Ich fühlte, dass mein Magen schmerzte. Ich hörte einzelne Gesprächsfetzen.
„Arzt rufen…. Es wird alles gut…Ich glaube, sie hat sich bewegt.“
Ich schlug die Augen auf und blinzelte die Tränen weg. „Was, was ist passiert?“ fragte ich. Meine Stimme klang erschreckend dünn und rau. „Wir hätten beinahe einen Unfall gebaut.“ Irgendwie klang diese Feststellung wie ein Vorwurf. Anna legte Liv beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Schon gut.“ Sagte sie an mich gewandt.
„Du bist ohnmächtig geworden.“
„Während der Fahrt?“ Ich schlug mir die Hand vor den Mund.
Dieses Fehlverhalten meines Körpers hätte mich und meine Freundinnen beinahe das Leben gekostet. Ich begann zu zittern.
„Es…Es tut mir so leid… Ich wollte das nicht.“ Die Worte klangen hilflos.
„Schon gut es ist ja nichts passiert. Aria hat den Wagen ja glücklicherweise rechtzeitig auf den Pannenstreifen gelenkt.“ Anna klang wie irgendeine gütige Mutter, die ihrem kleinen, dummen Kind irgendetwas erklärte.
Ohne dass ich es wollte, begann mein dummer Körper nun auch noch zu weinen und wurde von Schluchzern erschüttert. Ich mag mich selbst nicht. Ich habe mich selbst noch nie gemocht. Aber was ich noch weniger mag als mich, ist, wenn ich anderen zur Last falle oder schwach erscheine. Ich wollte stark sein und die anderen beschützen. Nicht umgekehrt. Doch genauso war es im Moment. Ich konnte nicht einmal selbst aufstehen, geschweigen denn gehen. Also beschloss ich es gar nicht erst zu versuchen und den anderen noch mehr zur Last zu fallen. Ich drehte mich mit dem Gesicht zur Wand und blieb so liegen, während ich mich fragte, was nur mit mir los war.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und fuhr zusammen, entspannte mich allerdings sogleich wieder, als ich bemerkte, dass es Aria war. Sie setzte sich zu mir an die Bettkante und strich mir über den Rücken.
„Weißt du eigentlich, wie sehr du mich erschreckt hast?“
Ich fröstelte. „Es tut mir so unglaublich leid! Das musst du mir glauben. Ich wollte das doch nicht…“
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich sauer bin auf dich, oder?“ wenn ich Aria nicht so gut kennen würde, dann hätte ich gesagt, ihre Stimme klang belustigt, aber sie war zutiefst besorgt. „Ich habe gedacht du stirbst! Du hast mir nicht mehr geantwortet und dann hingst du plötzlich wie tot über dem Lenkrad…“
Ich hörte, dass sie eigentlich noch mehr sagen wollte. Die Worte hingen unausgesprochen zwischen uns. Und ich fragte mich von Moment zu Moment mehr, was sie wusste, an das ich mich einfach nicht mehr erinnern konnte.
Als wir schließlich endlich in Berlin ankamen, war uns allen die Lust aufs feiern gründlich vergangen. Wir parkten den Bus einfach irgendwo am Straßenrand und krochen alle in unsere Betten. Der Schreck saß mir noch so tief in den Knochen, dass ich lange wach lag. Ich hatte das Gefühl, die Erinnerung an gestern Abend beinahe greifen zu können, aber jedes Mal wenn ich es versuchte entglitt sie mir wieder.
Mitternacht war längst vorbei als ich langsam einschlief. Dann, als ich schon beinahe wach war, hörte ich ein Weinen. Anfangs dachte ich, ich würde bereits träumen, aber dann merkte ich, dass ich vollkommen wach war. Das Geräusch schien aus dem Bett über mir zu kommen. Von dort wo Aria schlief. Da war ich mir ganz sicher, weil die anderen beiden, Anna und Liv in dem ausklappbaren Zelt auf dem Dach schliefen. Sie hatte oftmals Alpträume und weinte oder schrie im Schlaf.
