VERGANGENHEIT
Bevor Marco in sein Auto stieg, blickte er nach oben. In der Wohnung seines Bruders brannte Licht und daher konnte er die beiden Silhouetten der Männer nahe dem Fenster gut ausmachen. Das Schlafzimmer lag direkt auf der Seite des Parkplatzes. Man brauchte keine große Fantasie um zu erahnen, was Francesco und Hubert wohl gleich treiben würden.
Ein leises Lachen seines Bruders, dann trat er in seine Richtung zum Fenster, welches bisher auf Kippe gestanden hatte. Rasch wurde es geschlossen und der Vorhang zugezogen.
So war das Kino also vorbei, bevor es begonnen hatte.
Marco seufzte. In Liebesdingen hatte sein Bruder wohl mehr Glück als er.
Er war schon dankbar, dass Yvonne nicht gleich abgelehnt hatte, als er vorgeschlagen hatte, sich mit ihm heute in der Stadt für einen Kaffee zu treffen. Durch die Verpflichtung gegenüber seinem Vater war ihm leider dafür keine lange Zeitspanne vergönnt. Spätestens um halb 4 würde er sich daher von ihr verabschieden müssen.
Leicht frustriert ließ er den Motor an und fuhr los.
Ein Gutes hatte die Sache – es war November und trüb. Daher konnte er sich ohne große Folgeschäden draußen aufhalten.
Diese Erzählungen, dass Vampire durch Sonnenstrahlen verbrennen würden, waren glücklicherweise reine Fantasie. Wohl aber, dass das UV Licht sie schädigte. Insofern konnte ein längerer Aufenthalt in heißer Sommerhitze, vor allem um die Mittagszeit, durchaus gefährlich werden. Ansonsten heilte sich sein Körper wieder selbst. Allerdings benötigte er dann mehr Blut, und das war das eigentliche Problem. Ein weiteres witziges Detail war, dass Sonnencreme tatsächlich half. Wenn sie auch nicht zur Bräune führte. Diese Fähigkeit hatte er mit seiner Wandlung verloren.
Auch aus diesem Grunde war es wichtig, dass er regelmäßig trank und dadurch wenigstens ein Minimum an Hautfarbe bekam, eine Nebenwirkung jeder Blutmahlzeit. Er blieb zwar trotzdem auffallend blass aber wenigstens sah er dann nicht mehr wie ein Toter aus.
Leider blieb jedoch die Tatsache, dass er nicht mehr am Leben war. Und das machte alles nicht einfacher, vor allem, wenn er an Yvonne dachte.
Andererseits war er weit davon entfernt, mit ihr eine Beziehung zu führen. Sie hielt sich zurück und misstraute ihn.
Italiener sind Machos und wenn sie dich erst einmal ins Bett bekommen haben, verlieren sie das Interesse und machen sich aus dem Staub. So lautete ihr Vorurteil.
Manchmal war sein gutes Gehör ein Fluch und er hatte gehört, wie sie sich mit Barbara, einer Freundin darüber unterhalten hatte. Beide waren in ihr Gespräch vertieft gewesen und hatten Marco, der zugegeben auch etwas abseits gestanden hatte, nicht bemerkt.
Ganz so hart wie er es jetzt in seinen Gedanken zusammengefasst hatte, hatte sie es nicht ausgedrückt. Aber im Prinzip lief es darauf hinaus.
Was wieder seinen Ehrgeiz weckte. Er wusste nicht, warum sie eine so schlechte Meinung von seinen Landsleuten hatte – aber er würde ihr beweisen, dass sie falsch lag. Dass er es wirklich ernst meinte.
Denn er hatte auch erfahren, dass sie ihn trotz ihrer Vorbehalte mochte. Aber sie sah in maximal als guten Freund an; einen Kumpel, mit dem man sich traf und sich vielleicht den ein oder anderen Rat holte.
So wollte er also dafür sorgen, dass er als Freund unersetzlich wurde und mit der Zeit konnte das wachsen und zu Liebe werden.
Idealerweise hätte er sie gerne beim Shoppen begleitet. Er wusste, dass sie das tun würde – aus diesem Grunde hatte er ein Kaffee in der Stadt vorgeschlagen. Das machte ihr keine Umstände, da sie eh dort war, und somit war ihr eine Zusage leichter gefallen.
