Ein heller Mond erleuchtete die grotesk daliegenden Docks von London. Katzen jaulten, irgendwo kläffte ein Hund und es stank nach Jauche und altem, verdorbenem Fisch. Kein sehr gemütlicher Ort für einen nächtlichen Spaziergang; nicht für einen Mann, noch weniger für eine Frau.
Doch das kümmerte den gutgekleideten Gentleman, der am Dock entlang wanderte, wenig.
Irgendwo wurde eine knarrende Tür geöffnet. Gelächter, Stimmengewirr und das unverkennbare Klaviergeklimper einer miesen Hafenspelunke war zu hören. Raue Männerstimmen, die sich mit schwerem, ordinärem Akzent zankten, wehten zu dem jungen Mann herüber. Zweifellos stammten diese Burschen aus Amerika. So salopp sprach kein echter Engländer!
Die Musik verstummte, doch die Seeleute waren noch immer so mit sich und ihrem Alkoholpegel beschäftigt, dass sie den Gentleman nicht bemerkten, der sie missbilligend passierte.
Entspannt seinen eleganten Spazierstock herumschwingend bog dieser in eine dunkle Gasse ein, denn er wusste, dass er auf diesem Wege zügig die belebte Hauptstraße erreichen würde. Von dort aus beabsichtigte er, mit einer Droschke zurück nach Belgravia ins Haus seines Gastgebers zu fahren.
Doch schon nach wenigen Schritten hörte er, dass nicht nur seine Schritte ein leises Echo verursachten, was nur bedeuten konnte, dass ihm jemand folgte.
Gleichmütig verzog er die Lippen. Er hatte viel früher damit gerechnet, immerhin war er gekleidet wie ein Gentleman, hatte sichtbar eine goldene Taschenuhr in seinem Besitz und sein Stock besaß einen kostbaren, versilberten Knauf.
Das Blut des Mannes geriet in Wallung vor Aufregung, als der schwere süße Geruch von Rum, vermischt mit dem Gestank eines ungewaschenen Körpers und eines ungepflegten Mundes ihn erreichte.
Seeleute waren widerlich! Waren es immer gewesen, würden es immer bleiben.
»Na Bürschchen, biste hier nich‘ ‘n bisschen falsch?«, lallte der Verfolger und packte den Gentleman an der Schulter.
»Sir, ich würde es außerordentlich begrüßen, wenn Sie mich meines Weges ziehen ließen. Ich möchte keine Schwierigkeiten.«
»Haha, oh, wie fein er redet. Schwierigkeiten, hä? Hätt’ste dir eher überlegen soll’n.« Der Matrose drehte den jungen Mann zu sich herum und schnalzte mit der Zunge. »Feines Kerlchen. Gesicht wie eine Lady. Wie alt bist’n du? Sechzehn?«
»Mit Verlaub, Sir, ich bin sechsundzwanzig und ich würde Sie wirklich bitten, die Hände von mir zu nehmen.«
Doch der Blick des Seemannes verriet eher, dass er etwas anderes vorhatte. Gehenlassen würde der ihn nicht so schnell.
Der Puls des Gentleman raste. Furcht verspürte er keine, eher Erregung, Vorfreude auf das Kommende. Den unschuldigen Burschen, das Opfer zu spielen, versetzte ihn in Euphorie. Er ließ sich auf das Spiel ein, mimte den ängstlichen Jüngling und wusste, dass der Seemann nach dieser Nacht niemals wieder jemanden belästigen würde!
Der Matrose musste zuvor lange auf See gewesen sein. Seine blutunterlaufenen, vom Gelage glasigen Augen glitzerten vor Gier und aus seinem mit schmutzigen Bartstoppeln umrahmten Mund, der halb geöffnet war und eine Reihe gelblicher Zähne offenbarte, tropfte schon beinahe der Speichel. Ihm fehlte ein Schneidezahn und sein Atem roch so übel, als hätte er seine Mundhygiene seit Jahren vernachlässigt.
Dass er nun in einer schmalen Gasse einen jungen Mann angriff, anstatt sich für einen Penny eine Prostituierte zu kaufen, sprach entweder für extremen Geiz, widernatürliche Präferenzen oder eben einfach Habgier. Vermutlich wollte er sein Opfer anschließend auch noch ausrauben.