Leise stieg ich aus der Bett und kletterte die Leiter nach oben zu ihr. Ich kniete mich auf ihr Bett und strich ihr vorsichtig über den Rücken. Sie öffnete die Augen und schauten mich an. Ihre Schultern zuckten und ihre Augen waren gerötet. Also hatte sie tatsächlich geweint. Ich schob ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte sie an. Sie lächelte dankbar zurück und rutschte ein Stück zur Seite.
Das überraschte mich. Aria war eigentlich nicht der Typ Mensch der auf Körperkontakt stand. Eigentlich ganz und gar nicht. Noch überraschter war ich allerdings, als sie sich, nachdem ich zu ihr ins Bett gestiegen war, an mich heranschmiegte und einen Arm um meine Talje legte. Ich musste wieder an den seltsamen Blick denken, den sie mir heute, oder besser gesagt gestern Morgen zugeworfen hatte und fragte mich, ob das wohl etwas mit dem, was am Freitagabend geschehen war, zu tun hatte. Ich wusste es nicht.
Ich grübelte noch lagen nach, aber irgendwann muss ich dann wohl doch eingeschlafen sein, denn am nächsten Morgen weckten mich der Geruch von frischen Waffeln der mir in die Nase stieg. Anna war schon lange wach und hatte mit dem Frühstück begonnen. Auch Aria war mittlerweile aufgewacht und deckte den Tisch.
Als ich zum Bett schräg über mir schaute, sah ich, dass Liv genau wie ich noch in dem Federn lag. Verschlafen blinzelte sie mir zu und runzelte die Stirn. Ihr war wohl auch aufgefallen, dass ich nicht im selben Bett aufwachte, wie ich eingeschlafen war. Ich zuckte nur mit den Achseln, was sie mit einem Grinsen quittierte und erhob mich dann. Verschlafen ging ich zu den anderen und setzte mich an den Tisch. Irgendwann kam dann auch noch Liv und murmelte irgendetwas von wegen belgische Waffeln seien viel besser, bevor sie gierig zu essen begann.
Als wir fertig gefrühstückt hatten, beschlossen wir und noch etwas in der Stadt umzusehen, um nachzuholen, was wir gestern versäumt hatten. Also schlenderten wir den ganzen Morgen durch die Straßen von Berlin, gingen zum Fernsehturm, zum Brandenburger Tor und schauten und die Übererste der Berliner Mauer an, bevor wir weiterfuhren. Ich spürte den ganzen Morgen über nichts von meinen Bauchschmerzen und es war, als ob es den Zwischenfall von gestern Abend gar nie gegeben hätte.
Wir hatten eigentlich bereits über die Hälfte der Strecke bis nach Danzig geschafft, beschlossen allerdings trotzdem den nächsten Teil der Reise in zwei Tage aufzuteilen und dafür der Küste entlang zu fahren, anstatt die ganze Zeit nur auf den großen Schnellstraßen im Landesinneren unterwegs zu sein. Ich würde in der nächsten Zeit wohl nicht mehr fahren, was mir nur recht war, mir allerdings sofort wieder ein schlechtes Gewissen verursachten, weil die anderen sich abmühten, währendem ich die ganze Zeit nur herumsaß.
Wir passierten die polnische Grenze ohne Schwierigkeiten und fuhren immer weiter in den Osten. Nach einiger Zeit schließlich, beschloss ich mich nützlich zu machen. Zuerst bereitete ich einen Brotteig vor und begann dann zuerst die Küche und dann den Rest des Wohnmobils auf Vordermann zu bringen, was in Prinzip eigentlich vollkommen unnötig war, weil wir erst gestern losgefahren waren, mich aber beruhigte. Ich war froh, dass ich keine Bauchschmerzen mehr bekam und hoffte, dass sich so etwas wie das gestern so schnell nicht mehr wiederholen würde.
Nach einigen Stunden hielten wir vor einem Hof, auf den uns ein Schild verwiesen hatte, auf dem stand, dass man hier frisches Gemüse, Eier, Fleisch und Käse kaufen konnte. Schließlich machen wir irgendwo in einem kleinen Ort direkt am Meer halt und beschossen spontan, baden zu gehen. Die Ostsee was ganz schön kalt, aber das war uns egal. Schließlich war es unser Sommer.
