Marco entdeckte sie sofort.
Sie hatte an der rechten Seite Platz genommen, direkt am Fenster, und blickte auf ihr Tablet. Sie schien etwas zu lesen.
Er erfasste dies in einem Augenblick, lies sich aber nicht anmerken, sondern blickte scheinbar suchend umher. Seine besonderen Fähigkeiten als Vampir zu verschleiern, war ihm nach all den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen. Und so stellte er sich auch „menschlich“ an, wenn nicht zu erwarten war, dass er beobachtet wurde. Nur unter seinesgleichen erlaubte er sich, diese Maskerade ganz fallenzulassen.
So drehte er noch einige Male den Kopf, bis er „sie endlich fand“ und eilte zu ihr hinüber.
Die Frau war in ihre Lektüre vertieft und blickte erst auf, als er sie ansprach: „Hallo Ivonne.“
„Ah, Marco. Du bist ja pünktlich wie die Feuerwehr. Setz dich doch.“
„Gerne.“ An liebsten hätte er sich dicht neben sie gesetzt, aber das wäre unangebracht gewesen. Also blieb ihm nur der Stuhl gegenüber. „Was liest du denn da Schönes?“
Sie lächelte kurz. „Die örtliche Zeitung. Ich habe sie als digitales Abo. Hast du das mit dem vereitelten Handtaschendiebstahl schon mitbekommen?“
„Ja, natürlich. Die Lokalpresse war ja voll davon.“
Als Untoter unter lauter Sterblichen war es „lebensnotwendig“ zu wissen, was draußen in der Welt vor sich ging. Einfach, um mögliche Gefahren rechtzeitig zu erkennen und sich unauffällig unter ihnen bewegen zu können.
„Sie berichten heute noch einmal groß in der Zeitung darüber. Die Presse rätseln noch immer, wer diese unbekannte Retter war, der den Täter in die Flucht geschlagen hat.“
„So wie ich das mitbekommen habe, weiß die Polizei das durchaus. Nur wollte er nicht, dass seine Identität öffentlich bekannt wird.“
„Aber das macht das ganze doch noch viel spannender, findest du nicht?“, fragte sie begeistert.
„Wieso das denn?“ Er verstand sie nicht. Wenigstens hatte sie das Gerät beiseitegelegt und widmete ihm ihre Aufmerksamkeit.
„Nun ja – er war äußerst mutig und hat einer älteren Frau geholfen. Und will nicht nicht einmal ein Dankeschön dafür, sondern bleibt lieber unerkannt. Ich finde das bewundernswert, diese Bescheidenheit.“
„Vermutlich wollte er einfach nur seine Ruhe vor der Klatschpresse.“, widersprach er mürrisch.
Marco gefiel diese Schwärmerei gar nicht. Ja, er musste feststellen, dass er fast ein wenig eifersüchtig war. Weshalb bewunderte sie einen Fremden, von dem sie gar nichts wusste, statt den Mann wahrzunehmen, der direkt vor ihr saß?
Weiter bezweifelte er, ob dies tatsächlich so eine Heldentat gewesen war. Wie man mittlerweile wusste, war der flüchtige Möchtegerndieb ein stadtbekannter Obdachloser, der viel Pech gehabt hatte und sich mehr recht als schlecht durch das tägliche Leben schlug. Sicher, kein Grund dazu, Leute auszurauben – aber zumindest nachvollziehbar und nicht ganz so schwarz und weiß, wie Ivonne es sich vorstellte, zumal der Tingelbruder auch dafür bekannt war, eben NICHT zu rauchen und zu saufen.
Da sie aber vermutlich dieser Argumentation nicht zugänglich war, er nicht streiten und diesen Retter dadurch wohlmöglich noch bewundernswerter in ihren Augen machen wollte, sagte er nichts weiter.
„Ah Marco, das verstehst du nicht.“ Sie lächelte ein wenig verträumt. „Solche Männer gibt es einfach zu selten heutzutage.“
Er schluckte seine aufkommende Wut – eifersüchtig auf ein Phantom, wie lächerlich war das – hinunter und zwang sich, sie freundlich anzublicken. „Da wir nicht weiter darüber wissen und nur spekulieren können, lass uns doch einfach das Thema wechseln. Hast du das gefunden, was du gesucht hast?“
„Ein paar schicke Teile sind auf jeden Fall dabei. Jetzt fehlt nur noch ein Freund!“
Das fehlte gerade noch, dass sie sich einen anlachte.
„Du sollest dir einen suchen, der deiner würdig ist, der dich auch möchte, ohne dass du dafür irgendein Fummel anziehen musst.“, murrte er.
Er erntete dafür aber nur ein nachsichtiges Lachen.
„Ach Marco, lass mich einfach. Ich glaube es wird Zeit, dass DU dir endlich eine Freundin suchst.“
Musste sie ihn heute so reizen?
„Ich brauche keine zu suchen“, entgegnete er kryptisch. „Erzähl mir lieber, was du die letzten Tage so gemacht hast.“
Zu seiner Erleichterung ging die Frau doch tatsächlich ohne zu Zögern auf seinen Vorschlag ein. Offensichtlich kam es ihr auch gelegen – denn sie hatte die letzten Tage einigen Ärger und Frust gehabt.
Marco verstand nicht, weshalb sich die Menschen so quälten und oft einer Arbeit nachgingen, die ihnen so gar nicht entgegenkam. Schließlich waren sie sterblich und der Zeitraum, in dem sie ohne gesundheitliche Beschwerden auf der Erde weilten, war ja wirklich nicht besonders groß.
Obwohl er das alles also nicht wirklich nachvollziehen konnte, hörte er geduldig zu. Natürlich nicht ganz ohne Hintergedanken – so hoffte er doch, dass sie sich näherkommen würden, wenn er ein offenes Ohr für sie hatte. Denn eines hatte er in all den Jahren gelernt – Geduld.
So war er ruhig und hörte sich ihre Geschichten an – Ärger mit den Kollegen, ihrem Chef, der Geschäftsleitung. Und während er all dies in sich aufnahm wusste er, dass er ihr helfen musste. Wenn er auch noch nicht wusste, wie. Aber dieses Mobbing, was sie gerade schilderte, konnte er auf keinen Fall weiter zulassen.
Glücklicherweise waren es aber auch schöne Dinge, die sie erzählen konnte. Was Marco dann doch auch erleichterte.
Er begnügte sich jedoch damit, hauptsächlich sie reden zu lassen und gelegentlich einige Bemerkungen zu machen.
„Ich danke dir, Marco.“, sagte sie schließlich nach dem zweiten Kaffee. „Du bist ein guter Zuhörer.“
„Man tut was man kann.“
„Es tut gut, sich das alles mal von der Seele reden zu können.“
„Ich bitte dich. Dafür sind Freunde doch da.“, beruhigte er.
Gleichzeitig kam ihm ein bekannter Gedanke in den Sinn: wie viel schöner es sei, nicht ein Freund, sondern IHR Freund zu sein.
Aber lm Augenblick war das nicht von Belang. Denn er würde sich gleich von ihr verabschieden müssen, um pünktlich bei seinem Vater anzukommen.
Und das ärgerte ihn gewaltig.