»Hände von dir nehmen, hä? Nä, nä, ich weiß was Besseres, wird dir gefallen«, lallte er und lachte widerlich. Grob packte er mit seinen starken, von harter Arbeit an Deck rau gewordenen Fingern die Handgelenke des Gentleman und verdrehte dessen Unterarme so sehr, dass der junge Mann vor Schmerz aufstöhnte und den schweren Gehstock fallen ließ.
»Bitte, Sir«, stammelte er, als der Matrose ihn hart gegen eine kalte Mauer stieß. »Ich habe Geld, ich ...«
»Oh ja, das werde ich auch nehmen. Diesmal werde ich für meine Dienste auch noch bezahlt.«
Wieder lachte er schmierig und der junge Mann konnte sehen, wie deutlich sich die speckige und total verdreckte Hose des Seemannes bereits nach vorn hin ausbeulte.
»Sir, bitte ...«
Der Matrose verlor aufgrund des erneuten Flehens die Geduld und schlug dem Gentleman hart ins Gesicht, worauf dieser aufkeuchte. Als er den Kopf wieder hob, erblickte er ein dreckiges, aber ansonsten gutes und scharfes Messer, wie es jeder Seemann besaß.
»Halt‘ jetzt dein Maul oder ich mach‘ aus dir ‘ne Rattenhöhle!«, zischte er widerlich nahe am Gesicht des anderen. Die Klinge an die Kehle des Gentleman pressend drehte er diesen grob zur Mauer.
Das Blutrauschen in den Ohren des jungen Mannes wurde immer lauter, die Hitze in ihm immer stärker, während er so tat, als wäre er vor Angst wie erstarrt. Der Moment war fast da, fast ...
Er spürte, wie sich seine Zähne veränderten.
Der Seemann, der keinen Schimmer von der vernünftigen Kleidung eines Gentleman hatte, nestelte ungeduldig an dessen Hose herum. Sein ungezügeltes Verlangen war für den jungen Mann an seiner Hüfte deutlich spürbar.
»Verdammt noch eins!«, fauchte der Matrose und wollte gerade den Stoff einfach herunter reißen, als sein vermeintliches Opfer zu lachen begann. Unbekümmert wie ein Junge, der sich über einen Witz ausschüttete.
»Bist jetz‘ verrückt geworden, hä? Pah, diese feinen Pinkel. Nich‘ für ‘nen Schilling Nerven, die Bande.« Doch das Gelächter schien ihn nervös zu machen.
Warum lachte der Kerl, als hätte er kein verdammtes Messer an seinem dürren Hals? Misstrauisch blickte der Seemann sich um.
»Hör‘ jetzt auf damit oder ich stopf‘ dir dein Maul!«, zischte er und ritzte leicht die Haut des anderen.
Das Gelächter verstummte, doch die plötzliche Stille war viel unheimlicher. Die Lust des Seemannes und die Absicht, diese an dem vornehmen Knaben zu befriedigen, waren ihm vergangen. Hätte er sich irgendwo eine Hure besorgt, hätte das weniger Aufwand gemacht!
»So, Sir ...«, fing der Gentleman zu sprechen an. Seine Stimme war wie Eis. »Du magst es also nachts auf der Straße? Warum einen Penny zahlen, wenn man es für lau haben kann, hm? Und so ein bisschen Zwang macht das Ganze ja gleich viel aufregender, nicht?« Die kalte Stimme, so anders als das vorherige Flehen, jagte einen Schauer über die Haut des Seemannes.
»Ich … ich schlitz‘ dir den Hals auf, du Lackaffe«, grollte er, doch er hörte selbst, wie unsicher das klang. Doch warum eigentlich? Er war mindestens doppelt so schwer wie dieser Schmächtling und er hatte das Messer. Der pompöse Gehstock des Burschen lag mehrere Meter entfernt.
»Ah ...«, machte der junge Mann nur und in einer schnellen Drehung hatte er sich aus der Umklammerung befreit. Geschockt blickte der hässliche Seemann in das jugendliche Gesicht vor sich und sah seine Klinge, welche er gerade noch in der Hand gehalten hatte, zwischen den schlanken Fingern des Gentleman. Doch der Matrose erholte sich rasch von der Überraschung.
Fein, dann war der Kerl eben geschickt, aber so ein halbes Kind konnte doch niemals mit einer richtigen Waffe umgehen, geschweige denn kämpfen. Er hingegen hatte das Kämpfen und Raufen an allen großen Häfen der Welt gelernt!