Er gehörte ganz alleine uns und nichts und niemand konnten uns davon abhalten genau das zu tun, was wir wollten. Und genau das schworen wir uns, als wir an diesem Abend rund um das Lagenfeuer saßen, das wir entzündet hatten.
Dass dies unser Sommer sei und dass wir diesen Sommer unbesiegbar sein würden. Die Sonne schien am Horizont für uns anzuhalten, während wir den Strand entlang rannten, lachten und unser Leben genossen, als ob es kein Morgen gäbe. An diesem Abend saßen wir lange zusammen und unterhielten uns. Es ging um Jungs, uns und um unsere Zukunft. Dazu assen wir, was wir auf dem Hof gekauft hatten, zusammen mit dem Brot, das ich heute früh vorbereitet und das wir später über dem Feuer gebacken hatten.
„Emma, möchtest du noch ein Stück Speck? Emma?“ Aria holte mich aus meinen Gedanken.
Hätte sie nicht noch etwas warten können? Ich war gerade dabei gewesen mich zu erinnern. Ich hatte ein grünes Kleid getragen. Mehr wusste ich immer noch nicht. „Was? Nein danke. Ich habe keinen Hunger mehr.“
„Du hast beinahe nichts gegessen.“ Anna schaute mich von der Seite an.
„Das bildest du dir bestimmt nur ein. Du bist einfach überfürsorglich.“ Damit war das Thema gegessen und wir sprachen darüber, was wir jetzt tun wollten, da wir mit der Schule fertig waren.
Liv wusste schon genau was sie werden wollte. Sie wollte ihr eigenes Hotel eröffnen, am liebste im Ausland. Dafür würde sie die Hotelschule in Luzern besuchen. Auch Anna hatte schon eine ziemlich genauen Plan. Aria wollte einerseits gerne ins Ausland, wollte aber andererseits gerne mit uns eine WG gründen und mit mir zusammen die Aufnahmeprüfung an die Schauspielschule versuchen, abgesehen davon, würde sie gerne genau wie ich ihr eigenen Buch veröffentlichen.
Ich dachte lange, ich würde gerne Psychologie studieren, aber ich habe ich dann doch dafür entschieden, nach diesem Sommer ein Medizinstudium zu beginnen. Mir gefällt der Gedanke, mit meinen Taten anderen Menschen Gutes zu tun einfach.
Aus einer Laune heraus, schlug ich vor, draußen zu übernachten und sofort waren alle Feuer und Flamme für die Idee. Wir schleppten unsere Matratzen nach draußen und nahmen uns zusätzlich zu unseren normalen Decken noch Wolldecken und unsere Schlafsäcke, die vorsichtshalber mitgenommen hatten mit. Dann legten wir uns alle nebeneinander, aßen die Butterbrote, die Anna noch schnell gestrichen hatte und unterhielten uns weiter. Die Sterne über uns leuchteten so hell und klar, dass sie beinahe zum Greifen nahe schienen. Wir lachten und kicherten über die seltsamsten Dinge, auf die nur wir vier kommen konnten.
„Wisst ihr was ich glaube?“ fragte Liv plötzlich.
„Nein, was denn?“ wollte ich wissen.
„Vielleicht hat sie einen Freund von dem wir nichts wissen.“ meinte Aria, und Anna und sie begannen zu lachen.
„Ich glaube diese ganze Welt ist eigentlich nur ein Experiment, um herauszufinden, wie der Mensch sich verhält, und jeder Mensch außer mir ist eigentlich ein unglaublicher intelligenter Alien und ihr stellt euch alle nur dumm, um mich zu erforschen.“
Ich lachte auf. „Ernsthaft jetzt?“
„Ja klar wieso nicht?“ Wir begannen wieder alle vier zu lachen.
„Naja, vielleicht ist es aber auch wie in Matrix, ihr wisst schon, dass wir eigentlich unser ganzes Leben lang nur irgendwo liegen und uns das alles nur vorstellen.“ Wandte Aria ein.
