VERGANGENHEIT
„Was passiert jetzt?“ fragte der Deutsche, nachdem Marco gegangen war.
Francesco betrachtete seinen Freund. Er liebte dessen rotes Haar, welches gerade in alle Richtungen abstand. Dieses Aussehen passte perfekt zu seiner Ratlosigkeit.
Der Italiener seufzte innerlich. Wie gerne hätte er dem anderen mehr, wenn nicht gar alles, offenbart. Aber es gab Dinge, die brauchte Hubert nicht zu wissen. Um seiner Sicherheit willen.
„Nichts“ lenkte er deshalb ab. „Ich werde heute Abend gegen vier Uhr losfahren und bis dahin haben wir alle Zeit für uns“.
Was auch stimmte. Zärtlich strich er ihm über den Kopf und brachte die Frisur dadurch noch mehr durcheinander.
Das sah einfach süß aus. Und lenkte ihn davon ab, dass er Hubert nicht seinem Vater vorstellen konnte. Heute nicht und auch zukünftig nicht. Denn was hätte sein Lebensgefährte wohl dazu gesagt, dass sein Vater so alt aussah wie er selbst?
Tatsächlich jedoch war sein Erzeuger gut 300 Jahre älter.
Was leider auch dazu führte, dass der Patron bisweilen etwas altmodische Ansichten hatte, was die Sexualität betraf. Sicher, Homosexualität war nichts Neues, das gab es schon immer. Auch wenn manche Interesse daran hatten, dies zu leugnen und unter den Teppich zu kehren.
Aber er wollte sich gar nicht vorstellen, wie der Alte reagieren würde. Daher hatte er bei einem dieser Familientreffen ganz ‚zufällig‘ erwähnt, seit kurzem eine Bekannte namens „Huberta“ zu haben, aber unsicher sei, ob sie wirklich zu ihm passen würde.
Seine Hoffnung, damit den ewigen Fragen ausweichen zu können, erwiesen sich jedoch als trügerisch, ganz im Gegenteil. Ein Schuss in den Bug, sozusagen.
Er wurde nun erst recht bedrängt mit der Frage, ob Huberta denn nun die richtige sei und wenn nicht, ob da keine andere Frau in Sicht wäre. Wann er sie denn mal endlich vorstellen würde. Und Marco machte sich einen Spaß daraus, ihn und seinen Partner mit dem Namen aufzuziehen.
Ganz anders dagegen seine Mutter. Sie war moderner und aufgeschlossener, und möglicherweise ahnte sie auch die Wahrheit. Die Brüder hatten sich stets gewundert, wie ihre Eltern damals zusammengekommen waren, so unterschiedlich im Charakter, wie beide waren.
Natürlich sah Teresa jung aus – schließlich war auch sie selbst ein Vampir. Tatsächlich betrug der Altersunterschied zu ihren Söhnen jedoch nur 26 Jahre. Was schlicht der Tatsache geschuldet war, dass sie damals noch eine Sterbliche gewesen war, als sie schwanger wurde.
Die Natur war manchmal ein seltsames Ding. Männer konnten auch als Untote, sprich Vampire, Kinder zeugen, zum Gebären musste man jedoch sterblich sein, von wenigen unerklärlichen Ausnahmen abgesehen. Auch eine Art von Geburtenkontrolle.
So oder so, nach zwei Kindern war es seinem Vater genug gewesen und er hatte seine Frau gewandelt. Vielleicht nicht typisch für einen Italiener, die ja bekanntlich gerne eine große Familie um sich haben. Man durfte aber nicht vergessen, dass Alfonso wesentlich älter war als er aussah und es nicht ganz einfach und zudem kostspielig war, das nötige Blut für seine Nachfahren täglich durch Blutkonserven zusammenzubekommen.
Die Zeiten, in denen man sich lebende Opfer suchte und sie einfach aussaugte, waren schon sehr lange vorbei.
Ja, nicht nur die Menschen, auch die Vampire waren zivilisierter geworden und es galt mittlerweile als barbarisch, Lebenden mit Gewalt Blut abzunehmen, egal ob man sie dadurch tötete oder nicht. Zumindest in den Kreisen, in denen sich die Familie Cattaneo bewegte.