Das kalte Grausen vertrieb das siegessichere Gefühl allerdings schneller wieder, als der Seemann gedacht hätte.
Der Gentleman lächelte nämlich auf schaurige Weise und drehte das Messer in den Fingern.
»Du willst mir also den Hals aufschlitzen, aha. So etwa?« Die Augen nicht vom Gesicht des Matrosen abwendend zog der junge Mann seinen vornehmen Jabot nach unten, setzte die Klinge an seiner zarten Halshaut an und machte einen Schnitt von einem zum anderen Ohr.
Dunkelrot, im Licht des Mondes beinahe schwarz, quoll der Lebenssaft hervor, doch der Gentleman stand nur da und lächelte. Er hob das Messer an die Lippen und leckte das Blut ab.
Der Seemann, im Grauen erstarrt, wusste nicht, auf was er als erstes achten sollte: die diamanthellen und rasiermesserscharf aussehenden Fangzähne, die durch das diabolische Grinsen entblößt wurden oder die verheerende Halswunde, die jeden anderen bereits getötet hätte und sich nun vor seinen Augen schloss, als würden unsichtbare Hände diese zunähen.
Fast gelangweilt richtete der Gentleman seinen schwarzen, vom Blut glänzenden Schalkragen wieder und blickte sein Gegenüber an, als hätte er diesem nur gezeigt, wie man eine Zigarette ansteckte.
»Nun, so wolltest du das machen? Nicht sehr effektiv. Wollen wir sehen, ob das bei dir auch funktioniert«, sagte der junge Mann mit leiser, unaufgeregter Stimme. Doch seine Augen leuchteten in der Dunkelheit und dem silbernen Licht des Mondes feurig rot und hell wie winzige Laternen.
Sich halb an seinem Schrei verschluckend machte der Seemann kehrt und rannte zu den Docks zurück – das war zumindest der Plan.
Milde lächelnd ließ der Gentleman ihm etwas Vorsprung, wie ein Raubtier seine Beute laufen ließ, bevor es zuschnappte. Als er schließlich vorschnellte, prallte er gegen den Matrosen und schleuderte ihn mit Getöse in die stinkenden, an der Wand der Gasse stehenden Mülltonnen und Unratkisten.
Der schwere Geruch von Blut umgab den jungen Mann wie der Tod.
Der Seemann, der durch Keilereien aller Art bereits einiges gewohnt war, hatte sich eine unschöne Platzwunde zugezogen, ächzte, weil er hart gegen die Wand gekracht war und wollte sich gerade mühsam wieder aufrappeln, als der elegante Stiefel des Gentleman ihn wieder zu Boden trat. Dabei ertönte ein lautes, widerliches Geräusch und der Mann brüllte heiser auf. Die Schulter war gebrochen!
»Verdammt, warum tust du das?!«, spuckte der am Boden Liegende. Der junge Mann lächelte ihn milde an, wie man ein ungehorsames Kind ansehen würde.
»Weißt du denn nicht, dass in England auf Vergewaltigung – auch versuchte – eine Zuchthausstrafe und die Zwangskastration steht?«
Kreidebleich und mit blanker Angst in den weit aufgerissenen Augen versuchte der Seemann, davonzukriechen. Das konnte dieser Bursche doch nicht ernst meinen?!
Ein weiteres Knacken und sein eigener gurgelnder Schrei ließen den Matrosen innehalten. Schmerz zerriss ihn fast und Todesangst erfüllte ihn. Dieses Würstchen hatte ihm gerade das Bein gebrochen, als wäre es ein Streichholz!
»Aber ich habe doch gar nichts getan?!«, jaulte der Seemann wimmernd. Der Gentleman lächelte noch immer auf diese sanfte, aufreizende Art und Weise.
»Doch du wolltest!«, sagte er leise. »Ich habe deutlich gespürt, was du wolltest. Wäre es nicht ich gewesen, vielleicht ein anderer Bursche oder sogar ein Kind? Ein niedlicher kleiner Junge? Du siehst aus wie einer, der das mag, hm? Die können sich nicht wehren, richtig?« Der junge Mann drückte mit dem Stiefel auf das gebrochene Bein und der Verletzte heulte vor Schmerz.