Anna nickte zustimmend. „Das will ich mir lieber gar nicht vorstellen.“
Ich lachte. „Euer Ernst? Und wenn es so ist, wieso sollte man sich dann Gedanken darübermachen, wir wissen es nicht, und selbst wenn wir es wüssten, könnten wir es nicht ändern.“
„Und genau deshalb wirst du schwanger!“ rief Aria voller Euphorie.
Das war ein Insiderwitz, den niemand außer uns vieren verstand. Als wir noch jünger waren, begann Aria irgendwann eine Geschichte, besser gesagt eine Art Drehbuch zu schreiben, wie es wäre, wenn wir eine gemeinsame WG hätten. In der Geschichte ließ sie mich dann schwanger werden, weil ich anscheinend immer zu realistisch blieb und am schnellsten Kopfrechnen konnte. Und irgendwie hatte sich dieser Witz über all die Jahre gehalten.
Ich rollte mit den Augen und grinste in die Runde. „Kenn jemand eine Grusengelschichte? Ich hätte geraden unglaublich Lust auf eine Gruselgeschichte.“ Erst schwiegen alle, aber dann räusperte sich Aria:“ Es ist zwar keine Gruselgeschichte, aber ich erzähle euch jetzt die Geschichte über meine wahre Herkunft.“
„Aha?“ ich zog spöttisch die Augenbrauen nach oben. „Dann erzählst du uns jetzt also von den Liebesorgien deiner Eltern und wie du dabei entstanden bist?“
Wir musterten uns einen Moment lang, aber dann konnten wir nicht mehr anders. Wir prusteten los.
„Nein, ich meine wo ich wirklich herkomme.“ Sie nahm sich die Taschenlampe und hielt sie sich unter ihr Kinn.
„Es war eine Stürmische Nachte im Orient, als…
“Du kommst aus dem Orient?“ Liv schaute skeptisch drein. „Dann wissen wir wenigsten, woher sie ihre Schlitzaugen hat. „Warf ich ein
„Ruhe jetzt.“ Aria erzählte weiter.
„Also, es war eine stürmische Nacht im Orient, als ich geboren wurden. Tochter eines einflussreichen Mannes mit Schatten- und Sonnenseiten. Ich bekam oft seine Schattenseite zu spüren, aber das machte mich wild und stark. Mit fünf begann er mich in Karate und Kickboxen unterrichten zu lassen, mit acht auch in Fechten und mit zehn schoss ich meine erste Kugel.“
Wenn ich gekonnt hätte, dann hätte ich jetzt eine Augenbraue in die Höhe gezogen aber da ich das nicht konnte, Schob ich beide Augenbrauen in Richtung Haaransatz. Auch Liv neben mir musste sich das Lachen verkneifen, während Aria es tatsächlich schaffte, vollkommen ernst zu bleiben. Nur Ihren Augen lachten mit.
„Und dann, an meinem 14. Geburtstag, begleitete ich meinen Vater auf eine Mission. Sie ging schief und wir gerieten in einen Hinterhalt. Dort wurden wir dann 2 Tage lang festgehalten, bevor mein Vater uns freikaufen konnte. Und seit dann bin ich hier auf geheimer Mission unterwegs, um den IS aufzuspüren.“
Ich platzte dazwischen: “Genau. Und deshalb haben wir deinen 14. Geburtstag auch nicht gemeinsam gefeiert, gibt es weder Kinderfotos von dir mit deiner Familie noch welche mit uns dreien bevor du älter als 14 bist, und um den IS ausfindig zu machen, zieht man auch ganz sicher in ein 40'000 Einwohner Kuhdorf wie Chur.“
„Mann Emma! Das ist unfair. Du machst immer alles kaputt.“ Sie lachte. „Die anderen hätten mir die Geschichte ja vielleicht geglaubt.“
In gespielter Wut warf sie ein Kissen nach mir. Ich pfefferte sofort zurück.
Und so begannen wir eine Kissenschlacht unter den polnischen Sternen.