‚Altmodische‘ Vampire gab es jedoch nach wie vor. Und auch er spürte bisweilen das Verlangen, seinem Freund im wahrsten Sinn des Wortes an die Gurgel zu gehen und sich zumindest ein wenig an seinem Blut zu laben. Es gelang ihm aber stets rasch, seine Gier zurückzudrängen und das Wohlergehen seines Freundes über das seine zu stellen.
Ja, das vampirische Erbe.
Meist schlugen diese Gene zu, wenn der Träger zwischen Zwanzig und Dreißig war und wandelten ihn automatisch. Es gab aber auch Ausschläge bezüglich des Zeitpunkts in beide Richtungen und gelegentlich wurden das Erbgut auf rätselhafte Weise nicht aktiv, was bedeutete, dass die Nachfahren ihr Leben lang Sterbliche blieben.
Dieser Zustand war natürlich für alle schwierig und eigentlich eine Katastrophe, da diese Menschen auch auf klassische Art nicht gewandelt werden konnten.
Und wer bringt auch sein eigenes Fleisch und Blut um, denn das wäre die einzelnen weitere Alternative gewesen?
So galt dieser Konstellation als nicht immer einfaches Schicksal, welches manche recht gut, andere nur schwer meisterten. Schließlich hatten sie Jahre darauf gehofft und gewartet, zum Vampir zu werden. Die magische Grenze galt bei 45 Jahren – wer da immer noch kein Blutsauger war wusste, dass er sich auf ein sterbliches Leben einstellen musste.
Es gab sogar Vampirpsychologen, Selbsthilfegruppen und Heiratsbörsen für die Betroffenen. So konnte sich ihresgleichen finden und sie hatten jemanden, mit dem sie offen über diese schwierige Lebenssituation, die sie gemeinsam hatten, sprechen konnten.
Und waren nicht mehr alleine zwischen all den vampirischen Verwandten.
Francesco selbst war froh, dass seine Familie davon verschont geblieben war, wenn auch sie ihre Probleme hatten. Denn seit einigen Jahren lebten sie ohne ihre Mutter, die in Italien geblieben war.
Leider hatten sich seine Eltern mit den Jahren auseinandergelebt. Wie schon erwähnt, waren sie sehr verschieden.
Es mochte aber auch daran liegen, dass seine Mutter nie ganz mit dem Vampirdasein und den damit verbundenen Wesensveränderungen zurechtkam und unbewusst ihren Mann dafür verantwortlich machte.
Was ja auch stimmte.
Sein Vater war auch nicht der Typ, der Probleme diplomatisch anging und so kam es, wie es kommen musste: als Alfonso ins kalte Deutschland auswanderte, blieb Teresa zurück und ließ ihren Ehegatten mitsamt den Söhnen schweren Herzens ziehen.
Dabei überwieg die Vernunft; dass die Geschwister dort beruflich mehr Möglichkeiten hätten als im leicht chaotischen Italien – denn insbesondere Unsterbliche brauchten eine Aufgabe und Herausforderungen, um sich nicht zu langweilen und mit den Jahren verrückt zu werden.
Es gab in Deutschland ein gut vernetztes Geflecht anderer wohlgesonnener vampirischer Clans oder Sympathisanten, so dass es kein Problem gewesen war, schnell Fuß zu fassen und beruflich etwas Geeignetes zu finden.
Auch Blutkonserven waren durch entsprechende Kanäle zu bekommen, wenn auch etwas kostspielig war.
Die Schwierigkeit für den Italiener bestand vielmehr darin, seine doch etwas spezielle Nahrung vor Hubert geheimzuhalten und menschliches Essen, so gut es eben ging, zu vermeiden.
Es war nicht tödlich oder schädlich. Da den Vampiren jedoch entsprechende Enzyme fehlten, und sie nichts davon verwerten konnten, waren Frühstück & Co. einfach unnötig und verursachten oft üble Magenschmerzen.
Trotz alle diesen Schwierigkeiten und Geheimnistuerei fühlten sich beide Brüder gut integriert und genossen die Annehmlichkeiten und den Wohlstand dieses Landes.
Das Einzige, was Francesco in Germania zu schaffen machte, waren die verregneten Sommer und die feucht- kalten Winter.