streichelten, jagten wohlige Schauer durch ihren Körper und ließen sie erbeben.
Irgendwann lösten sie sich schweratmend voneinander.
Benommen starrten sie einander an.
Mitch fing sich als erster. Er strich Suki zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn und lächelte.
„Wow… Shugar-Baby… ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.“
Seine Worte schienen Suki endgültig wieder zur Besinnung zu bringen.
Mit einem Ruck löste sie sich aus seiner Umarmung, drehte sich wortlos um und riss panisch die Tür auf.
„Suki?“ Er wollte ihr folgen, doch sie war schneller. Wie gehetzt lief sie die Stufen hoch und war imnu aus seinem Blickfeld verschwunden.
Ratlos hob er die Schultern.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“