»Na ja, es war dein Pech, dass du an mich geraten bist, mein Freund. Ich kann mich zur Wehr setzen, das tue ich gern. Und ich werde dir zeigen, wie es ist, wenn einem etwas mit Gewalt genommen wird. Abschaum wie du verdient es nicht, auch nur die Möglichkeit zu haben, anderen nahezukommen!«
Die feurig glühenden Augen, die die sanfte, aber eisige Stimme Lügen straften und die Wut des Gentleman zeigten, lähmten den Seemann in seiner Angst.
Dessen Blick wechselte von der Glut zu den grotesk im Mondlicht schimmernden und unnatürlich langen Eckzähnen des Mannes. Er sah verheerend aus, schön, mächtig, gefährlich. Nicht wie ein Gentleman aus Londons Oberschicht, nicht wie einer der rauen Burschen, mit denen der Matrose sonst seine Kämpfe ausfocht. Der Mann vor ihm sah aus wie ein Gott! Ein rachsüchtiger, bösartiger Gott.
»Wer bist du?«, flüsterte der Geschlagene. Furcht vor dem Kommenden und die jämmerlichen Schmerzen seiner gebrochenen Knochen hatten ihm fast die Stimme geraubt. Er würde sterben, hier und jetzt! Der Blick des Anderen ließ daran keinen Zweifel.
»Der Teufel«, entgegnete der Gentleman ruhig, bevor er sich den verzweifelt zappelnden und wimmernden Mann griff, der jammerte und bettelte. Ungerührt mit dem Kopf schüttelnd stieß er mit dem dreckigen Messer zu und die Schreie des Seemannes vermischten sich mit dem Jaulen der Londoner Straßenkatzen.
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»Gütiger Himmel, diese Stadt wird immer bösartiger«, stöhnte Sir Edward Whitmore, der vornehme Herr, dessen Gastfreundschaft der Gentleman zur Zeit genoss, am nächsten Tag beim Frühstück. Angewidert ließ er die Morgenausgabe des Telegraph fallen und blickte unentschlossen in seine Teetasse.
Der junge Mann schwieg gleichmütig, während die Gattin des Sirs ihm die Hand auf den Arm legte.
»Was sagen die Nachrichten, mein Lieber?«
»Ein schreckliches Verbrechen, ganz und gar abscheulich. Heute im Morgengrauen wurde bei den Docks ein furchtbar zugerichteter Mann aufgefunden.«
Sir Edward zögerte und warf einen Blick auf seine Gemahlin. Er zweifelte, dass er ihr die Einzelheiten antun konnte.
»Ja, und weiter?«, drängte diese ihn jedoch, ganz in fraulicher Neugier.
»Nun ... er lebt, wenn man das so nennen kann. Offenbar hat ihn sein Verstand verlassen und sein Haar soll vor Grauen schlohweiß geworden sein. Er brabbelt unaufhörlich von Monstern, spitzen weißen Zähnen und dass ihm der Teufel begegnet wäre. Laut Polizeibericht und der Zeitung war er über und über mit Blut besudelt, hat etliche Knochenbrüche und ... nun also ...« Er stockte wieder und überlegte, wie er dieses delikate Detail anbringen sollte.
»Edward! So rede schon!«, rief seine junge Gemahlin aufgeregt.
»Er ... nun ja ... sein Angreifer hat ihn ... also... er wurde entmannt.«
»Entmannt?« Die Wangen der jungen Frau färbten sich leicht.
»Kastriert wie ein Pferd!«, ergänzte nun der junge Gentleman trocken. Während seine Gastgeber ihr Mahl wegen des Gesprächs unterbrochen hatten, ließ der junge Mann sich Toast mit Marmelade schmecken.
»Grundgütiger!«, brach es aus der jungen Lady hervor und ihre Wangen wurden endgültig rot. »Aber wer tut denn so etwas?«
»Vielleicht jemand, der sich und andere vor einem Triebtäter schützt«, erwiderte der Gentleman und köpfte fachmännisch sein Frühstücksei.
»Es ist wahr, Liebes. Der Mann gestand, dass er tatsächlich etwas Derartiges bei seinem Angreifer versuchte hatte, bevor ...«
Die Lady schnitt sich energisch ein Brötchen auf und nickte schließlich. »Dann war es vermutlich richtig, was mit ihm geschehen ist. Solch schändliche Menschen verdienen es nicht anders!«
Das Thema wurde abgehakt und das Frühstück mit angenehmerem Geplauder fortgesetzt.
Die Eheleute Whitmore erfuhren nie, dass sie mit dem nächtlichen Angreifer am Tisch gesessen hatten.
Dionysos war sehr zufrieden.