Gut, dass sie nicht wusste, wie sehr er sie beobachte. Aber wenn sich Marco mal festgebissen hatte war es schwierig, ihm wieder zu entkommen. Davon abgesehen, machte ihn die Frau schier wahnsinnig – es war auch ihr Geruch, der seinen Geist in Verzückung versetzte und ihn gefangen hielt. Es war einer der Sinne, der für Menschen beim Kennenlernen nicht so viel Gewicht hatte, bei Vampiren umso mehr. Wenn sie ihn nur gelassen hätte, wäre er Stunden mit ihr Einkaufen gegangen, hätte galant ihre Einkaufstüten getragen und wäre wie ein treuer Hund an ihrer Seite gestanden, um sie vor allem Unbill des Lebens zu beschützen. Allein ihren Duft zu riechen, wäre Belohnung genug gewesen.
Da das jedoch nicht ging, bestand sein Alternativprogramm nun darin, erst mal zurück nach Hause zu fahren. Der Tag war eh halb angebrochen und so konnte er ebenso gut noch ein wenig Alltagsdinge erledigen, bevor er sich in ein paar Stunden zum vereinbarten Treffen losfuhr.
Früher war es unter den betuchten Vampiren üblich gewesen, sich entsprechendes Personal für solche primitiven Aufgaben zu halten. Dies war jedoch schon seit Jahren stark rückläufig. Und das nicht nur, weil seine Art nicht mehr so wohlhabend war wie zu früheren Zeiten.
Die Menschen waren heute einfach zu neugierig und würden das Verhalten ihrer Arbeitgeber nicht immer nur als seltsame Schrullen abtun. In Zeiten der modernen Welt und des Internets sprach sie so etwas schnell herum – und er hatte keine Lust irgendwo auf Facebook zu lesen, dass er ein Freak sei und Blutkonserven in einem Kühlschrank lagerte und trank. Angestellte, die genug diskret waren, nicht herumschnüffelten und über das seltsame Verhalten nicht nachdachten oder noch besser es akzeptierten und keine Angst bekamen, waren schwierig genug zu finden.
So war es also an ihn, solche profanen Dinge zu tun. Er würde also Wäsche sortieren, Staubsaugen und mit der alten Nachbarin unter seiner Wohnung schwatzen, wenn er nicht leise genug war.
Gertrud war eine ältere, aber durchaus rüstige und ein wenig vornehme Dame. Er schätzte sie auf Anfang 60. Genervt von ihren Verwandten, die es alle „ja nur gut meinten“ und sich überall einmischen wollten, hatte sie mit Hilfe einer Umzugsfirma Tatsachen geschaffen und war gute 500 Kilometer weggezogen. Eine gute Freundin hatte ihr geholfen und ihr die neue Bleibe vermittelt.
Die Mieterin war immer für ein kurzes Gespräch im Flur zu haben. Manchmal unterhielten sie sich auch länger. Getrud war manchmal etwas einsam und suchte Kontakt. Und irgendwie hatte sie ihn ihm einen Narren gefressen, nannte ihn „Jungspund“ und kicherte dabei.
Wenn sie wüsste!
Und Ohren hatte sie – für ihr Alter mehr als erstaunlich. Wenn er ganz normal die Treppe herauflief, ging meist ihre Wohnungstüre auf, sofern sie zu Hause war. Er musste doch tatsächlich seine Fähigkeiten als Vampir anwenden und unhörbar hochschleichen, wenn er von ihr nicht erwischt werden wollte.
Genau dies waren seine Gedanken, als er nach kurzer Fahrzeit an seinem Parkplatz angekommen war und aus dem Auto stieg.
Zielstrebig eilte er zu dem Gebäude und öffnete lautlos die große schwere Eingangstüre. Kein Laut war zu hören, als er sie vorsichtig wieder verschloss und die Treppenstufen hinaufeilte. Seine Schuhe berührten die kalte Steinoberfläche – trotzdem verursachten sie kein Geräusch. Nach wenigen Minuten hatte er sein Ziel erreicht und steckte erleichtert seinen Schlüssel in das Schloss.